Zeitzeugenbefragung
Schlagworte: Oral History
(erstellt: Januar 2015)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Zeitzeugenbefragung.100055
1. Oral History als Methode der historischen Forschung und in edukativen Zusammenhängen
Oral History entstand in den 1940er Jahren in den Vereinigten Staaten von Amerika als Methode der historischen Forschung, unter anderem um Geschichtsquellen für schriftlose Kulturen und Gruppen wie die der Indianer und schwarzen Sklaven zu generieren. Seit den 1970er Jahren fand sie auch Eingang in die europäische Geschichtswissenschaft. Dies war mit einer Akzentverschiebung hin auf die Geschichte von Gruppen verbunden, die zwar nicht eigentlich schriftlos sind, aber über keine wahrnehmbare öffentliche Stimme verfügen: Minderheiten, Frauen oder Angehörige sozialer Unterschichten.
In der Kirchengeschichtsdidaktik (→ Kirchengeschichtsdidaktik
Trotz vielfacher Vorbehalte, die sich vor allem auf den Aufwand beim Aufzeichnen und Transkribieren sowie auf die für tragfähige wissenschaftliche Ergebnisse nötige Mindestzahl von Interviewpartnern bezieht, konnte sich die Zeitzeugenbefragung mittlerweile im schulischen Geschichtsunterricht und bei kirchengeschichtlichen Sequenzen im Religionsunterricht als Methode (→ Methoden
2. Methodischer Einbezug von Zeitzeugeninterviews in Lernprozesse
Für den Einsatz von Elementen der Oral History beziehungsweise Zeitzeugenbefragung im Religionsunterricht (→ Religionsunterricht, evangelisch
Diese positiven Aspekte und Lernchancen sind jedoch mit Schwierigkeiten beim Geschichtslernen in edukativen Kontexten – insbesondere bei kirchengeschichtlichen Sequenzen im schulischen Religionsunterricht – verbunden: Werden doch die Erwartungen der Lernenden in Bezug auf den Aussagegehalt der Zeitzeugen in der Regel enttäuscht, da diese Geschichte eben nicht so erzählen, wie diese sonst im Unterricht gelehrt und gelernt wird. Daraus entsteht ein Glaubwürdigkeitsdilemma – zunächst gegenüber der sonst üblichen Behandlung historischer Themen im Unterricht, insofern die Lernenden geneigt sind, die Erzählungen (→ Geschichtserzählung
Formal gibt es für die Zeitzeugenbefragung zwei unterschiedliche Typen von Interviews: das thematische und das biografische. Bei der ersten Variante findet eine Befragung der Zeitzeugen zu einem bestimmten Sachverhalt der Vergangenheit statt. Solche Interviews werden zumeist anhand von Leitfragen zu einer historischen Epoche, die der Zeuge erlebt hat, geführt. Beim biografischen Interview steht dagegen die Lebensgeschichte des Befragten „im Zusammenhang einer Epoche, historischer Brüche und Kontinuitäten“ (Wierling, 1997, 237) im Mittelpunkt.
Für die Einbeziehung beider Interviewtypen in den Unterricht ist ein strukturiertes Vorgehen unerlässlich. Zunächst sind ein oder mehrere geeignete Zeitzeugen zu ermitteln; eine Aufgabe, die zumeist die Lehrenden übernehmen dürften. Dabei sind Gesprächspartner, „die nur ein Gegenüber suchen, um zum Reden zu kommen, und ‚Profi-Zeugen‘, die schon viele Male im Einsatz waren und deren Erinnerung sich in einem Standardtext verfestigt hat“ (Sauer, 2005, 199), wenig geeignet.
Die eigentliche Zeitzeugenbefragung beginnt mit der vorbereitenden Themenfindung, bei der die Lernenden auch ihr erkenntnisleitendes Interesse formulieren müssen. Vor Beginn des Interviews sollten mit der zu befragenden Person sodann organisatorische Absprachen getroffen werden, wie etwa die Erläuterung des Vorhabens, die Bitte um Erlaubnis der Aufzeichnung des Gesprächs und die Entscheidung, in welchen Räumen das Interview stattfindet. Zudem müssen in religionsunterrichtlichen (→ Religionsunterricht, evangelisch
Von ebenso großer Bedeutung wie das Interview selbst ist schließlich seine Auswertung, damit es als historische Quelle nutzbar wird. Dabei wird man in edukativen Zusammenhängen zumeist auf eine ausführliche Transkription des gesamten Interviews verzichten müssen, da dieses Vorgehen den Rahmen der im Unterricht zur Verfügung stehenden Zeit sprengen dürfte. Möglich sind tabellarische Übersichten, die das Erzählte mit dem Wissen über die jeweilige historische Epoche aus anderen Quellen kontrastieren. Ein solches Vorgehen führt bei den Lernenden häufig zu einem fachdidaktisch erwünschten „Enttypisierungsschock“, das heißt zur „Erfahrung, wie gering die Affinität des Erzählten zu dem ist, was man aufgrund der Vorinformationen oder vielleicht auch der Vorurteile von dem Zeitzeugen erwartet hatte“ (Henke-Bockschatz, 2000, 24). Den Lernenden sollte auf diese Weise deutlich werden, dass auch bei Zeitzeugenbefragungen die Notwendigkeit besteht, eine kritische Distanz zu dieser historischen Quelle zu bewahren. Für die Entwicklung von Medienkompetenz bei der Beurteilung des Quellenwerts von Oral-History-Elementen beispielsweise bei Sendungen über historische Ereignisse im Fernsehen bestehen hier gute Möglichkeiten.
3. Forschungsperspektiven
Sowohl als wissenschaftliche Methode für die Generierung von historischen Quellen als auch als Methode in edukativen Zusammenhängen in schulischen und außerschulischen Bildungskontexten ist der Einsatz von Oral History weiterhin hinsichtlich ihres Aussagegehalts und -werts nicht unumstritten. Dies liegt insbesondere am subjektiven Charakter der durch sie erhobenen historischen Erinnerungen. Dabei ist vor allem das Interview als zentrales Element der Hauptangriffspunkt, da der Historiker oder die Historikerin beziehungsweise der Interviewer oder die Interviewerin an der Entstehung der Quellen selbst beteiligt ist. Methodologische Fragen, wie sie etwa auch bei der teilnehmenden Beobachtung zu beachten sind, bleiben daher weiterhin aktuelle Forschungsaufgaben. Hinzu tritt der Umstand, dass die befragten Zeitzeugen ihre eigenen Erinnerungen aufgrund psychologisch nachweisbarer Mechanismen unwillentlich selbst verändern. Die Integration von Erkenntnissen der Soziologie, Psychologie und Hirnforschung bei der Entstehung und Interpretation von Zeitzeugeninterviews in Geschichtswissenschaft und Geschichts- sowie Kirchengeschichtsdidaktik ist daher nötig.
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