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(erstellt: September 2010)

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Der Begriff Urmeer (hebräisch תְּהוֹם təhôm und יָם jām) gehört zu einem mythischen Konzept (→ Weltbild) und ist von dem zunächst geographisch gemeinten Begriff → Meer (hebräisch יָם jām) zu unterscheiden. Das Meer trennt Völker von anderen (z.B. bis in die hellenistische Zeit Griechenland von Ägypten) oder verknüpft sie (z.B. die Seehandel treibenden phönizischen Völker und Küstenstädte mit ihren Handelspartnern). Demgegenüber ist das Urmeer eine die Weltsicht aller vorderorientalischen Kulturen prägende vorweltliche, mitunter göttliche Größe, die anhaltend mit der Weltordnung in ein Verhältnis gesetzt bleibt.

1. Das Urmeer im Alten Orient und im antiken Griechenland

1.1. Ägypten

Das ägyptische Urmeer wird durch den Gott Nun (nwn) verkörpert (vgl. Leitz / Budde 2002, III, 543-550; 2003, 278-280). Nun, der den Titel „Vater der Götter“ trägt (Sargtexte: Coffin Texts IV,1888/9c = Spruch 335), gehört zu den kosmischen Göttern, nämlich zu denen, die die irdischen bzw. unterirdischen Weltteile verkörpern wie Geb, Erde, der Erdgott Aker und andere chthonische Urkräfte. Zusammen mit Atum(-Re) gilt er mitunter als Schöpfergott (Otto, 653; Grieshammer, 534). Als träge Masse steht er der Weltentstehung (Kosmogenese) voran, in der die belebte Welt in Form von Luft und Licht treibt (→ Hermopolis, § 2; vgl. Allen, 4), bevor es zum „Ersten Mal“ (sp tpy), zu der Weltschöpfung, durch die Götter → Amun („Großer Gackerer“; pLeiden I 350, 90. Lied) oder Atum-Re (Pyramidentext 527 § 1248; Coffin Texts 80 II 33f. u.ö.) kommt (Bauks 1997, 162-178). Der Gott Nun symbolisiert das Leben spendende Wasser, das den → Nil, das Grundwasser und den Regen umfasst. Aus dem Nun gehen alltäglich die Sonne wie auch die Nilüberschwemmung hervor (→ Jenseitsvorstellungen Ägyptens) und auch die kultische Reinigung des Königs ist aus dem Nun gedacht.

Zusammen mit seinem weiblichen Pendant Naunet (Leitz 2002, III, 550f.) bildet Nun eines der Urgötterpaare der Achtheit von → Hermopolis, froschköpfig an erster Stelle sitzend. Andernorts ist er menschengestaltig oder in der Gestalt eines Pavians, Stieres oder einer Schlange dargestellt (Leitz 2002, III, 544). Der Gott Nun war in Ägypten weder Herr eines bestimmten Gaus noch war ihm ein eigener Tempelkult zugedacht. Doch wird er z.B. in der memphitischen Theologie mit → Ptah verbunden, in der thebanischen mit → Amun.

Urmeer 2
Das Urmeer ist in anderen Darstellungen als → Apophis-Schlange dargestellt, denn sie verkörpert während der Nachtfahrt des Sonnengottes die gefährlichen Tiefen des Universums (→ Jenseitsvorstellungen in Ägypten).

1.2. Mesopotamien

In Mesopotamien heißt das Urmeer → Apsu (apsû; sum. abzu; vgl. Horowitz, 306-9) und bezeichnet die oberirdischen und unterirdischen Gewässer, d.h. die Flüsse oder Ströme wie auch die Tiefen der Erde bis hin zu dem Ort, an dem der Gott der Weisheit Ea (Enki) wohnt (→ Gilgamesch-Epos Taf. XI, Z. 42; → Enuma Elisch Taf. I,71; Texte aus Mesopotamien). Zugleich umfasst der Begriff aber auch die himmlischen Gewässer, die z.B. den Regen erzeugen. Apsu wurde als ein Himmel und Erde umschliessendes Wasser gedacht (s. Abb. 4; → Weltbild). Er symbolisiert das Süßwasser, während in jüngeren Texten tâmtu, tâmatu bzw. tiāmtu (→ Tiamat) als seine Gattin (Enuma Elisch Taf. I, 5; II, 111) das salzwasserhaltige Meer personifiziert, aus dem jedoch wichtige Flüsse wie Euphrat und Tigris entspringen (Enuma Elisch V, 55). Schon die sumerische Eridu-Tradition, gebunden an den Kultsitz vom Gott des Meeres und der Weisheit Ea / Enki, vermittelt die bis in das 3. Jahrtausend zurückzuverfolgende Vorstellung, dass das Urmeer der Weltentstehung vorausgeht (Dietrich, 169-178; Bauks 1997, 234-246). So bezeugt ein zweisprachiges Tempelweihritual für den Tempel Ezida in Borsippa aus dem 6. Jh. v. Chr. (Cuneiform Texts CT XIII, 35-38) folgende Vorstellung:

8 Apsu war nicht gemacht, Eridu nicht erschaffen, 9 ein reines Haus, das Haus der Götter, seine Wohnung war nicht gemacht; 10 alle Länder waren (noch) Meer, 11 die Quelle inmitten des Meeres war nur eine Rinne …“ (TUAT III/4, 608).

Nach dieser spätbabylonischen Überlieferung aus Sippar entwickelt sich die Schöpfung also aus dem Meer, in dem das Leben spendende Süßwasser als Rinnsal präexistent vorhanden ist. Die traditionelle Rolle des Schöpfergottes Ea / Enki nimmt in diesem Text sein Sohn → Marduk ein (siehe auch → Enuma Elisch; vgl. Dietrich, 171f.; Bauks 1997, 255-258). Nach anderen Texten erschafft Ea / Enki die Welt aus dem Lehm des Apsu (z.B. „Kosmologie des kalû-Priesters“ [Iraq-Museums Bagdad 11087/11]; vgl. TUAT III/4, 604). Oder das vom Apsu überspülte trockene Land wird zum fruchtbaren Sumpfland (Lugal-e VIII, 334-341). In der sumerischen Tradition begegnet Nammu als die Apsu zugehörige Göttin und Mutter des Ea / Enki. Ein spätbabylonischer Text wie der Dunnu- bzw. Charabmythos (Cuneiform Texts 46,43; vgl. TUAT III/4, 610f.) überliefert einen Sukzessionsmythos, in dem der göttliche Hirte Gaju seine Mutter, das Meer, tötet, um die Herrschaft zu erben. Schon der babylonische Weltschöpfungsepos Enuma Elisch handelte von der gewaltsamen Trennung des Süßwasserozeans Apsu vom Salzwasserozean Tiamat durch den Ea-Sohn Marduk. Erst nachdem die chaotischen Kräfte (→ Chaos) dieser beiden Urgötter bezwungen sind, ist die Voraussetzung für weiteres Schöpfungshandeln gegeben.

Zum Umfeld Tiamats und der Chaoswasser gehört auch das Mischwesen Muschchuschu, das auf Darstellungen begegnet sowie in Enuma Elisch II,27 (dazu Wiggermann, 145-155.168f.; → Chaos 3.1.1.).

Als Sieger über die Chaosmächte wird Marduk – nach einem in der Glyptik von Eschnunna seit altakkadischer Zeit belegten Motiv (Collon, Abb. 785f., 895) – in spätbabylonischer Zeit auf einem drachenartigen Wesen stehend dargestellt. Die reptilhafte Darstellung des Wesens, mit dem im Laufe der Geschichte die unterschiedlichsten Stadt- oder Reichsgötter verbunden waren, deutet ursprünglich auf einen Unterweltkontext hin (Green, 1841f.; Wiggermann, 152). Im vorliegenden Fall schwingt in Anlehnung an das Weltschöpfungsepos der Gedanke der „behobenen Krise“ mit, in deren Folge Marduks Widersacher zu seinem Postamenttier degradiert wurde.

Urmeer 4

Die konstituierende Bedeutung des Urmeeres für das Weltbild wird ersichtlich aus Zeichnung und Beitext einer spätbabylonischen Weltkarte, auf der die Erde, als flache Scheibe gedacht, von dem kreisrund verlaufenden nâr marratum, dem „Bitterstrom“, umflossen ist.

Das genaue Verhältnis zwischen den Tiefen des Apsu, seinen Pforten und den dem irdischen Bereich zugehörigen Wassern ist nicht eindeutig (Horowitz, 344-347). So dient die Bezeichnung apsû z.B. im Schamasch Hymnus 35-38 für beide Bereiche (BWL 128, vgl. Horowitz, 340). Gilgamesch taucht in die Tiefen des Apsu, um die Pflanze der Verjüngung zu erlangen (Gilgamesch XI, 271-276). Apsu kann darüber hinaus sogar Anteil an der Unterwelt haben und zum Wohnort der Unterweltgötter, der Annunaki, werden (Erra 78,183-185) oder – wie in Ischtar und Dumuzi 137,179-182 – mit dem Unterweltfluss Chubur assoziiert werden (Horowitz, 342-344).

1.3. Anatolien

Eine untergeordnete Rolle hat die Wassermotivik in dem hethitisch-hurritischen Mythenzyklus vom Gerstengott Kumarbi (Catalog der Texte der Hethiter [= CTH] 344), der in Hattuscha gefunden wurde. Im Kern geht es um einen Sukzessionsmythos in der sumerischen Tradition des Himmel-Erde-Trennungsmythos (→ Schöpfung), der auf die Herrschaft Kumarbis hinausläuft (Haas, 82-86.123). In dem „Lied von Ullikummi“ (CTH 345, I 20-32; TUAT III/4, 835) ist die Vorstellung belegt, dass die anhaltende Trennung von Himmel und Erde durch dem Dämon Ullikummi und einen Riesen (Upelluri), auf dessen Schultern er wächst, gewährleistet wird. Somit wird verhindert, dass beide Elemente in das Urmeer und damit in einen Urzustand zurückfallen. Die Anleihen an das Enuma Elisch sind offensichtlich (Haas, 106f.116.120-122). Auffällig ist die ebenfalls babylonische Anleihe, die den Wassergott Ea in der Stadt Apzuwa (Apsu) residieren lässt (CTH 345, III,19).

1.4. Syro-Phönizien

Breit belegt ist die Urmeervorstellung in der Literatur, die in Tontafelarchiven des Stadtstaates → Ugarit (Rās Šamra [Ras Schamra]) aus dem 13. Jh. v. Chr. gefunden worden ist. Im Zentrum steht der Baal-Zyklus (→ Ba‘lu; vgl. → Baal) des Ilimalku und als zentrales Thema der Zusammenhang von Regen für Ugarit und dem Palastbaus für den Wettergott Baal als neuem Stadtgott (KTU 1.4 V; Smith, 14-16.35-41). Der Hauptgott → El zieht sich nach einem erfolgreichen Kampf Baals mit den El-Söhnen, dem Gott des Totenreichs, → Mot, und dem des Meeres, → Jammu, als deus otiosus zurück und überlässt Baal seine Stellung in einer Art Ko-Regentschaft (Smith, 17). Der Kampf mit dem das Urmeer verkörpernden Gott Jammu (KTU 1.1 V; 1.2 I; und bes. 1.2 IV) trägt Züge eines kosmischen Konflikts. Während Jammu als „Geliebter Els“ (KTU 1.3 III 38-39) kurzzeitig selbst die Herrschaft über den Götterrat angetragen ist, herrscht Mot lediglich über die Unterwelt. Die Göttin → Anat hilft Baal, Jammu und seine wässrigen Helfer zu besiegen, zu denen Tunnanu, Lotan, die gewundene Schlange und die Schlange mit den sieben Köpfen zählen (KTU 1.3 III 38-46 und KTU 1.5 I 1-3; vgl. Smith, 246-258; → Chaos; → Leviatan). Jammu unterscheidet sich hier grundsätzlich von den Protagonisten in Enuma Elisch, Apsu und Tiamat, die als Urgötter dem urweltlichen Bereich zugewiesen sind, während Jammu von El herkommend sein Daseins- und Herrschaftsrecht als Meeresgott innerhalb der Weltordnung behält. Smith erwägt sogar, dass der Drache Tunnanu / Tannin mit Jammu zu identifizieren sei und eine Alternative zu der anthropomorphen Darstellung in KTU 1.2 IV 1f. darstellt (vgl. Smith, 53f.). Der Baal-Zyklus ist in der Forschungsgeschichte auf der Basis von → S. Mowinckel als ugaritischer Schöpfungsmythos interpretiert worden. Smith u.a. haben diese Interpretation im Sinne einer creatio continua modifiziert (Smith, 77-87). Dennoch ist hinter der Figur des Jammu – ähnlich der Tiamat – eine ältere Stufe zu vermuten, die wie im übrigen Alten Orient ein Urmeer als Basis aller Existenz voraussetzt, übrigens eine Vorstellung, die sich auch in Homers Ilias findet (Smith, 85; s.u. 1.5). Ähnlich, wie es in mesopotamischen Texten von Ea gesagt wird (vgl. Enuma Elisch I,71f.), ist ein wässriger Kontext (nhrm „Flüsse“ und thmtm „Tiefen“) als Wohnsitz des Gottes El bezeugt (KTU 1.100; vgl. Pope, 61-72; Stolz 1970, 144-146; Smith, 85f.92f.; Niehr, 331).

Der phönizische Historiograph → Philo von Byblos (1./2. Jh. n. Chr.) identifiziert in seinem Werk Phönizische Geschichte El mit Kronos und lässt ihn im Kontext einer Theogonie entsprechend Eas Ort, dem Apsu, in den Tiefen wohnen (vgl. Euseb, Praeparatio evangelica I 10,6-30; Text Kirchenväter 3).

1.5. Griechenland

Das griechische Weltbild ist wenigstens in der vorklassischen Zeit dem altorientalischen nicht unähnlich. Das homerische Weltbild wird fassbar in Ilias 18, 478-608, der berühmten Beschreibung des Schildes von Achilleus, der die Trias von Himmel (Ouranos) – Erde (Gaia) – Meer (Thalassa) darstellt, wobei der Ringstrom Okeanos (vgl. Ilias 15,189-192; 16,150) als „Ahn und Schöpfer … von den Lebenden allen“ das Ganze umfließt (Ilias 16, 246). Dieser gilt auch als Vater der Götter (wie der Flüsse und Meere; vgl. Ilias 21,195; Hesiod, Theogonie 337) und Gatte der (Ur-)Meeresgöttin Tethys (Ilias 14,200; Theogonie 337-370). Bei Hesiod (Theogonie 133) zählt er als Sohn von Ouranos und Gaia zu den Titanen (Hübner, 19-22). Okeanos ist also einerseits eine mythische Gestalt der Urgöttergeneration, andererseits eine naturkundliche Größe in Meer und Horizont (Hübner, 28f.). In der ionischen Naturphilosophie des 6. Jh.s v. Chr. gilt das Wasser als der Ursprung von allem. Thales von Milet beschreibt in De Coelo B 13, dass die Erde wie ein Stück Holz auf dem Wasser schwimme, und trennt sich somit von der vorklassischen Voraussetzung des alles umfließenden Okeanos. Anderseits vertritt er aber auch noch nicht die materialistisch-physikalische Anschauung, die besagt, dass alles Seiende aus Wasser besteht, wie Anaximenes von Milet (6. Jh. v. Chr.) es tat (vgl. Kirk / Raven / Schofield, 101-104). Der Kirchenvater Hippolyt (Refutatio I,8,3-10) überlieferte das bereits naturwissenschaftlich orientierte Weltbild des Anaxagoras von Klazomenai (5. Jh. v. Chr.). Dieser beschrieb die Erde als frei schwebende, von Luft getragene Scheibe. Die Gewässer auf der Erde (so z.B. das Meer) speisen sich aus dem Wasser in der Erde und aus den ins Meer strömenden Flüssen, die neben dem Grundwasser auch Regenwasser mit sich führen (vgl. Kirk / Raven / Schofield, 416f.).

2. Das Urmeer in der Bibel

Das Hebräische kennt für das Urmeer verschiedene Begriffe, nämlich das seltene Nomen תְּהוֹם təhôm (36 Belege; manchmal parallel zu מַיִם majim „Wasser“ Gen 1,2; Ex 15,8; Ez 31,4; Jon 2,6; Hab 3,10 Ps 77,17; Hi 38,30) sowie das geläufige Wort יָם jām „Meer“ (Bauks, 124-126). An einzelnen Stellen verweist תְּהוֹם təhôm auf das Totenreich (Ez 26,19; Ez 31,15; Sir 51,5f [nicht in Lutherbibel]).

Außerbiblisch findet sich תהום təhôm z.B. in der → Qumranliteratur (ca. 40 Belege), und zwar dort in liturgischen und weisheitlichen Texten. Das Bedeutungsspektrum entspricht dem der alttestamentlichen Belege (vgl. Waschke, 571; Abegg u.a., I,2 755f. und demnächst Theologisches Wörterbuch zu den Qumrantexten [ThWQ]).

2.1. Schöpfungstexte

In dem zweigeteilten Weltbild zählt das Urmeer sowohl zu den himmlischen als auch zu den irdischen bzw. unterirdischen Bereichen. Im dreiteiligen Weltbild formiert es (alternativ zur Unterwelt) den dritten, unteren Bereich (Ps 65,6-9; Ex 20,11). Dem ersten Schöpfungsbericht nach bildet sich – in Anlehnung an die oben dargestellte Eridu-Tradition – aus dem Urmeer mit Hilfe eines Gewölbes (רָקִיעַ rāqîa’) zuerst die Vertikale heraus: der obere und untere Teil des Kosmos, Himmel und Erde. Darauf folgt die Differenzierung in der Vertikalen in Meer und Trockenland (Gen 1,6-10). Der Vorgang vollzieht sich aber nicht als ein Kampfgeschehen wie z.B. im → Enuma Elisch, sondern ohne jede äußere Anstrengung allein durch das göttliche Wort (Gen 1,6; Ps 33,6-9; vgl. 4Q381 frg. 1,2-11). In weiteren Anspielungen auf göttliches Schöpfungshandeln wird die Erde über dem Meer gegründet (Ps 24,2; Ps 136,6) bzw. das Meer durch die Erde begrenzt (Jer 5,22; Hi 38,4-11; Spr 8,29; Ps 104,6-9) oder in Kammern verschlossen (Ps 33,7). Gott vermag über seine Wogen hinweg zu schreiten (Hi 9,8). Verschiedene (Meer-) Ungeheuer wie der → Leviatan oder die Tanninim (Gen 1,21; → Schlange 3.2.) werden von Gott eigens geschaffen und der Weltordnung einverleibt, ja sogar als Spielzeug Gottes vorgestellt (Ps 104,26; Ps 40,29; vgl. auch Hi 40,19; → Behemot).

2.2. Kult

Die Urmeermotivik kommt in der Symbolik des Jerusalemer Tempels zum Tragen. 1Kön 7,23-24.44 (vgl. 2Chr 4,2-10) berichtet von der Installation des → Ehernes Meers, eines gewaltigen Bronzebeckens in Form einer Lotusblüte, das auf zwölf bronzenen Stieren im Vorhof des Tempels stand. Es symbolisierte die gebändigten Wasser des Urmeeres (vgl. Keel / Uehlinger, 192; Zwickel, 125-136 zur Symbolikkonstellation von Becken und Stieren im Alten Orient). Eine vergleichbare Bedeutung hatten die ägyptischen Tempelseen.

In kultischen Texten finden sich einige Anspielungen auf den im Alten Orient beheimateten präkosmischen Meerkampf (→ Chaos), und zwar im Duktus der Rückerinnerung. So stellt es sich z.B. dar in den an einen Hymnus erinnernden Passagen von Hi 26,10-14, in dem Volksklagelied Ps 74,12-17 und in dem Kompositpsalm mit geschichtstheologischen Bezügen Ps 89,10-15 (vgl. in Qumran 4Q381 frg. 15,4-7). Die beiden Psalmen erinnern an die Zerschlagung der Macht des Urmeeres und seiner Ungeheuer, um letztlich die Langfristigkeit des Gott-Königtums (Ps 74,12) und die Unvergleichbarkeit seiner Herrschaft (Ps 89,9) hervorzuheben. Es geht hier um den Aufweis Gottes als Herrn der Weltordnung von Urzeit her (Bauks, 2001, 452-455). Tragend ist die „Stilform der behobenen Krise“ (Ps 93,1-5; vgl. Janowski, 167-171), welche die Unableitbarkeit der Königsherrschaft JHWHs unterstreicht.

In Ps 18,16-18 (vgl. Jes 50,2; Nah 1,4) ist vom „Schelten“ JHWHs die Rede, das den leidenden Menschen vor den Tiefen der mythischen Wasser bewahrt und errettet. Die Urmeermotivik ist in diesem Psalm im Kontext der Feindmetaphorik verwendet. Die Funktion der Rede vom Urmeer besteht darin, die anhaltende Bedrohung der Welt zu erinnern, die des permanenten göttlichen Einsatzes und Ausgrenzens im Sinne einer creatio continua bedarf (vgl. Ps 146,6).

Das altorientalisch geprägte Motiv ist demnach für die Jerusalemer Kulttradition charakteristisch (Stolz, 1970, 60-66 mit Liste der Belege; → Zionstheologie), findet aber eine Sonderform in der Rede vom Völkersturm auf den Zion, in welcher der Ansturm der Völker mit dem aufgewühlten Meer verglichen wird und besonders deutlich in Jes 17,12-14 (Wehruf über die Assyrer) und Ps 46,2-8 zum Ausdruck gebracht ist (Bauks, 2001, 458-459).

2.3. Fluterzählung und Exoduserzählung

Die → priesterschriftlicheFluterzählung (Gen 6,5-9,17) bildet das Mittelstück der narrativen Abfolge von „creation – uncreation – re-creation“ in Gen 1-9 (Clines, 302-304). In deren Ablauf werden die anfänglichen, räumlich orientierten Trennungsakte (Gen 1,6-8) aufgehoben und die Tiefen der Erde gemeinsam mit den Fenstern des Himmels (Gen 7,11) entgrenzt, so dass das Urmeer zurück in die Schöpfungsordnung dringt. Es handelt sich um eine einmalige Rückkehr des Urmeeres in die Schöpfungswelt, durch die das Strafgericht Gottes an der Menschheit vollzogen wird. In Gen 8,3.7.13 wird das Urmeer wiederum zurückgedrängt und die Neuschöpfung kann beginnen. Im Unterschied zu den altorientalischen Chaoskampfvorstellungen ist in der biblischen Vorstellung eine Unterscheidung in Verursacher und Überwinder der Flut nicht möglich (Auffahrt, 72), d.h. jede Form einer Göttersukzession ist ausgeschlossen.

In Ps 66,6; Ps 77,16-21; Ps 106,7-12; Ps 114; Jes 51,9-10 sowie in der → Meerwundererzählung Ex 14,6-31; Ex 15,8-10 (Schilfmeerlied) begegnet die Motivik in historisierter Form (Mettinger, 29). Schon der Bericht von Israels Durchzug durch das Meer im Zuge der Flucht vor den Ägyptern kann mit dem Trennungshandeln und dem Trockenlegen zu Beginn der Schöpfung parallelisiert werden (vgl. die Jordanüberquerung in Jos 2,10; Jos 4,23). Darüber hinaus dient das Motiv dem Ziel, das Vertrauen des JHWH-Volkes mit Verweis auf Gottes vorzeitliches Handeln zu begründen und einen neuen Exodus bzw. eine neue Schöpfung (Jes 43,16-21) zu propagieren (Bauks 2001, 455-457; → Chaos 3.2.2. mit weiteren Stellen; → Eschatologie).

2.4. Apokalyptisches Denken

Das Urmeer spielt nicht nur beim Weltbeginn, sondern auch im Zuge des Nachdenkens über die Endzeit (vgl. dazu die Bahn brechende Publikation von → Hermann Gunkel) eine wichtige Rolle. In der → Jesaja-Apokalypse findet sich der mit dem ugaritischen Text KTU I 1.5 1ff. verwandte Text Jes 27,1. An einem von JHWH erwählten Tag (→ Tag Jahwes) treten Meer und Chaosdrachen als Feinde Gottes auf, die sich Gottes Herrschaft ergebnislos entgegen stellen, woraufhin eine neue Ära folgt (vgl. Dan 7,1-14; Apk 13,1), in der es das Urmeer in neutestamentlicher Vorstellung nach der erwarteten Neuschöpfung von Himmel und Erde nicht mehr geben wird (Apk 21,1). In Sach 14,6-9 ist die Chaosmotivik verkehrt, indem nämlich hoffnungsvoll davon die Rede ist, dass am Tag JHWHs lebendiges Wasser aus Jerusalem fließen wird (der segensstiftende Charakter der תְּהוֹם təhôm findet sich auch in Gen 49,25).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

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Abbildungsverzeichnis

  • Pharao Ptolemaios IX Soter II (ohne Abb.) bringt ein Lotusopfer für Re-Behedety als Kind gefolgt von den vier frosch- bzw. schlangenköpfigen Urgottpaaren der Achtheit von Heliopolis (Architravdarstellung aus Edfu; 2./1. Jh. v. Chr.). Aus: G. Roeder, Die Kosmogonie von Hermopolis, Egyptian Religion 1 (1933), 1-27, 8
  • Die Barke des Sonnengottes bei der Nachtfahrt über das Urmeer, das von der Apophis-Schlange symbolisiert wird (Holzsarg; Theben; 20.-22. Dyn., 1100-900 v. Chr.; BIBEL+ORIENT Datenbank Online). © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
  • Der Reichsgott Marduk steht auf einem gehörnten Mischwesen als Postamenttier (Rollsiegel; Babylon; 850-820 v. Chr.). © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
  • Die sog. Babylonische Weltkarte und eine Rekonstruktion; die Welt liegt inmitten der Urwasser (Apsu); der Euphrat entspringt dem Gebirge oben und mündet im Sumpfland unten; ein Rechteck stellt Babylon, Kreise stellen weitere Ortschaften dar (Tontafel, Sippar, 6./5. Jh. v. Chr.). Mit Dank an © The Trustees of the British Museum, BM 92687; Rekonstruktion nach E. Unger, Babylon. Die heilige Stadt nach der Beschreibung der Babylonier, photomech. Nachdr. der Ausg. v. 1931, erweitert um eine Vorbemerkung von R. Borger, Berlin 1970, Tf. 3
  • Siegreicher Gott über dem Schlangendrachen, der die Chaosmächte symbolisiert (neuassyrisches Rollsiegel; 900-700 v. Chr.; BIBEL+ORIENT Datenbank Online). © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
  • Das eherne Meer (rechts) im Vergleich mit Kultbecken (links), die im Alten Orient den unterirdischen Süßwasserozean symbolisieren. © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

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