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Videoanalyse

(erstellt: Februar 2017)

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1. Begriff und Geschichte

Unter Videoanalyse versteht man die empirische Untersuchung von Unterrichtsprozessen, die realem Unterricht entstammen und per Videografie dokumentiert wurden. Die Analyse kann sich quantitativer wie qualitativer Verfahren bedienen, bleibt aber konstitutiv auf die Bild- und Tondaten des zu untersuchenden Videoclips bezogen. Nach Pauli und Reuser (2006) lassen sich Video Surveys von videobasierter Unterrichtsforschung unterscheiden. Video Surveys konzentrieren sich dabei auf unmittelbar sichtbare Indikatoren im Clip und zielen auf repräsentative Aussagen zu Prozessmerkmalen von Unterricht. Videobasierte Unterrichtsforschung dagegen bindet beobachtbares Verhalten an theoretische Modelle zurück und will unterrichtliches Handeln durch latente, das heißt nicht unmittelbar sichtbare Konzepte erklären.

Der Einsatz von Videografie in der empirischen Unterrichtsforschung reicht bis in die 1970er Jahre zurück, wobei aufgrund der eingeschränkten technischen Möglichkeiten vor allem Fallstudien entstanden (Pauli/Reusser, 2006). Angeregt durch technische Neuerungen erfährt die videobasierte Unterrichtsforschung seit Mitte der 1990er Jahre einen neuen Schub. Unterrichtsprozesse können nun digital aufgezeichnet und computergestützt kodiert werden. Außerdem stehen erste statistische und textbezogene Analyseprogramme zur Verfügung, in denen Bild, Ton und Analyseraster systematisch aufeinander bezogen sind (Wild, 2003). Der gegenwärtige Stand der Technik erlaubt eine sehr einfache Erhebung, Verwaltung und Analyse von Videodaten, sodass die Videoanalyse zu einem gängigen Verfahren aktueller Unterrichtsforschung geworden ist (Riegel/Macha, 2013) und immer häufiger in der Lehrerbildung eingesetzt wird (Janik/Minarikova/Najvar, 2013).

2. Möglichkeiten und Grenzen

Für den Einsatz von Videoanalyse sprechen zahlreiche Gründe (Blömeke/Eichler/Müller, 2003, 109-110; Stigler/Gallimore/Hiebert, 2000, 90-91). (1) Videografierte Daten liegen digitalisiert vor und können leicht bearbeitet und analysiert werden. (2) Unterrichtsvideos sind beliebig oft abspielbar und können damit rekursiv analysiert werden. Komplexe Analyseverfahren sind anwendbar. (3) Unterrichtsvideos repräsentieren reales Unterrichtshandeln und eröffnen somit einen direkten Einblick in Unterrichtsprozesse. (4) Abgeleitete Begriffe (z.B. Korrelation) können durch einen engen Bezug zu beobachtetem Verhalten präzise beschrieben werden. (5) Unterrichtsclips beinhalten eine Fülle an Informationen. Unterricht wird als ganzheitliches, komplexes Geschehen wiedergegeben und kann somit unter verschiedenen Analyseperspektiven untersucht werden. (6) Unterrichtsvideos selbst sind weitgehend theoriefrei und können deshalb – auch zu späteren Zeiten – gemäß verschiedener Theorien und Paradigmen (re-)analysiert werden.

Diesen Stärken der Videoanalyse stehen aber auch Grenzen des Verfahrens gegenüber (Petko, 2003, 268-271). (1) Die Datenerhebung mittels Videografie bedeutet trotz aller technischen Fortschritte immer noch einen erheblichen Aufwand. (2) Unterrichtsvideos geben keinen authentischen Eindruck von Unterricht wieder, sondern einen Ausschnitt desselben, der durch die Kameraperspektive(n) und die Tonqualität definiert ist. (3) Bei Videoaufzeichnungen ist bei Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern mit einem Kameraeffekt zu rechnen, der sich erst mit der Zeit relativiert. (4) Videoaufzeichnungen greifen tief in den Bereich der individuellen Privatsphäre ein, was besondere Anforderungen an die Anonymisierung der Clips stellt. (5) Insbesondere in jüngerer Zeit werden Videoaufzeichnungen von Unterricht nur noch äußerst restriktiv erteilt, was einen aufwändigen Genehmigungsprozess mit eingeschränkten Erfolgsaussichten bedeutet.

3. Praxis

Videobasierte Studien arbeiten heute in der Regel mit zwei Kameras und zwei Mikrofonen (Seidel/Prenzel/Kobarg, 2005). Eine Kamera wird dabei als statische Überblickskamera im Rückraum des Klassenzimmers platziert. Die zweite Kamera ist eine mobile Handkamera, um Interaktionen im Unterricht fokussieren zu können, die einschlägig für das Erkenntnisinteresse der Studie sind. Bei den Mikrofonen zeichnet eines die Aussagen der Schülerinnen und Schüler auf. Es wird in der Regel fest im Raum installiert. Das zweite Mikrofon ist für die Aussagen der Lehrperson bestimmt und wird häufig als mobiles Mikrofon an der Kleidung der Lehrperson befestigt. Die gesamte Ausrüstung muss vor Stundenbeginn installiert sein, um den Unterricht nicht zu behindern. Das Handling von Kameras und Mikrofonen wird in einem Kameraskript detailliert beschrieben, um zu vergleichbaren Aufzeichnungen zu kommen.

Bei der Analyse der Unterrichtsvideos kann auf viele einschlägige Softwarepakete zurückgegriffen werden. Alle ermöglichen es, Unterrichtssequenz und die zugehörige Transkription des Unterrichtsgesprächs zeitlich parallel zu betrachten. Ferner erlauben sie eine schnelle und sekundengenaue Navigation im Unterrichtsvideo. Auch können jedem Videosegment analytische Kategorien zugeordnet werden. Schließlich lassen sich die kategorialen Daten in übliche statistische Programme übertragen, sodass Zusammenhänge zwischen den Kategorien berechnet werden können.

Für die Segmentierung der Videodaten stehen zwei Strategien zur Verfügung (Bakemann/Gottmann, 1994). Beim time-sampling wird das Material in gleich lange Zeitabschnitte gegliedert, welche die Grundeinheit für die Zuordnung von Kategorien darstellen. Beim event-sampling gliedert sich das Material in im Vorfeld definierte Ereignisse, z.B. Unterrichtsphasen oder Sprechakte (turns).

Die Analyse der Sequenzen wird gegenwärtig durch deduktive Verfahren dominiert, namentlich Kategorien- und Ratingsysteme. Ein Kategoriensystem unterscheidet verschiedene Ereignisse hinsichtlich der zu untersuchenden Variablen. Um eine eindeutige Zuordnung zu ermöglichen, müssen sich zwei Ereignisse dabei gegenseitig ausschließen. Kategoriensysteme beziehen sich in der Regel auf Sichtmerkmale des Unterrichts, die direkt beobachtet werden können. Ein Ratingsystem definiert dagegen Messwerte für die Einschätzung der zu untersuchenden Variablen. Es erfordert damit ein hohes Urteilsvermögen beim Rater, weil diese Messwerte anhand von – oft mehreren – Indikatoren einem Clip zugeordnet werden müssen. Um solche Ratings vergleichbar zu halten, werden detaillierte Ratingmanuale erstellt, die das zu bestimmende Phänomen in seinen verschiedenen Ausprägungen präzise beschreiben. In der empirischen Unterrichtsforschung gegenwärtig eher weniger gebräuchlich sind qualitative Verfahren, die z.B. im Kontext der Grounded Theory Unterrichtssequenzen analysieren.

4. Videoanalyse in der religionspädagogischen Forschung

In den letzten 40 Jahren kann die → Religionspädagogik auf einige groß angelegte Studien zurückblicken, in denen videografierter Unterricht eine zentrale Rolle spielte. In den 1970er Jahren zeichnete eine Mainzer Forschergruppe um Günter Stachel fast 100 Stunden Religionsunterricht auf, um z.B. typische Unterrichtsverläufe zu identifizieren (Stachel, 1976). Acht dieser Stunden wurden videografiert, was zu dieser Zeit einen ungeheuren technischen Aufwand bedeutete. Zwischen 1984 und 1995 dokumentierte eine Gruppe um Eugen Paul in Augsburg 70 Unterrichtsstunden und untersuchte, wie curricular vorgegebene Themen im Unterricht umgesetzt werden (Mendl, 2000). Jüngst legte die Essener Forschergruppe um Rudolf Englert ihre Auswertung zu Konfigurationen eines korrelativ angelegten Religionsunterrichts vor, die auf der Analyse von 113 videografierten Religionsstunden beruht (Englert/Hennecke/Kämmerling, 2014). Neben diesen groß angelegten Videostudien gibt es vor allem in jüngerer Zeit eine Vielzahl von kleineren Studien, in denen videografierter Religionsunterricht entweder als grundlegende Analyseeinheit dient (z.B. Dressler/Klie/Kumlehn, 2012; Juen, 2013; Phillip 2015; Schweitzer/Ruopp/Wagensommer 2012) oder im Sinn des video-stimulated-recalls einen wichtigen Bestandteil der Datenerhebung darstellt (z.B. Heil, 2006; Knauth/Leutner-Ramme/Weiße, 2000).

Konzentriert man sich auf den Umgang mit dem Video-Material, kristallisieren sich drei analytische Zugänge heraus. (1) In den meisten Studien dient das Video-Material zur mehr oder weniger detaillierten Rekonstruktion des Unterrichtsverlaufs im Sinn einer Fallstudie (z.B. Dressler/Klie/Kumlehn, 2012; Englert/Hennecke/Kämmerling, 2014; Heil, 2006; Phillip, 2015). In meistens methodisch nicht weiter geklärter Beobachtung des Materials werden Abfolgen typischer Unterrichtsphasen, Interaktionsfolgen oder Abläufe von Methoden rekonstruiert. (2) In der Essener Korrelationsstudie kommen Kategorien- und Ratingsysteme zum Einsatz, um typische Unterrichtsmerkmale (z.B. Verteilung von Redezeit) oder pädagogische Konzepte (z.B. kognitive Aktivierung) zu identifizieren (Englert/Hennecke/Kämmerling, 2014). Damit rezipiert diese Studie die in der empirischen Unterrichtsforschung üblichen Methoden und kann in den Austausch mit dieser Forschung treten (Englert, 2013). (3) Maria Juen (2013) wählt einen qualitativen Zugang zum Video-Material. Auf der Grundlage eines time-samplings (5 Sekunden) analysiert sie die videografierten Segmente anhand der Analyseschritte im Gefolge der Grounded Theory. Sie kommt damit zu tiefschürfenden Einsichten in die Dynamiken, die den Unterrichtsbeginn konstituieren, kann aber verfahrensbedingt nur sehr eingeschränkt verallgemeinerbare Befunde anbieten (Schmid, 2015).

Nimmt man den religionspädagogischen Zugriff auf die Videoanalyse insgesamt in den Blick, dient videografierter Religionsunterricht fast ausschließlich einem inhaltlichen Erkenntnisinteresse. Eine methodische Auseinandersetzung mit diesem Verfahren steht erst am Anfang (z.B. Hunze, 2015). Gleiches gilt für die Konstruktion von Instrumenten, die valide und reliabel spezifisch religionspädagogische oder -didaktische Konzepte in videografiertem Religionsunterricht erfassen (z.B. Riegel, 2013).

Literaturverzeichnis

  • Bakemann, Roger/Gottmann, John, Observing interaction: An introduction to sequential analysis, Cambridge 1994.
  • Blömeke, Sigrid/Eichler, Dana/Müller, Christiane, Rekonstruktion kognitiver Strukturen von Lehrpersonen als Herausforderung für die empirische Unterrichtsforschung, in: Unterrichtswissenschaft 31 (2003) 2, 103-121.
  • Dressler, Bernhard/Klie, Thomas/Kumlehn, Martina, Unterrichtsdramaturgien. Fallstudien und Performanz religiöser Bildung, Stuttgart 2012.
  • Englert, Rudolf, Wie kommen Schüler/innen ins Gespräch mit religiösen Traditionen? Eine Untersuchung religionsdidaktischer Inszenierungsstrategien, in: Riegel, Ulrich/Macha, Klaas (Hg.), Videobasierte Kompetenzforschung in den Fachdidaktiken, Stuttgart 2013, 248-265.
  • Englert, Rudolf/Hennecke, Elisabeth/Kämmerling, Markus, Innenansichten des Religionsunterrichts. Fallbeispiele – Analysen – Konsequenzen, München 2014.
  • Heil, Stefan, Strukturprinzipien religionspädagogischer Professionalität, Münster 2006.
  • Hunze, Guido, Videografische Unterrichtsforschung in der Religionsdidaktik. Ein methodologisches Zwischenfazit, in: Gärtner, Claudia/Brenne, Andreas (Hg.), Kunst im Religionsunterricht – Funktion und Wirkung, Stuttgart 2015, 129-150.
  • Janik, Tomas/Minarikova, Eva/Najvar, Petr, Der Einsatz von Videotechnik in der Lehrerbildung. Eine Übersicht leitender Ansätze, in: Riegel, Ulrich/Macha, Klaas (Hg.), Videobasierte Kompetenzforschung in den Fachdidaktiken, Stuttgart 2013, 63-78.
  • Juen, Maria, Die ersten Minuten des Unterrichts. Skizzen einer Kairologie des Anfangs aus kommunikativ-theologischer Perspektive, Münster 2013.
  • Knauth, Thorsten/Leutner-Ramme, Sibylla/Weiße, Wolfram, Religionsunterricht aus Schülerperspektive, Münster 2000.
  • Mendl, Hans, Religiöses Lernen als Konstruktionsprozess. Schülerinnen und Schüler begegnen der Bibel, in: Porzelt, Burkard/Güth, Ralph (Hg.), Empirische Religionspädagogik. Grundlagen – Zugänge – Aktuelle Projekte, Münster 2000, 139-152.
  • Pauli, Christine/Reusser, Kurt, Von international vergleichenden Video Surveys zur videobasierten Unterrichtsforschung und -entwicklung, in: Zeitschrift für Pädagogik 52 (2006) 6, 744-798.
  • Petko, Dominik/Waldis, Monika/Pauli, Christine/Reusser, Kurt, Methodologische Überlegungen zur videogestützten Forschung in der Mathematikdidaktik. Ansätze der TIMSS 1999 Video Studie und ihrer schweizerischen Erweiterung, in: ZDM. Zeitschrift für die Didaktik der Mathematik 35 (2003) 6, 265-280.
  • Phillip, Mareike, Wie und warum werden Bilder im Religionsunterricht eingesetzt?, in: Gärtner, Claudia/Brenne, Andreas (Hg.), Kunst im Religionsunterricht – Funktion und Wirkung, Stuttgart 2015, 111-128.
  • Riegel, Ulrich, Religionsdidaktische Kompetenz messen. Auf dem Weg zu einem Ratingmanual zur Erfassung religionsdidaktischer Kompetenz auf der Grundlage videografierter Religionsstunden, in: Riegel, Ulrich/Macha, Klaas (Hg.), Videobasierte Kompetenzforschung in den Fachdidaktiken, Stuttgart 2013, 266-280.
  • Riegel, Ulrich/Macha, Klaas (Hg.), Videobasierte Kompetenzforschung in den Fachdidaktiken, Stuttgart 2013.
  • Schmid, Hans, Rezension zu Maria Juen, Die ersten Minuten des Unterrichts, in: Katechetische Blätter 140 (2015) 1, 73-74.
  • Schweitzer, Friedrich/Ruopp, Joachim/Wagensommer, Georg, Wertebildung im Religionsunterricht. Eine empirische Untersuchung im berufsbildenden Bereich, Münster 2012.
  • Seidel, Tina/Prenzel, Manfred/Kobarg, Mareike (Hg.), How to run a video study. Technical report of the IPN Video Study, Münster 2005.
  • Stachel, Günter, Die Religionsstunde – beobachtet und analysiert. Eine Untersuchung zur Praxis des Religionsunterrichts, Zürich 1976.
  • Stigler, James/Gallimore, Ronald/Hiebert, James, Using Video Surveys to compare Classrooms and Teaching Across Cultures: Examples and Lessons From the TIMSS Video Studies, in: Educational Psychologist 35 (2000) 2, 87-100.
  • Wild, Klaus-Peter, Videoanalysen als neue Impulsgeber für eine praxisnahe prozessorientierte empirische Unterrichtsforschung, in: Unterrichtswissenschaft 31 (2003) 2, 98-102.

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