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Topographie als Theologie, NT

(erstellt: Februar 2019)

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Wie Jesus zu verstehen ist, was seine Botschaft ausmacht und für heute bedeutet, ist nicht nur aus der Bibel zu rekonstruieren. Auch Topographie ist Theologie. Die Orte, die Jesus aufsucht, die Landschaft, die er durchzieht, sind so etwas wie ein „fünftes Evangelium“, das zu lesen vieles erschließt, was in den vier verschrifteten Evangelien zu finden ist (Pixner, 1992).

Topographie als Theologie zu deuten, hat viele Gründe. Es macht deutlich, dass Jesus nicht jenseits der geschichtlichen und geographischen Kontexte gedeutet werden kann. Die agrarische Welt, die er in den Gleichnissen anspricht (vgl. Mk 4 par), die Vergleiche, die er zieht, wenn er die Zöllner eher in das Reich Gottes eingehen sieht als die Pharisäer (Mk 2,13-17), kann nur jemand verstehen, der die Flora und Fauna Palästinas zur Zeit Jesu kennt und um die sozialgeschichtlichen Hintergründe der Antike weiß. Weiterhin zeigt sich, dass viele Orte, die in den Evangelien eine Rolle spielen, nur richtig eingeordnet werden können, wenn ihr Bezug zum AT deutlich wird (→ Topographie als Theologie, AT). Dass Jesus bei Mt, der für eine judenchristliche Gemeinde schreibt, seine wichtigste Predigt auf einem Berg hält (Mt 5-7) (→ Bergpredigt (Mt 5-7), bibeldidaktisch, Primarstufe; → Bergpredigt (Mt 5-7), bibeldidaktisch, Sekundarstufe), können beispielsweise nur diejenigen als Hinweis auf das neue, wirkmächtige Wort und den neuen lebensstiftenden Bund dechiffrieren, die darum wissen, dass im AT JHWH seinen Bund mit Israel ebenfalls auf einem Berg, nämlich dem Sinai, geschlossen hat. Schließlich nimmt eine Topographie, die sich als Theologie versteht, ernst, dass sich Jesus als wahrer Mensch und → Gott eingeschrieben hat in Raum und Zeit. Kontexte und Geschichten werden damit endgültig als Orte lesbar, an denen sich Gott finden lässt.

Erkundungen der Topographie sind so nicht nur geographiewissenschaftlichem Interesse geschuldet, sondern stellen eine genuin theologische Aufgabe dar, insofern sie zum Verstehen der Rede und Taten Jesu, seiner Person und seines Schicksals beitragen. Der folgende Beitrag kann nicht die Fülle, der in den Evangelien und der Briefliteratur genannten Orte erörtern. Aber er versucht, für die Jesusgeschichte und die Urgemeinde wichtige Topoi zu beschreiben, in ihrem theologischen Gehalt zu verdeutlichen und damit Anknüpfungspunkte für heutige Lernmöglichkeiten aufzuzeigen.

Die Auswahl orientiert sich einerseits am Lebensweg Jesu und damit einer chronologischen Abfolge. Andererseits werden die Orte nach ihrer Bedeutsamkeit für die Jesusgeschichte und die Urgemeinde ausgewählt und spiegeln auf diese Art und Weise ein theologisches Programm wider.

1. Galiläa: Von der Peripherie in das Zentrum – Topographie als theologisches Programm

Galiläa, der Landstrich im Nordosten Israels, spielt im AT keine Rolle. Insgesamt wird Galiläa in der hebräischen Bibel nur sechsmal erwähnt: Jos 20,7; 21,32; 1 Kön 9,11; 2 Kön 15,29; 1 Chr 6,61 und Jes 8,23 (Bösen, 1990, 13f.). Galiläa ist eine überschaubare Region, die in Obergaliläa, Untergaliläa, also die engere Heimat Jesu mit dem Dorf Nazaret, und die Gegend um den See von Galiläa, auch See von Tiberias genannt, unterteilt ist. Eine klare Grenzziehung kennen die Evangelien nicht. Physikalisch sind seine Grenzen aber durch die Jesreel-Ebene im Süden, den Nahr-el-Kasimije im Norden, das Mittelmeer im Westen und den Jordangraben im Osten gezogen. Zur Zeit Jesu umfasst das herodianische Galiläa ca. 1400 bis 1600 m2 und hat von Ost-West, Nord-Süd einen Durchmesser von je ca. 40 km (Vgl. Bösen, 1990, 28-31).

Josephus Flavius (Bel III, 3,2f.) beschreibt Galiläa als fruchtbares Land, das sich durch eine gute geologische wie klimatische Lage auszeichnet, so dass kein Teil brach liegt. Galiläa kennt zwei scharf getrennte Jahreszeiten: trockene Sommer und regenreiche Winter. Es gibt Weizen im Überfluss genauso wie Oliven und auch Weinbau, wenn auch nicht so üppig wie Getreide und Oliven.

Um die Zeitenwende ist Galiläa dicht besiedelt. Sepphoris und Kafarnaum sind die beiden bedeutendsten Städte. Während Kafarnaum auch im Leben Jesu eine Rolle spielt, ist die Residenz des Herodes Antipas, obwohl strategisch höchst bedeutsam (zwei Handelsstraßen führen an ihr vorbei: die Via Maris und die Querverbindung vom See Gennesaret nach Ptmolemais = Akko), für die Evangelien uninteressant. Politisch, religiös und geographisch markiert Galiläa die Peripherie. Es spielt so gut wie keine Rolle für das politische und religiöse Machtzentrum in Jerusalem und liegt auch geographisch von den Palästen des Herodes und dem Tempel weit entfernt. Für Jesus selbst aber gehören Nazaret und vor allem der See neben ganz Galiläa zu den wichtigsten geographischen Haftpunkten seines Lebens. Von Galiläa nach Jerusalem zu ziehen, von der Peripherie ins Zentrum, von der tief gelegenen Landschaft zum hochgelegenen Jerusalem ist nicht nur eine geographische Aussage, sondern ein theologisches Programm: die Botschaft Jesu ist eine, die die Menschen am Rand in die Mitte holt und die Peripherie zum theologischen Erkenntnisort erklärt. Das wird in der Einzelanalyse der markantesten galiläischen Orte immer wieder mit je eigenen Nuancen deutlich werden.

1.1. Nazaret vs. Betlehem – Garantinnen des wahren Menschseins Jesu

Nazaret, das Dorf im galiläischen Bergland, ist fest mit Jesus verbunden und Jesus mit ihm. Elfmal wird Nazaret in den Evangelien erwähnt, und zwar immer im Zusammenhang mit Jesus. Insgesamt zwanzigmal kommen Wortverbindungen vor wie z.B., dass Jesus als einer aus Nazaret beschrieben wird (z.B. Lk 1,16;Lk 2,4.39.51 u.a.), als Nazarener betitelt wird (v.a. bei Mk 1,19, siehe auch Lk 4,34;Lk 24,19), oder als Jesus der Nazarener (nur Mk und Lk) oder Nazoräer (siehe auch Apg sechsmal) auftritt (Bösen, 1990, 110-117). Vergegenwärtigt man sich, dass weder die biblischen noch die paganen Schriften der vorchristlichen Zeit Nazaret erwähnen (auch nicht die Verteilungslisten in Jos 13-21), dann wird deutlich, dass die Verbindung Jesu mit Nazaret nicht primär eine theologische, sondern eine historische ist. Jesus und seine Familie kommen aus Nazaret. Theologisch wird so mehreres ausgesagt:

Nazaret ist zur Zeit Jesu eine unbedeutende kleine Stadt bzw. ein Dorf. Die großen Handelsstraßen ziehen an Nazaret vorbei, der Tempel in Jerusalem und damit das religiöse Zentrum liegen weit entfernt, der galiläische Dialekt, der in Nazaret gesprochen wird, ist in anderen Gegenden verpönt, die Dekapolis mit ihrer heidnischen, unbeliebten Bevölkerung ist nicht weit entfernt und taucht Nazaret ebenso ins Zwielicht. In Nazaret geboren und aufgewachsen zu sein, bedeutet, dass nicht das Zentrum, sondern die Peripherie, nicht der Königspalast in Jerusalem, sondern eine unbedeutende Wohnhöhle wie sie um die Zeitenwende üblich war, Jesu Geschichte bestimmen. Nazaret wird theologisch gesehen zum Inbegriff dafür, dass nicht erst das Vorzügliche, Außergewöhnliche, Elitäre – ob in gesellschaftlicher, kultureller oder religiöser Hinsicht – gut genug ist, um Ort Gottes zu sein, sondern das Kleine, Marginale, das Verborgene und Unbedeutende Gottes Weisen sind, sich zu zeigen und gefunden zu werden.

Die Verwiesenheit Jesu auf Nazaret zeigt aber noch etwas Anderes. Als historisch wahrscheinlicherer Geburtsort konkurriert es mit dem theologisch aufgeladenen Betlehem. Mindestens für die matthäische und lukanische Gemeinde (also ab 80 n. Chr.) ist es unmöglich geworden, sich vorzustellen, dass nicht die Davidsstadt Betlehem, sondern das unbedeutende Nazaret Geburtsort Jesu gewesen sein soll. Für die judenchristliche Gemeinde des Mt muss der Messias dem Stamm Davids angehören und dort geboren werden, wo ihn die Verheißungen lokalisieren (Mi 5,1.3), also in Betlehem. Lk übernimmt diese inzwischen verfestigte Tradition und entwirft in der Verkündigungs- und Geburtserzählung (Lk 1-2) ein umfassendes theologisches Programm, um zu zeigen, dass der mächtige Augustus, der den ganzen Erdkreis aufruft, sich in Steuerlisten einzutragen, letztlich vom kleinen Kind in Betlehem übertroffen werden wird (Schambeck, 2017, 176-180). So sehr also die Kindheitserzählungen von Mt und Lk Betlehem als Geburtsort hervorheben und Nazaret damit lediglich zugestehen, Herkunfts- und Wohnort der Familie Jesu zu sein, so sind biblisch sowohl Betlehem als auch Nazaret Garantinnen des wahren Menschseins Jesu. Mit den Hinweisen, an einem bestimmten Ort geboren worden zu sein, in einer lokalisierbaren Gegend aufgewachsen und einer bestimmten dörflichen Gemeinschaft erzogen worden zu sein, wird der Gottessohn nicht als leibloser Geist, sondern als fleischgewordener Mensch gezeichnet. Nazaret und auch Betlehem unterstreichen je auf ihre Weise die Inkarnation und was es mit ihr auf sich hat.

Sich mit Nazaret zu beschäftigen, heißt damit auch für heute, sich bewusst zu werden, dass diese Welt und unsere Geschichte, und mögen sich noch so abseitig und alltäglich sein, Orte sind, an denen sich Gott zu erkennen und erfahren gibt.

1.2. Kafarnaum – Anfang und Scheitern

Kafarnaum ist trotz Jesu Herkunftsort Nazaret „seine Stadt“ (idia polis) (vgl. zum Folgenden: Bösen, 1990, 75-97). Nach dem Mk-Ev wirkt Jesus in Kafarnaum seine ersten Wunder (Mk 1,21-28; 1,29-31; 1,32-34). Auch spätere Wundererzählungen wie die Heilung des Knechtes des Hauptmanns (Mt 8,5-13 par Lk) oder die Berufungserzählung des Levi sind dort verortet (Mk 2,13-17). Nach Kafarnaum kehrt Jesus immer wieder zurück (vgl. Mk 2,1; 3,21; 6,3; 9,33; Mt 8,5; 9,1; 17,24; Joh 2,12), und ruht sich im Haus seiner Freunde aus. Die sogenannte Kafarnaumgruppe bildet eine wichtige Konstellation im Zwölferkreis. Simon und Andreas, Jakobus und Johannes gehören dazu. So sehr Kafarnaum einerseits mit Erfahrungen des Rückzugs, Ausruhens und von Geborgenheit verbunden ist, so weist das sogenannte Drohwort aus Mt 11,20-24 (par Lk 10,13-15) deutlich darauf hin, wie sehr Kafarnaum auch für Enttäuschung und das Scheitern Jesu steht. Nach einer Phase der anfänglichen Begeisterung, als noch alle Jesus suchen, weil er Kranke und Besessene heilt, Worte voller Leben spricht und sich als vollmächtiger Prophet zu erkennen gibt (Lk 7,10), kippt die Stimmung. Die Menschen sind irritiert von Jesu Worten und Tun. Sein Umgang mit Zöllnern und Sündern, seine radikale Gesetzeskritik, sein messianischer Anspruch und zugleich die über ihn verbundene Enttäuschung, dass er die wirtschaftlichen und politischen Missstände nicht beseitigt, rufen je länger desto mehr Protest bei den Menschen hervor, und vor allem bei denen, die ihn von klein auf kennen. Er ist ihnen verdächtig, denn: Wer kann mit einem solchen Anspruch auftreten, wenn er doch nur aus einem unbedeutenden Nest kommt wie viele von ihnen auch (vgl. Mk 6,1-6a)? Die Ablehnung Jesu in seiner Heimatstadt erreicht schließlich ein solches Ausmaß, dass er dort keine Wunder mehr wirken kann und weiterzieht (Mk 6,5f.).

Kafarnaum versinnbildet damit die Ambivalenz, die Jesu Wirken begleitet, und markiert zugleich, wie sehr Jesus die Menschen herausfordert, sich selbst zu positionieren. Gerade dies sind auch für heute wichtige Fragen. So sehr Kafarnaum für die Erfahrung steht, dass Gott einer ist, der heilt und rettet, der in Jesus den Menschen nahe gekommen, ja einer von ihnen geworden ist, so wird in Kafarnaum auch deutlich, dass diese Taten und Worte nicht einfach für sich stehen. Sie können sich zwar vor den Augen der Menschen ereignen. Dass die Menschen sie als Zeichen der Zuwendung Gottes begreifen, braucht deren Offenheit und Zustimmung. Das war damals nicht anders als heute. Jesu Botschaft steht nicht einfach für sich, sondern provoziert zu einer eigenen Position.

1.3. Der See – Ort der Berufung und Sendung

Eine besondere Rolle in der Jesusgeschichte spielt der See von Gennesaret, der in den Evangelien einfach auch See heißt oder See von Galiläa oder bei Joh See von Tiberias genannt wird (Joh 6,1;21,1). Der See ist der Ort der Jüngerberufungen (Mk 1,16-20 par), der Sturmstillung (Mk 4,35-41 par), des Seewandels (Mk 6,45-52 par Mt), des reichen Fischfangs (Lk 5,1-11) u.a. (Bösen, 1990, 39-44). Die Landschaft ist noch heute betörend schön und bringt an vielen Stellen ins Staunen. Für Jesus ist der See die Gegend, in der er mit der Berufung der ersten Jünger, seinen ersten Predigten und Wundern sein öffentliches Leben beginnt.

Mk schildert die Jüngerberufung sehr schlicht und eng an das alttestamentliche Berufungsschema angelehnt (Mk 1,16-20). Der See als geographischer Ort mit seiner Weite einerseits und den Ufern andererseits illustriert, was sich im Laufe der Evangelien immer wieder zeigen wird: Die ursprüngliche Enge wird durch Jesus und sein Evangelium zugunsten einer grenzenlosen Weite eingetauscht. Jesus ruft die Menschen weg aus ihren herkömmlichen Berufen und Bestimmungen, von ihren Verortungen im Clan zu neuen, universalen Aufgaben und Gemeinschaften. Nicht mehr als Fischer sollen sie arbeiten, sondern Menschenfischer sollen sie sein (Lk 5,10). Nicht mehr bei ihren Vätern sollen sie in Dienst stehen (Mk 1,20), sondern im Dienst des Reiches Gottes. Nicht mehr in ihren Dörfern sollen sie zu Hause sein, sondern überall.

Zugleich sind die Grenzen, wie sie sich im Ufer geographisch ausgestalten, in den Evangelien Orte, an denen sich Jesus zeigt und an denen Menschen auf ganz neue Wege gestellt werden. Das Ufer ist in den Evangelien Ort der Berufung und Sendung. An den Ufern des Sees von Galiläa beginnt die enge Beziehung der Jünger mit Jesus und an diesem Ufer wird Jesus ihnen nach der Auferstehung nochmals begegnen und sie nochmals neu senden (Joh 21,1-14). Dort, wo das einst Feste so nicht mehr gilt, wo Sicherheiten nicht mehr greifbar sind, da versinkt nicht alles im Nichts, sondern dort dürfen die Jüngerinnen und Jünger mit der Gegenwart Jesu rechnen.

Der See ist aber auch Ort der Predigt Jesu und „Bühne“, um Jesu Vollmacht zu zeigen. Die Stillung des Sturms (Mk 4,35-41 par) unterstreicht nämlich nicht nur Jesu Wundertätigkeit. Diese wurde auch anderen Thaumaturgen zur Zeit Jesu zugestanden. In den literarischen Mitteln der Theophanieerzählungen geschildert, macht diese Erzählung darüber hinaus deutlich, dass Jesus in Vollmacht handelt. Diese aber kommt nur Gott zu. Dies wird den Hörerinnen und Hörern und Leserinnen und Leserinnen des Evangeliums nicht in deklaratorischer Rede klargemacht, sondern über die Naturbilder veranschaulicht: Die Gewalt und Mächtigkeit, die allen in der stürmischen See vor Augen gestellt wird, wird zum szenischen Bild für Jesu Macht. Anders als die Naturgewalten ist sie aber keine zerstörerische. Jesu Macht erweist sich darin, die Mächtigkeiten zu bändigen – der Natur genauso wie die unter den Menschen –, und zwar mit dem Gegenteil von Gewalt: der Wind legte sich, und es trat völlige Stille ein (Mk 4,39).

Sich mit dem See von Gennesaret zu beschäftigen, heißt von daher, auch für heute nachzufragen, was Berufung und Sendung heißen, was es bedeutet, dass Gott nicht eine abstrakte Masse, sondern den konkreten Menschen beruft und wie sich dies im eigenen Leben zeigen kann. Der See stellt aber auch vor Augen, dass Enge und Weite, Grenze und Zusage der Gegenwart Gottes, Macht und Gewalt, die nicht zerstören, sondern aufrichten, Spannungsverhältnisse markieren, die Jesus, seine Botschaft und sich in die Nachfolge Jesu zu stellen, begleiten. Damit veranschaulicht der See in sehr sinnenfälliger Weise, dass die Nähe zu Jesus nicht einfach nur beruhigt, sondern auch herausfordert.

1.4. Galiläa insgesamt – Das Tor zur Welt

Galiläa ist Ort für Jesu Anfänge und im Matthäusevangelium Ort der Himmelfahrt Jesu (Mt 28,16-20). Dies ist im theologischen Programm des nachträglichen Mt-Schlusses nicht zufällig: Der Redaktor des Mt-Ev, das für Judenchristinnen und Judenchristen geschrieben ist, markiert allein durch die Wahl der Topographie, dass Jesu Botschaft nicht auf Israel – verstanden als Volk Israel und als geographischer Ort – beschränkt bleibt. Der Auferstandene sendet die Jüngerinnen und Jünger von Galiläa vielmehr zu allen Völkern und in die ganze Welt hinaus. Galiläa, das von Jerusalem her an der Peripherie gelegen ist, wird aus der neuen Perspektive des Auferstandenen zum Tor zur Welt. Die Nähe zu den Heiden der Dekapolis, die einst auch Galiläa anrüchig machte, wird nun zum Gunsterweis. Galiläa ist dadurch prädestiniert, die Sendung über Israel hinaus allen zuteil werden zu lassen. Die Zusage des Auferstanden, die Jüngerinnen und Jünger dabei nicht alleine zu lassen, sondern mit ihnen zu sein, ist nicht nur den Damaligen gesagt, sondern jeder und jedem, der sich auf Jesus einlässt.

2. Der Jordan – Topographischer Exkurs und theologisches Vorzeichen

Die Synoptiker, allen voran das Lk-Ev, schildern Johannes den Täufer als bedeutsame Figur für Jesus bzw. als dessen Vorläufer. Sie alle überliefern die Taufe Jesu durch Johannes im Jordan (vgl. Mk 1,1-8 par). Wo die Taufstelle genau lag, ist umstritten. Historisch am wahrscheinlichsten ist die vom heutigen Jordanien aus zugängliche Gegend am Zufluss des Jordan ins Tote Meer. Im theologischen Programm der Evangelien fungiert die Taufe Jesu im Jordan wie ein topographischer Exkurs und zugleich als theologisches Vorzeichen. Jesus zieht von Galiläa durch das ganze Land, um sich am anderen Ende Palästinas taufen zu lassen. So wichtig Galiläa als „Findungsregion“ für Jesus ist, so machen die Evangelien durch Jesu Exkurs an den Jordan von Anfang an klar, dass seine Botschaft und Sendung nicht auf Galiläa begrenzt bleibt. Was Jesus zu sagen hat und was er ist, geht vielmehr ganz Israel an und wird – wie sich im Laufe der Evangelien zeigen wird – sogar über Israel noch hinausgehen und auch die anderen Völker und Nationen einbeziehen.

Mit der Figur des Johannes und auch mit der Taufe in der südlichen Jordangegend schwingt noch ein zweiter theologischer Aspekt mit: Johannes der Täufer scheint mit seiner Predigt im Dunstkreis Qumrans und damit der Essener einzuordnen zu sein. D.h., dass deren strenge Auslegung der Tora, deren Tempel- und Aristokratiekritik über Johannes den Täufer auch an Jesus herangetragen worden ist. So sehr diese asketische Ausrichtung in den Beginn des öffentlichen Auftretens Jesu hineinspielte, so sehr setzen die Evangelien die Figur Jesu von Nazaret und seine Botschaft von Anfang an aber auch davon ab (Theißen, 2001, 138). Lk vollzieht dies mittels des Überbietungsschemas: Was an Johannes dem Täufer geschieht, wird in Jesus nochmals übertroffen (Lk 1-2). Mk und Mt verdeutlichen gleich zu Beginn, dass Jesus der „geliebte Sohn“ und Auserwählte ist, demgegenüber Johannes in den Hintergrund tritt (Mt 11,11f.). Predigt Johannes der Täufer die Umkehr als Voraussetzung für das Kommen des Reiches Gottes (Mt 3,2), so dreht Jesus Imperativ und Indikativ der Heilszusage genau um: Zuerst sagt Jesus die Fülle der Zeit und die Nähe des Reiches Gottes zu, und erst die Konsequenz daraus ist, umzudenken und sich ganz auf diesen Gott einzulassen (Mk 1,15). Damit ist auch das theologische Vorzeichen formuliert, das die gesamte Jesusgeschichte der Evangelien bestimmt. Nicht die eigene (religiöse oder moralische) Leistung, nicht die Furcht oder eine Haltung, sich das Leben zu versagen, sind Lebensstile, um das Reich Gottes herbeizusehnen und herbeizuholen. Die Frohe Botschaft Jesu besteht vielmehr darin, dass die Initiative der Zuwendung zum Menschen von Gott ausgeht. Er ist es, der den Menschen sucht und ihm nahekommen will. Die Reaktion auf solch ein Geschenk kann nun nichts anderes sein, als diese Zuwendung zu erwidern und im eigenen Leben Gestalt annehmen zu lassen. Sich mit der Taufe Jesu im Jordan und durch Johannes den Täufer zu beschäftigen, kann genau diese theologischen Aspekte aufdecken helfen.

3. Unterwegs von Galiläa nach Jerusalem – Der Alltag findet im Dazwischen statt

Kann man Galiläa als Topos verstehen, an dem Jesus seine ersten öffentlichen Schritte setzt und sich seines Auftrags gewiss wird, so markiert Jerusalem den Ort der Erfüllung. Dazwischen aber liegt der Alltag, und der macht bekanntlich den größten Teil des Lebens aus – so auch beim Jesus der Evangelien. Unterwegs von Galiläa nach Jerusalem – bei den Synoptikern beschreitet Jesus nur einmal diesen Weg, bei Joh insgesamt viermal (Gnilka, 1993, 273f.) – verkündet Jesus das Evangelium, heilt Kranke, treibt Dämonen aus, sammelt weitere Jüngerinnen und Jünger und verleiht dem Reich Gottes immer mehr Gestalt.

Auf der Passage von Galiläa nach Jerusalem sollen im Folgenden exemplarisch drei Topoi näher beschrieben werden: Die nördliche Scheitelseite des Sees, und besonders der Ort der Brotvermehrung (Siebenquell = Tabgha), Caesarea Philippi am Hermon und die Dekapolis, in der Jesus viele Wunder wirkte.

3.1. Der Ort der Brotvermehrung

In den Evangelien ohne Ortsnamen versehen, sondern lediglich als Ort in einer einsamen Gegend beschrieben (Mk 6,31 par), wird die Tradition der Brotvermehrung schon in frühchristlicher Zeit mit Tabgha verbunden. Dafür spricht, dass dort bereits im 4. Jh. eine archäologisch nachweisbare Kirche errichtet und im 5. Jh. nochmals vergrößert und verschönert wurde (Hirschberg, 2014), die unter dem Altar ein altes Mosaik aufweist, das die zentralen Symbole der Brotvermehrung darstellt – Brot und Fisch.

Die Speisung der Fünftausend (Mk 6,30-44 par) und dann der Viertausend (Mk 8,1-10 par) geschieht in der Dramaturgie der Evangelien unterwegs und am See. Hatte Jesus in den Gleichnissen schon mit Wortbildern geschildert, wie das Reich Gottes ist, so gehören die Brotvermehrungserzählungen zu seinen (Wunder-)Taten, die unterstreichen, dass das Reich Gottes schon jetzt Wirklichkeit wird. So wie die Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen machen die Brotvermehrungserzählungen deutlich, dass Jesus nicht nur gute Worte spricht, sondern dass sein Wort auch sättigt, erleben lässt, wie überreich Gott beschenkt und die Menschen anstiftet, auch selbst zu teilen. Gerade diese doppelte Deutungsperspektive markiert die Herausforderung der Brotvermehrungserzählungen für heute: zu hoffen, dass Gott nicht nur abstrakt und allgemein verstanden ein Wirkender ist, sondern einer, der den Menschen aus seiner Not rettet; und darin zugleich den Anstoß zu sehen, alles zu tun, was in der eigenen Macht steht, damit Menschen nicht mehr hungern müssen.

3.2. Caesarea Philippi – Geographischer und theologischer Wendepunkt

Mk wählt für sein Evangelium Caesarea Philippi als geographischen und theologischen Wendepunkt. Bis dorthin wechseln sich Rede- und Tatberichte ab. In Mk 8,27-30 fragt Jesus die Jünger, für wen sie ihn halten. Und Petrus legt das Messiasbekenntnis ab, das erst der Hauptmann unter dem Kreuz, als Personifikation aller Heiden, wiederholen wird (Mk 15,39) (Schambeck, 2017, 223.226-228).

Was sich vorher in der Verkündigung, den Jüngerberufungen und den Wundertaten Jesu gezeigt hat, nämlich dass er der → Christus, der Sohn Gottes ist (Mk 1,1), das kulminiert in Mk 8,27-30 im ersten expliziten Messiasbekenntnis. Von dort aus wird es sich in den weiteren Kapiteln des Mk-Ev entfalten und in der Passion und → Auferstehung Jesu nochmals eine neue Ausdeutung finden. Caesarea Philippi, das neben Tyros den nördlichsten Punkt im Bewegungsradius des Jesus der Evangelien darstellt, wird so auch zum theologischen Wendepunkt. Der noch nicht offenbare Jesus wird je länger desto mehr als Gottes Sohn von den Menschen erkannt.

3.3. Die Dekapolis – Region vieler Wunder

Der Zehn-Städte-Bund im Südosten Galiläas galt als heidnisches Gebiet und wird in den Evangelien als Gegend vieler Wundertaten Jesu erwähnt. Die Heilung des Besessenen in Gerasa (Mk 5,1-20) bzw. der beiden in Gadara (Mt 8,28-34) gehören zu den bekanntesten. Anders als in seiner Heimat Kafarnaum kann er hier Wunder tun. Die Menschen in der Dekapolis sind offen genug, sich auf Jesu Botschaft einzulassen und ihm auch Unmögliches zuzutrauen. Damit brechen die Evangelien die Zuordnung, dass der Bund Gottes nur Israel gehört auf und weiten die Verheißung – durch Israel und bleibend an Israel gebunden – über Israel hinaus. Botschaft und Wirken Jesu gehören nun allen – unabhängig von Religionszugehörigkeit, Geschlecht oder Nationalität. Die Dekapolis ist die geographische Erinnerung dafür.

4. Wüste und (Tabor-)Berge – Extreme als Orte Gottes

Sind Galiläa einerseits und Jerusalem andererseits die Orte, zwischen denen sich das Schicksal Jesu aufspannt, so markieren die Wüste und die (Tabor-)Berge so etwas wie die Extreme darin.

Mk, der auf eine Kindheitserzählung verzichtet, beginnt sein Evangelium damit, nach der Taufe am Jordan den Aufenthalt Jesu in der Wüste zu schildern (Mk 1,12f.). Wie die anderen Synoptiker auch, verbindet er damit die Versuchungserzählung Jesu (Mt 4,1-11;Lk 4,1-13). Die Wüste aber ist nicht nur geographisch, sondern auch biblisch ein Extremort. In der Wüste kommt der Mensch an seine Grenze und das heißt biblisch, dass er an Gott rührt. Die Wüste steht damit für die ganze Ambivalenz der Beziehung Gott – Mensch. Die Erfahrung totaler Abhängigkeit und Verwiesenheit, von ungekannter Schönheit und abgrundtiefer Lebenswidrigkeit sind nicht nur geographische, sondern auch theologische Konnotationen.

Indem Mk und die Synoptiker Jesus in der Wüste zeichnen, rufen sie mit diesem Topos auch die alttestamentlichen Erfahrungen auf, die Israel und seine Propheten in der Wüste gemacht haben: Hier spielt die Begegnung des Mose mit JHWH im Dornbusch (Ex 3,1-14) genauso eine Rolle wie die Wanderung des Volkes durch die lebensbedrohliche Wüste nach dem Auszug aus Ägypten (Ex-Dtn) oder die Erfahrungen anderer Propheten Israels, allen voran des Elija (1 Kön 19, 4-8). Die Wüste steht für absolute Gottferne genauso wie für die innerste und alle Worte sprengende Erfahrung der Nähe Gottes (1 Kön 19, 4-8). Und genau in diese Ambivalenz stellen die Evangelisten auch Jesus hinein und formulieren damit den Kern der Versuchungserzählungen. Dass Jesus die Wüste besteht, heißt für sie, dass nicht die Gottesdistanz, sondern die Gottesnähe Jesu Gottesverhältnis ausmacht.

Am Kreuz werden die Evangelisten die Wüstenerfahrung Jesu nochmals auf die Spitze treiben. Auch dort geht es um die Frage, ob letztlich die Gottabwesenheit oder die Gottesgegenwart Jesu Verhältnis zum Vater ausmacht. Dass Gott seine Nähe nicht jenseits von Wüste, Sterben und Tod zeigt, sondern auch in ihnen, mag das Erstaunliche und für das christliche Gottesbekenntnis bleibende sein. Wüste und Kreuz werden so in den Evangelien zu Topoi, die sich gegenseitig interpretieren.

Ähnliche Extremorte sind in den Evangelien die Berge: Jesus zieht sich auf den Berg zurück, um zu beten (Mk 6,46). Am Tabor im Süden Galiläas wird landläufig die Verklärungserzählung angesiedelt (Mk 9,2-10 par), teils jedoch auch auf dem Berg Hermon (Pixner, 1992, 97f.). Die Seligpreisungen und die gesamte Bergpredigt lokalisiert Mt auf einem Berg (Mt 5-7). Und, wie oben schon deutlich wurde, findet dort nach Mt auch die Himmelfahrt Jesu statt (Mt 28,16-20). Der Berg wird damit – wie die Wüste – zum Extremort der Nähe Gottes. Er steht mit seiner geographischen Exponiertheit für die Distanz zum Alltäglichen weit unten und für die Nähe zum Herausgehobenen, Göttlichen oben. Das ist aber biblisch gesehen nicht alles. Jesu Verkündigung und Tun auf (Tabor-)Bergen zu lokalisieren, weckt die biblischen Bezüge aus dem AT als Verstehenshorizont. Das von Jesus in der matthäischen Bergpredigt gesetzte „Ich aber sage euch“ ruft über die Szenerie des Berges den alten Bund auf dem Sinai in Erinnerung. Die Gesetzestafeln, die für den Bund Gottes mit Israel stehen, werden hier im neuen Bund auf ein neues Fundament gestellt: Die Taborerfahrung der Jünger mit Jesus wird einerseits mit der Erfahrung des Mose auf dem Sinai interpretiert (Ex 34,6-8) und andererseits auf den Berg von Golgatha verwiesen. Ähnlich wie die Wüste wird damit auch der Berg nicht nur zum topographischen Ort, sondern zur theologischen Aussage. Er illustriert Jesu Gottverbundenheit und markiert, wie Jesu Wort zur neuen, lebendigen Tora wird – jetzt nicht mehr nur für Israel, sondern für alle Menschen.

Gerade für heute geben diese geographischen Extremorte der Wüste und der Berge zu verstehen, dass die Beziehung zu Gott nicht einfach auf der Hand liegt. Sie kennt Höhen und Tiefen, muss errungen und gesucht werden und bleibt zugleich geschenkt.

5. Jerusalem – Der Ort, an dem alles kulminiert: Ende und neuer Anfang

So viel Platz insbesondere die synoptischen Evangelien dem Wirken Jesu in Galiläa zugestehen, so bleibt Jerusalem der Ort, an dem alles auf die Spitze getrieben und wie in einem Brennglas verdichtet wird. Die Synoptiker kennen, wie schon erwähnt, nur einen Weg (des erwachsenen) Jesus von Galiläa nach Jerusalem und gestalten damit die theologische Aussage aus, dass sich das Schicksal eines Propheten in Jerusalem entscheidet. Nach dem Joh-Ev ist Jesus insgesamt viermal nach und in Jerusalem unterwegs, und dies vor allem wegen des Tempels.

Aus den vielen theologischen Aspekten, die mit dem Topos Jerusalem verbunden sind, sollen deshalb im Folgenden nur zwei herausgearbeitet werden: Jerusalem ist der Ort des Tempels und damit als religiöses und politisches Zentrum Israels für Jesus und seine Botschaft bedeutsam. Und: Jerusalem ist der Ort, an dem die Propheten sterben, und damit auch das Schicksal Jesu in seiner Passion besiegelt wird, und der durch die Auferstehungstraditionen völlig neu ausgedeutet werden wird.

5.1. Jerusalem und der Tempel – Das religiöse und politische Zentrum Israels

Der Tempel ist schon seit dem ersten Tempelbau das religiöse Zentrum Israels. Auch wenn wir heute wissen, dass der Opferkult nach der Zerstörung des ersten Tempels im Jahr 587/86 v. Chr. weiterging, wenn auch in einem reduzierten Umfang, wird der Tempel nach dem Wiederaufbau und seiner Vollendung am 1. April 515 (vgl. Bieberstein, 2016, 66f.) zum Kult- und Opferort Israels schlechthin. Zur Zeit Jesu ist er nicht nur das, sondern auch machtpolitische Zentrale und intellektueller Kultur-Ort, an dem sich Pharisäer, Schriftgelehrte und Sadduzäer theologische Wettkämpfe um die angemessene Auslegung der Gesetze lieferten. Jesus opponiert scharf gegen beides: die Ritualisierung des Tempels durch den Opferkult und die Deutungshoheit über das Gesetz, die Pharisäer, Schriftgelehrte und Sadduzäer für sich in Anspruch nehmen.

Die Erzählung der sogenannten Tempelreinigung in Joh 2,13-22 ist so etwas wie die narrative Ausgestaltung der tempelkritischen Haltung Jesu, die alle Evangelien durchzieht. Nicht der Tempel, nicht der Kult, nicht das Opfer oder die Einhaltung ritueller Vorschriften sind der Inbegriff der Tora. Die Tora ist vielmehr Weg zu Gott und alles – auch der Tempel – als Ort, die Tora auszulegen und Gott seine Gaben zurückzugeben, hat sich dem unterzuordnen. Jesus rückt damit wieder zurecht, was die Vergesetzlichung und Absolutsetzung des Tempels als Begegnungsort Gottes mit dem Menschen aus dem Gleichgewicht gebracht hat. Jesus greift damit eine alttestamentliche Tradition der Tempelkritik auf, die sich in den letzten Versen des Propheten Sacharjas auf besonders dichte Weise ausdrückt (Sach 14,21). Dort werden sogar die Tiere der Besatzungsmacht, nämlich die Pferde, mit den Schellen, die den Hohepriestern vorbehalten sind, geschmückt sein. Alles Gerät, das vordem für den Tempelkult notwendig war, wird jetzt zu normalem Hausrat, in dem gekocht und aus dem gegessen wird. Die Grenze von Profanum und Sakralem, für den der Tempel steht, gilt nicht mehr. Genausowenig wie die Ritualisierung und der Kult alleiniger, automatischer und ausschließlicher Weg der Gottbegegnung bleibt. Wenn Gott kommt, dann braucht es all dies nicht mehr. Und genau dies – so können die AT-kundigen Hörerinnen und Hörer von Joh 2,13-22 verstehen – ereignet sich jetzt in Jesus.

Sich mit dem Tempel und den Tempelworten in den Evangelien auseinanderzusetzen hilft, gerade diese Aspekte der Frohen Botschaft Jesu zu vergegenwärtigen.

5.2. Jerusalem – Ort der Passion und Haftpunkt der Auferstehungstraditionen

Die Tempelkritik, die mit dem Topos Jerusalem verbunden ist, ist letztlich das Hauptmotiv für die Gegnerschaft der Pharisäer zu Jesus, die – historisch gesehen –, zur Kreuzigung Jesu führte. Christologisch gedeutet, ist Jerusalem damit beides: Haftpunkt für die nun nicht mehr auf den Tempel konzentrierte Begegnung Gottes mit dem Menschen sowie Ort der Passion und der Auferstehungstraditionen.

Die Dramaturgie des Mk-Ev ist ganz von dieser Hinordnung des Weges Jesu auf Jerusalem bestimmt, wo die Propheten ihr vorherbestimmtes Schicksal erleiden und umkommen werden (vgl. auch Lk 13,33). In Jerusalem spielt sich deshalb auch die Passion, angefangen vom Pesachmahl über den Ölberg, den Verrat, das Verhör und die Verleugnung bis zur Verurteilung und Kreuzigung Jesu ab. Auch wenn die Stätten der Passion, wie sie heute aufgesucht werden, erst ab dem 4. Jh. n. Chr. erwähnt werden und damit als christliche Traditionsbildungen gelten müssen (Bieberstein, 2016, 89f.), so ist die Passion Jesu in Jerusalem insgesamt als historisch sicher anzunehmen. Das religiöse Zentrum Israels wird für Jesus zum Ort des Scheiterns, Sterbens und Todes. Wo Gott sich ein Haus gebaut und mitten unter den Menschen Wohnung genommen hat, hat der Menschensohn keinen Ort mehr. Dieser Widerspruch bleibt Jerusalem eingezeichnet. Jerusalem ist nicht nur der heiligste Ort Israels – und später auch der Christinnen und Christen und Musliminnen und Muslimen –, sondern Inbegriff des Tiefpunktes Jesu. Dabei bleibt es aber nicht. An Jerusalem sind auch wichtige Auferstehungstraditionen angeheftet: Die Begegnung der Marien mit den Engeln am Grab (Mt 28 par), die johanneischen Auferstehungserzählungen vom Lauf der beiden Jünger (Joh 20,2-10), die Begegnung Maria Magdalenas mit dem Auferstandenen im Garten (Joh 20,1.11-18), die Beauftragung der Jünger (Joh 20,19-23), die Begegnung Jesu mit Thomas (Joh 20,24-29) u.a. In und an Jerusalem wird also deutlich, dass der Tod nicht das letzte Wort über Jesus hat, sondern Gott einen ungekannten Anfang schafft. Tod und Auferstehung kommen sich topographisch nirgendwo so nah, wie in Jerusalem.

6. Rom und darüber hinaus – Zur Universalität und Entgrenzung der Sendung

Spannen die Evangelien topographisch und auch theologisch einen Bogen von Galiläa nach Jerusalem, entwerfen die Erzählungen der Urgemeinde, wie sie in der Briefliteratur und vor allem der Apg tradiert sind, einen Bogen von Jerusalem nach Rom und darüber hinaus.

Ist Jerusalem das religiöse und machtpolitische Zentrum Israels, so ist es für die heidnische Welt Rom. Indem die Jüngerinnen und Jünger, und allen voran Paulus das Verkündigungsgebiet immer weiter ausdehnen und schließlich bis zur Zentrale in Rom kommen, wird deutlich, dass die Botschaft Jesu weder auf eine Volksgruppe, noch eine Kultur, noch Israel begrenzt bleibt. Die Botschaft Jesu ist universal und die Sendung grenzenlos. Die Schreiben an die Gemeinde in Rom (Röm) und die Reisen der Jünger nach Rom illustrieren dies beredt. Nicht mehr nur Israel, sondern die heidnische Welt und alles jenseits dieser – also jenseits von Rom (Apg) – wird zum Topos des Evangeliums. Damit aber zeigt sich, dass nicht mehr nur bestimmte Orte, sondern im Grunde die ganze Welt auch mit ihren hintersten Winkeln fähig ist, Gott zu finden.

So hat sich nunmehr exemplarisch gezeigt und konkretisiert, was dem Artikel bereits vorausgestellt wurde: Die Topographie des NT zu erkunden, ist damit nicht nur geographische oder kulturell-interessierte Neigung. Sie kann zur Weise werden, Theologie anders, ungewohnt vielleicht, aber nicht weniger ertragreich zu betreiben.

Literaturverzeichnis

  • Bieberstein, Klaus, Art. Jerusalem, in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2016 (Zugriffsdatum 20.06.2018).
  • Bösen, Willibald, Galiläa als Lebensraum und Wirkungsfeld Jesu, Freiburg i. Br. 2. Aufl. 1990.
  • Dohmen, Christoph, Orte der Bibel. Geschichten, Entdeckungen, Deutungen, Stuttgart 1998.
  • Gnilka, Joachim, Jesus von Nazaret. Botschaft und Geschichte, Freiburg i. Br. 6. Aufl. 1993.
  • Hirschberg, Peter, Art. Heilige Stätten, in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2014 (Zugriffsdatum 20.06.2018).
  • Pixner, Bargil, Mit Jesus durch Galiläa nach dem fünften Evangelium, Rosh Pina 1992.
  • Schambeck, Mirjam, Biblische Facetten. 20 Schlüsseltexte für Schule und Gemeinde, Ostfildern 2017.
  • Theißen, Gerd, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 3. Aufl. 2001.

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