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Das Werden und Wachsen des Alten Testaments

Datierung der Erzählungen

Die Bücher des Alten Testaments bilden einen Erzählbogen ab, der in der Genesis zunächst von der Schöpfung über die Urgeschichte der Menschheit bis zu den Erzeltern Israels reicht. Vom Buch Exodus an wird dann der Aufenthalt der Israeliten in Ägypten, ihre Flucht und ihre lange Wanderung bis zur Ansiedlung im Land östlich (so in Numeri, wiederholt im Dtn) und westlich des Jordan (im Buch Josua) berichtet.

Erst jetzt werden annähernde Datierungen möglich; der Exodus kann um 1200 stattgefunden haben, danach entstanden schrittweise israelitische Siedlungen in Kanaan (vgl. das Themenkapitel zum Exodus).

In den Büchern Richter bis Könige lässt sich dann die Geschichte der Israeliten von den Anfängen eines Stämmebundes über die Königszeit bis zum Untergang der Staaten Israel und Juda lesen. Eine zweite, an vielen Stellen abweichende Version dieser Ereignisse wird im Buch der Chronik mitgeteilt; die davon beeinflussten Bücher Esra und Nehmia ziehen die Linie dann weiter in die Zeit nach der Rückkehr aus dem Exil. Schon daran wird deutlich, dass die Texte aus verschiedenen Epochen stammen müssen und dass in ihnen unterschiedliche Versionen der gleichen Ereignisse mitgeteilt werden.

In den beiden anderen großen Abschnitten der hebräischen Bibel finden sich Bücher, die in diesen von den Geschichtsbüchern beschriebenen zeitlichen Rahmen einzuordnen sind: Die prophetischen Schriften sollen nach ihren eigenen Datierungsangaben in der Zeit vom 8. (Amos, Hos, Jes, Mi) bis zum 5. Jahrhundert (Sach) entstanden sein. In den Psalmen und Weisheitsschriften finden sich nur gelegentlich Hinweise auf Entstehungssituationen (vgl. Ps 137) oder Verfassergruppen wie Asaf oder Korach; die meisten Texte sind nicht unmittelbar datierbar.

Problemstellung

Für die Forschung stellt sich nun die Frage, wie man sich das Zusammenwachsen dieser disparaten Stoffe erklären kann. Welche theologischen oder politischen Interessen können hinter den Sammlungen stehen, welche Gruppen im damaligen Israel können dafür verantwortlich gewesen sein? Erschwert wird diese Frage dadurch, dass in den Texten selbst an sehr vielen Stellen Nähte und Brüche zu erkennen sind; die einzelnen Schriften sind demnach in Stufen gewachsen. Manchmal wird auch auf andere Bücher verwiesen, die uns heute nicht mehr erhalten sind; vgl. das „Buch des Redlichen“ in Jos 10,13. Und schließlich belegen antike Zeugnisse wie die ersten Übersetzungen oder die Textfunde von Qumran, dass es abweichende Textformen und parallele Ausgaben gegeben hat. Man muss also mit einem Ineinandergreifen verschiedener Entwicklungen über einen langen Zeitraum hinweg rechnen.

Entstehungsbedingungen

Einen ersten Zugang zur Problematik bietet die Frage nach den damaligen Entstehensbedingungen von Schriftstücken und Literatur. Aus dem Umfeld des AT sind umfangreiche Sammlungen von mythischen Epen bekannt, so vor allem aus dem nordsyrischen Ugarit, das um 1200 v. Chr. von den Seevölkern zerstört wurde. Hier wurde auch die Alphabetschrift mit dem Konsonantenbestand angewendet, den später das Hebräische verwendete. Etwas älter sind Keilschrifttafeln aus Jerusalem, die (nach 1400 v. Chr.) an den ägyptischen Pharao Amenophis III. gesandt wurden und um Unterstützung baten. Der damalige König Jerusalems konnte sich demnach einen des Akkadischen kundigen Schreiber leisten. Daher ist anzunehmen, dass Grundkenntnisse des kulturellen Wissens der damaligen Zeit in Israel gegeben waren. Sie werden vor allem am Hof und am Tempel tradiert worden sein. Über die religiösen Vorstellungen im Volk kann man allerdings nur Vermutungen anstellen.

Quellen in Israel

Aus Israel selbst sind nur wenige Texte (Primärquellen) bekannt, die vor das erste Jahrtausend zu datieren wären. Das hängt sicher auch mit den Schreibmaterialien zusammen, denn Papyrus und Leder verrotteten in dem zeitweise feuchten Klima der Levante schneller als im trockenen Wüstenklima Ägyptens. Daher sind vor allem beschriebene Steine oder Scherben gefunden worden. Diese können aber naturgemäß keine langen Textkompositionen enthalten. Wichtige Beispiele sind ein in Gezer gefundener Kalkstein, der ein Kalendarium enthält (10. Jh.) oder eine Bauinschrift aus Jerusalem, die an den Durchbruch des Siloah-Tunnels (8. Jh., vgl. 2Chr 32) erinnert. Der einzige auch aus der Bibel bekannte Text, den man bei Ausgrabungen gefunden hat, ist der aaronitischen Segen aus Num 6,24-26, der auf kleine Silberstreifen geritzt ist.

Wandinschriften

Von besonderem Interesse ist daher eine deutlich umfangreichere Wandinschrift, die in Deir Alla, einer Siedlung im Ostjordanland im heutigen Jordanien, gefunden wurde. Sie stammt aus dem 9. Jh. und enthält eine ausführliche Komposition prophetischen Inhalts, in deren Mittelpunkt der Seher Bileam steht (vgl. oben zu Num 22-24). Ebenfalls aus Jordanien stammt eine Stele mit dem Kriegsbericht des Königs Mescha von Moab (9. Jh.). Zu nennen ist auch eine in Dan im Norden Israels gefundene Stele, auf der erstmals außerbiblisch das „Haus Davids“ bezeugt ist. Man kann annehmen, dass auch Teile der israelitischen Überlieferungen anfangs als Bauinschriften oder Stelen tradiert wurden.

Ikongraphie

Die neuere Forschung hat zudem die Ikonographie als eine wichtige Informationsquelle erkannt: Zum Bestätigen von Käufen etc. wurden sogenannte Stempelsiegel verwendet, die meist mit mythologischen Szenen verziert waren und den Namen des Stempelinhabers aufwiesen. Daran lässt sich erkennen, dass im vorexilischen Israel eine große Bandbreite mythologisch-religiöser Motive bekannt gewesen ist, die vor allem aus dem syrischen Raum, aber auch aus Ägypten stammten.

Man kann demnach davon ausgehen, dass es schon in der frühen Königszeit einen Fundus an religiösen und historischen Überlieferungen gegeben hat. Diese wurden nach und nach verschriftet und bildeten den Grundstock der späteren biblischen Texte. Solche Überlieferungen können z. B. Gründungslegenden von Heiligtümern, Erinnerungen an Kriegszüge und Kämpfe und Sagen über die Richter und Könige gewesen sein.

Texte

Neben Verwaltungstexten und diplomatischer Korrespondenz gehören zu den ersten Schriften auch die Annalen der Könige, Rechtstexte und Lieder oder Rituale, die im Kultus verwendet wurden. Daraus haben sich dann umfangreichere Erzählkreise und Sammlungen von Psalmen und Gesetzen entwickelt. Wahrscheinlich wurden diese Schriften am ehesten im Umkreis des Tempels und des Königshofes tradiert, da es hier Schreiber gab und die Texte für die Ausbildung verwendet werden konnten.

Eine Besonderheit Israels war dann ab dem 8. Jh. auch die Zusammenstellung prophetischer Aussprüche unter dem Namen eines konkreten Propheten. Dies geschah wohl durch seine Anhänger, um die prophetische Botschaft zu bewahren, vgl. Jes 8,16. An diesen Schriften lässt sich auch gut erkennen, wie man sich das weitere Wachstum der Literatur vorzustellen hat: So weissagte Hosea ursprünglich nur gegen das Nordreich. Nach dessen Eroberung kamen Hoseas Sprüche in den Süden nach Jerusalem. Dort wurden sie zum einen in andere Überlieferungen aufgenommen, z.B. in die des Propheten Jeremia (vgl. Hos 4,12f. mit Jer 2,20). Zum anderen wurden die Hosea-Texte selbst erweitert und aktualisiert, damit man sie nun auch auf Juda beziehen konnte, vgl. etwa Hos 5,5, wo der Text „mit ihnen strauchelt auch Juda“ deutlich nachklappt.

Wachsen der Überlieferung

Die Überlieferungen sind also nach und nach gewachsen, immer in Abhängigkeit von und als Reaktion auf bestimmte historische oder religiöse Entwicklungen. Einschneidende Ereignisse waren dabei vor allem der Untergang des Nordreiches und die Zerstörung des Tempels in Jerusalem. Diese Katastrophen mußten gedeutet und verarbeitet werden; dies schlug sich in der Literatur nieder und führte zur Erweiterung und Umgestaltung vorhandener Texte. Besonders deutlich lässt sich das an den deuteronomistischen Deutetexten in den Büchern Josua bis Könige erkennen, etwa bei Josuas Ermahnung in Jos 23 oder der Beurteilung des Nordreiches Israel nach seinem Untergang in 2Kön 17.

Vor allem für die Zeit des Exils und die Epoche danach ist mit einer intensiven Arbeit an den bisherigen Überlieferungen zu rechnen. So wachsen dem Kern des Jesajabuches weitere Schichten hinzu („Deuterojesaja“), die auf die theologischen Anfragen reagieren, die aus der Zerstörung des Tempels resultieren. Auch die priesterliche Schicht des Pentateuch entsteht nun und verankert wichtige Identitätsmerkmale wie den Sabbat und die Beschneidung in den alten Überlieferungen. Zudem ist nun zu regeln, wie man in der Diaspora fern des Tempels gottgefällig leben kann, darauf reagiert etwa die Josephsnovelle, die den Erzelterngeschichten der Genesis angefügt wird. Die ersten Umrisse des späteren Kanons der hebräischen Bibel entstehen in dieser Zeit.

In der gegenwärtigen Forschung ist nicht strittig, dass die biblischen Texte in dieser Weise gewachsen sind. Strittig ist aber die Frage, welche Textelemente wann entstanden sind oder zugefügt wurden. Keine Einigkeit besteht außerdem darüber, von welcher Epoche an mit schriftlichen Überlieferungen gerechnet werden kann; manche Forscher rechnen mit der frühen Königszeit, andere erst mit dem 8. Jh. Aus der Frühzeit Israels gibt es wahrscheinlich keine Texte mehr. Schließlich ist in der Exegese strittig, wie genau sich spätere Elemente in den Texten von älteren abheben und dann noch datieren lassen. Das führt zu einer erheblichen Uneinheitlichkeit der aktuellen Forschung, die gerade Studierenden die Orientierung erschwert.

Literatur

K. Smelik, Historische Dokumente aus dem alten Israel, 1997.

K. Schmid, Literaturgeschichte des Alten Testaments, 2008.

D. M. Carr, Einführung in das Alte Testament, 2013.

VG Wort Zählmarke
die-Bibel.dev.4.18.14
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