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Subjektivität

(erstellt: Februar 2021)

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1. Zum Wortfeld

1.1. Begriffliche Abgrenzungen

Subjektivität bezeichnet das Bewusstsein und die Perspektive des je einzelnen Menschen, also die Erlebens- und Deutungsseite des Subjekts bzw. die mit dieser Sicht verbundenen Implikationen und Beschreibungen. Zu diesem Bewusstsein lassen sich Zuschreibungen wie Wünschen, Wollen, Bedürfnis, Wissen, Entscheiden, Planen und andere Qualitäten rechnen, die zu einer Selbsttransparenz des Ich führen und es in die Lage versetzen, sich selbst als Entwicklungsvorgang oder in der Außenperspektive wahrzunehmen. Der Begriff hat eine Nähe zu dem weniger gebräuchlichen der „Individualität“ (→ Individuum/Individualität), ferner zu Identität, Ich, Selbst, Person, Subjekt.

Subjektivität ist vor allem durch ein persönliches (Selbst)Bewusstsein konstituiert, welches Handeln, Denken, sozialen Kontext und die eigene Lebenserfahrung umfasst. Zu letzterer gehören frühkindliches Gehaltensein (D.W. Winnicott), Prägungen durch die Familienkonstellation, Erfahrungen der Fülle und/oder der Traumatisierung und Selbstwirksamkeitserwartungen. Erschlossen wird dieser Bereich durch die (Tiefen)Psychologie, deren Erkenntnisse man zu Recht als die größte geistige Innovation des 20. Jahrhunderts bezeichnet hat (Peter Sloterdijk). Sie prägt heute unser Alltagsverstehen und unsere Sprache, indem sie Aussagen und Handlungen nicht als bloße Fakten wahrnimmt, sondern die zu Grunde liegenden Motive mitbedenkt und indiziert damit eine gesteigerte Bedeutung der Subjektivität im Lauf der Moderne.

Das Adjektiv subjektiv hat daher eine größere Nähe zum Begriff Subjektivität als zum Subjekt, ebenso wie eine subjektorientierte Religionspädagogik, die die Subjektivität des Einzelmenschen als grundlegend für lebendige Religiosität ebenso wie der Religionsweitergabe versteht (siehe 5.)

Die Wortgeschichte des Begriffs → Subjekt (lat. subjicere: unterwerfen) beginnt mit Zuschreibungen, die heute für das Objekt verwendet werden: es ist den Bedingungen der Wirklichkeit und des Schicksals unter-worfen. Der Wechsel vom passiven zum aktiven Verständnis erfolgt in der Aufklärung. Seither ist das Subjekt das autonom und aktiv handelnde, planende und Zukunft wie Handlungsmöglichkeiten antizipierende. Subjekt wird in Anlehnung an das Objekt auch abwertend gebraucht („ein verdächtiges Subjekt“). Generell aber ist es durch die Fähigkeit bestimmt, (kritische) Distanz zur Welt, zu den Dingen und zum Geist herzustellen, daher auch zur Religion.

Im Zusammenhang mit dieser Verschiebung wird Ende des 18. Jahrhunderts auch der Begriff Subjektivität gebräuchlich. Erstmals taucht er in Reaktionen auf die Erkenntnistheorie Kants auf und bezeichnet zunächst die persönlich eigenständige Erkenntnisweise, die aus dem Bewusstsein eines Ich hervorgeht.

1.2. Problematik

Subjektivität ist ein deutlich polarisierender Begriff. Oft gilt sie als Beliebigkeit. Der dafür angemessene Begriff wäre allerdings der Subjektivismus, der polemisch gegen die rein persönlich bleibende, nicht überprüfbare und verallgemeinerbare „Meinung“ und deren vorurteilsbehaftete Beschränktheit oder Voreingenommenheit verwendet wird. Alle ernsthaften menschlichen Erfahrungen und Fragen aber gehören in den Bereich der Subjektivität, und sie sind in dieser Perspektive gerade nicht beliebig, sondern existenziell bedeutsam. Subjektivität kann daher ebenso als Ausdruck von Narzissmus verstanden werden wie als dessen Gegenüber: als erkenntnistheoretische wie existenzielle Unverzichtbarkeit und als Anspruch auf eigenes Leben.

Die Problematik zeigt sich idealtypisch bereits darin, dass selbst der um radikale Objektivität bemühte Philosoph Kant dem Vorwurf des Subjektivismus (vor allem durch Hegel) nicht entging (siehe 2.). Seiner Vorstellung, Erkenntnis sei die Leistung einer vorgängig isolierbaren Ich-Vernunft, wird heute von Hirnforschung und Neurobiologie klar widersprochen: Erkenntnisvorgänge sind konstitutiv an körperliche Sinne ebenso wie an entschlüsselbare Außenreize gebunden. Hegel hat daher die Bedingungen faktischen Erkennens an der Geschichte dargestellt, und Heidegger und die Phänomenologie beschreiben Erkenntnisse als Räume, in denen sich Subjekte immer schon bewegen. Erkenntnisse gehen eher von Dingen und Szenen aus, als dass sie subjektiv konstruiert sind.

Die Subjektivität allen Erlebens und Beschreibens ist bis in die Quantentheorie hinein belegbar; Objektivität daher immer nur als abstraktes Ideal denkbar. Die Subjektivität ist in Form der Fähigkeit zur Empathie auch Voraussetzung aller Moral, denn die scheinbare Objektivität allgemeiner Regeln gibt keine Motivation für Verhalten ab. Von Subjektivität ausgehend muss dann allerdings die (eher philosophietheoretische) Frage beantwortet werden, wie Verallgemeinerungen herstellbar und Beliebigkeiten zu vermeiden sind.

Dem Recht der Subjektivität steht heute eine massiv durch objektive Strukturen geprägte Welt gegenüber: Naturwissenschaften, Verwaltungsbürokratie, Technik, Rechtswesen, politische Normen und (theoretische) Ethik beruhen auf verallgemeinerbaren Standards, die eine scheinbar ubiquitäre objektive Gültigkeit suggerieren, und deren meist technische Umsetzbarkeit fasziniert. Dass die Abstraktheit dieser Strukturen Subjektivität tendenziell ausklammert und alle Lebensfragen zur Sache des Einzelnen macht, lässt fragen, wie der Mensch in diesen Strukturen eigentlich vorkommt. Faktisch ordnet er sich dem „stahlharten Gehäuse“ (Max Weber) der modernen Arbeits- und Alltagsroutinen immer weiter unter. Daher nehmen Sinnlosigkeitserfahrung und seelische Erschöpfung (Leeregefühl, Motivationsmangel, Depression, Burnout, etc.) immer weiter zu.

Die Spannung zeigt sich auch im heute durchgehend erhobenen Anspruch persönlicher Autonomie (Freiheit, Selbstverwirklichung, Selbstentfaltung), einer Universalisierung und einer faktischen Vermassung der Menschen; oder im Verweis auf das fragmentiert-unabgeschlossene moderne Ich als „ein schwankendes Bauwerk, das wir aus Fetzen, Dogmen, Kindheitsverletzungen, Zeitungsartikeln, Zufallsbemerkungen, alten Filmen, kleinen Siegen, Menschen, die wir hassen, und Menschen, die wir lieben, zusammensetzen“ (Rushdie, 12). Wenn Mathematik vielen heute als die schlechthin universelle Sprache gilt, ist nicht gesehen, dass menschliche Erfahrungen, Bedürfnisse und Sehnsüchte von ihr nicht einmal berührt sind. Die Dominanz objektiver Strukturen macht Menschen offensichtlich kalkulierbar, austauschbar und schwach und überlässt sie in ihren Grundbedürfnissen immer mehr sich selbst.

2. Religiöse Bedeutung

Für Religion ist Subjektivität von zentraler Bedeutung, in ihr aber auch hart umstritten. Einerseits nämlich ist alle lebendige Religion Inspiration, alle Weitergabe von Religion aber auf Fixierungen durch Tradition, Mythos und Ritual angewiesen. Religion neigt aus nahe liegenden Gründen zum Bewahren des Heiligen, der großen Inspirationen und Deutungsideen. Daraus ergibt sich ein konservativer Grundzug aller religiösen Kultur. Religion selbst aber verhält sich gerade da, wo sie echt und tief ist, höchst kritisch zu den bewahrenden religiösen Formen.

Insofern können die Propheten als Wahrer religiöser Subjektivität gelten. Der Satz „Liebe will ich, nicht Opfer“ (Hos 6,6; Mt 9,13) stellt Jesus in die prophetische Tradition und ließe sich als sein Lebensmotto angeben. Jesu Verhalten und Reden ist radikale Individualisierung der alttestamentlichen Tradition, die Übertragung der Beziehung zwischen Volk Israel und Gott auf den je einzelnen Menschen. Darin ist Jesus ein durchgreifender Sachwalter religiöser Subjektivität. Sätze wie „Dein Glaube hat dir geholfen“, „Was willst du, dass ich dir tue“ zeigen eine situationsbezogene Subjektivität und setzen sich über die Beachtung von scheinbar objektiv gültigen Vorschriften oder Geboten klar hinweg. Jesus befolgt keine religiösen Praxisvorschriften (Waschungen, Reinigungen, lange Gebete), Tempel und Träger heiliger Ämter kritisiert er z. T. scharf, sakrale Regeln werden konkreten menschlichen Erfordernissen unterstellt („Der Sabbat ist um des Menschen willen da, nicht umgekehrt“; Mk 2, 27). Dieser vehement religionskritische Zug schlägt sich in der christlich-religiösen Kultur praktisch nirgendwo nieder. Er führt zu einer Dauerspannung zwischen traditionsbewahrender religiöser Kultur einerseits und deren Infragestellung durch Propheten, Reformer und Ketzer andererseits. Aus dieser Spannung resultiert freilich die große Lebendigkeit der christlichen Geschichte.

Vor allem der Protestantismus hat dieses Erbe bewahrt. G.W.F. Hegel hat die Lutherschen Grundprinzipien des sola fide und des sola scriptura als die Subjektivität des Protestantismus verstanden. F.Ch. Baur hat das „protestantische Princip der Subjectivität“ als „Freiheit und Autonomie des Subjekts“ gedeutet. Genau dafür hat er heftige Polemik erfahren: man warf ihm „Selbstvergötterung“ des Subjekts vor. Auf katholischer Seite war es ebenfalls der Subjektivismus, der als Angriffsfläche für Polemik genutzt und als Frömmelei, Selbstverliebtheit, haltlose Innerlichkeit usw. kritisiert wurde. Dass das Christentum seit seiner „Verkirchlichung“ (F.X. Kaufmann) im 19. Jahrhundert sich zunehmend auf juristische und Bekenntnis-Tradition fokussiert, das subjektivitätswahrende prophetische Element aber immer mehr eliminiert, dürfte einen gewichtigen Grund für seinen derzeit dramatischen Bedeutungsverlust abgeben.

Gegen den Subjektivismus wurden und werden vermeintlich übergeordnete Größen wie Nation, Volk oder Rasse, naturwissenschaftliche Objektivität oder normative religiöse Wahrheit aufgerufen, die erkennbar den Menschen mit seinen existenziellen Fragen allein lassen. Aber auch die faktisch an Großkonzernen orientierten Strategien der neoliberalen Reichtumssicherung stehen längst und zunehmend unter dem begründeten Verdacht der Unmenschlichkeit. Sie lassen die religiöse Grundfrage nach der Verbundenheit (re-ligio) des Menschen auch und gerade unter modernen Verhältnissen als unbeantwortet erscheinen.

3. Ideengeschichtliche Hintergründe

3.1 Von der Antike zur Neuzeit

Im antiken Begriff θεωρία (theōría) ist die Beschreibung der Wirklichkeit mit subjektiven Erfahrensweisen eng verbunden. Spätestens Platon allerdings unterscheidet λόγος (lógos) und (minderwertige) Materie, zu der die Sinne rechnen. Mit der paulinischen Unterscheidung zwischen Geist (πνεῦμα/pneũma) und Fleisch und der Augustinischen Disqualifizierung der Sinnlichkeit als Sünde wird diese Trennung auch für das Christentum grundlegend. Seit der Neuzeit treten Subjektivität und Objektivität immer mehr auseinander. Die Renaissance entdeckt die Perspektivik subjektiver Sichtweisen, die Reformation die Selbstverantwortung des Menschen vor Gott im Gegenüber zur scheinbar objektiv wahren kirchlichen Vermittlungsorganisation. Die radikale Trennung einer objektiv-materiellen und einer subjektiv-geistigen Realität nimmt Descartes vor (res extensa, res cogitans). Ebenso unterscheidet Kant im Menschen die (allein edle) Vernunft und die (minderwertig-störende) Sinnlichkeit (Neigung). Hegel polemisiert zwar gegen den „gesunden Menschenverstand“, macht aber gegenüber dem „bloßen Subjektivismus“ der Kantischen Erkenntnistheorie die Einbettung des Subjektiven in den geschichtlichen Weltzusammenhang zum tragenden Grund seines Denkens.

Dass man „den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst suchen“ müsse (Kant, 283), kann – wie es vorwiegend geschah – ebenso als objektiv-allgemeines Kriterium aller Wirklichkeitserkenntnis aufgefasst werden wie als Unhintergehbarkeit der Subjektivität aller Erkenntnis. Kants Erkenntnisphilosophie ist insofern reiner Subjektivismus, als die Kategorien des Erkennens, die es formen und begrenzen, in der Vernunft selbst angelegt sind. Welche eigentlich absurde Konsequenz diese Auffassung einer abgeschlossenen Subjektivität hat, zeigt sich darin, dass nach Kant keine echte Erkenntnis der Wirklichkeit möglich ist (das „Ding an sich“ ist „ewig unerkennbar“), die Wirklichkeit außerhalb des Subjektiven somit als irreal erscheint. Heidegger hat als den „Skandal der Philosophie“ nicht diese Grenzziehung, sondern deren Kantische Behauptung bezeichnet.

3.2 Nach der Aufklärung

Die Erkenntnisphilosophie Kants wird dann im Widerspruch auf ihre Grundannahmen produktiv. Schiller denkt den Menschen als Vernunft- und als Sinnenwesen; eine Abwertung der (sinnlichen) Neigung zugunsten der Erkenntnisvernunft ist ebenso unsinnig wie unmenschlich. W. v. Humboldt erkennt, dass die Subjektivität des Menschen durch Sprache nicht nur bedingt, sondern auch konstituiert ist. Dabei sind Worte weder durch den Menschen erfunden, noch durch die Dinge gegeben, sondern sie sind Ergebnisse einer Wechselbeziehung, eines durch die Dinge im Menschen erzeugten „Bildes“. Für Humboldt sind auch naturwissenschaftliche Erkenntnisse durch die Anregung von Subjektivität erzeugt. Und ganz vergleichbar plädiert der Bruder Alexander v. Humboldt dafür, die Wiedergabe einer Landschaft so weit wie möglich durch subjektive Schilderung zu erzeugen, weil nur so im Anderen ein realistisches Bild für das Geschilderte entstehen könne. Es sind also nicht objektive, abstrakte Daten, die der menschlichen Kommunikation zu Grunde liegen, sondern subjektiv gefärbte Eindrücke. Gerade sie sind allgemein verständlich.

Für das Verstehen der Religion hoch bedeutsam, aber wenig bekannt sind die Versuche Schellings, im Überbegriff des „Lebens“ Autonomie und Bestimmtsein zusammenzudenken. An diese Idee schließt die moderne Resonanztheorie von H. Rosa an (Rosa, 2006). Schelling deutet die Natur selbst als Subjekt. Damit gibt er der Erfahrung Ausdruck, dass nur das als wirklich erscheint, was eine Wirkung auf ein Subjekt hat, was also eine wirkende Quelle haben muss. Hier ist der moderne philosophische Gedanke vorgebahnt, dass Realität als ein komplexes In-Sein gedacht werden muss. Das sprachlich und logisch so plausibel scheinende Gegenüber von Objektivität und Subjektivität ist eine metaphysische Setzung, die für scheinbare Klarheit im Denken sorgt, die Lebensrealität aber gerade verfehlt.

Die Romantik formuliert mit der Einsicht in Schicksalsabhängigkeit, Liebessehnsucht und Heimatbedürfnis einen vehementen Widerspruch gegen die scheinbar objektiv agierende Aufklärungsvernunft. Schleiermacher hat diese Einsichten in epochal bedeutsamer Weise für das Verstehen der Religion fruchtbar gemacht (siehe 4.).

Auch Kierkegaard sieht sehr genau, wie das moderne erkenntnistheoretische und naturwissenschaftliche Objektivitätsideal Subjektivität zunehmend eliminiert. Er versucht daher, durch Ironie und Polemik die existenziellen Grundfragen auch gegen theologisch-dogmatische und fromme Objektivierungen zu verteidigen. Nietzsche, der eine ähnliche, aus tiefer Religiosität heraus begründete Polemik gegen ein bürgerlich-hohles Christentum unternimmt, versucht dem von ihm vehement kritisierten abendländischen Trend zum rationalen Begriff und zum körperlosen Geist durch die künstlerische, leidenschaftliche und rauschhafte Vereinigung mit dem Lust- und Schmerzgrund der Wirklichkeit zu begegnen. Kunst und Religion sind „die wahren Helferinnen“ des Menschen.

3.3 Das 20. Jahrhundert

Ähnlich versucht Heidegger, Subjektivität gerade nicht kantisch als Selbstbestimmung oder aktiven Wirklichkeitszugriff, sondern im Gegenteil als Einfallstor der „Seinsverfassung des Daseins“ und deren „vorgängiger Erschlossenheit“ zu deuten. Die Beziehungskonstellation des Menschen zu den Dingen ist primär vor jeder objektivierenden Erkenntnis.

Damit werden die Einflussbedingungen des Subjektiven zum konstituierenden Prinzip einer modernen Philosophie, die im Gefolge Nietzsches zunehmend um Perspektivik, Situationsabhängigkeit und Unverrechenbarkeit kreist; und zwar gerade nicht so, dass die Subjektivität als bestimmend gedeutet wird, sondern als ununterschreitbare Weise vielfach abhängigen In-der-Welt-Seins. Das grundiert das philosophische Denken von Adornos Kulturphilosophie über Cassirers symbolischen Weltbezug, Günter Schmitz´ Phänomenologie, Gadamers Philosophie der Traditions- und Spracheinbettung bis hin zum kommunikationstheoretischen Denken von Habermas und zur Du-Philosophie von Buber und Lévinas. Freuds berühmtes Diktum, der Mensch sei nicht (einmal) „Herr im eigenen Haus“, das auf die massive Bestimmung eines Selbst durch unbewusste Prägungen und Konstellationen anspielt, wird richtungsweisend. Der Andere, das unstillbare Begehren und das Imaginäre spielen nach Jaques Lacan in allem Verstehen eine nicht eliminierbare Rolle – sie verweisen aber zugleich auf die Unhintergehbarkeit des Subjektiven. Auch wenn der Strukturalismus und die Rede vom „Tod des Subjekts“ eine andere Richtung andeuten, hat sich inzwischen ein ausgleichendes und plausibles Verständnis von Subjektivität als dynamisches Ergebnis eines Beziehungsgeschehens etabliert (Säuglingsforschung, Kommunikationstheorie, Tiefenpsychologie und -therapie u.a.).

4. Religiöse Subjektivität

In der Religion kehrt die philosophisch beschriebene Problematik auf ganzer Linie wieder. Riten, Mythen, heilige Schriften, religiöses Personal, Sakralgebäude, heilige Feste, religiöse Lehren und so weiter versuchen religiöse Inspirationsimpulse festzuhalten und zu transportieren, fixieren und verhärten diese aber immer auch. Lebendige Religion ist ohne Subjektivität nicht denkbar.

Idealtypischen Niederschlag hat die Polemik gegen die religiöse Subjektivität in der Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts gefunden, die diese als Willkürlichkeit verstand. „Der“ christliche Glaube wird hier als überzeitlich gültige Wahrheit gesehen, der gegenüber alles Subjektive nur Abweichung, Unwahrheit und Zufälligkeit sein kann. Auch die sog. Dialektische Theologie K. Barths benutzte den Begriff Subjektivität im Sinne glaubensfremden Ungehorsams gegen Gott.

Heute zeigt sich soziologisch ein starker Zug zur Subjektivität in der Religion und eine massive Abwendung von objektiver Religionsform, insbesondere von als zeitlos wahr verstandener Heiliger Schrift, Bekenntnisform und Dogmatik. Dabei lässt sich die lange durchgehaltene Ausklammerung des Subjektiven in Bekenntnis, Dogma (→ Dogmatik) und Glaubenswahrheit gerade als Grund für den dramatischen Bedeutungsverlust von Christentum, Kirche und Religion überhaupt in einer Zeit angeben, die sich zunehmend an scheinbar objektiver, naturwissenschaftlich gedeuteter Realität orientiert, dabei aber die Sprache für die großen menschlichen Themen immer mehr verliert. Die Abwendung von Religion hinterlässt daher oft ein Gefühl der Trauer oder der Leere.

Nachgerade erinnern muss man daher an die grundlegende Subjektivität der Theologie der → Reformation, die einzig die Heilige Schrift als verlässlichen Bezugspunkt beibehielt. Gerade diese vermeintliche Objektivität lässt sich heute allerdings als Grundproblem protestantischer Lehrauffassung angeben.

Schleiermachers Subjektivierung der Religion und mit ihr der gesamten Theologie relativiert auch diesen Bezugspunkt. Religion ist Gefühl, als solches nicht objektivierbar. Nicht Schrift, Dogma und Bekenntnis, sondern das religiöse Erleben ist Ausgangs- und Kernpunkt des religiösen Lebens. „Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern der, welcher keiner bedarf, und wohl selbst eine machen könnte“ (Schleiermacher 1799, 122). Jesus ist nicht der metaphysisch verstandene Himmels-Christus, sondern zeichnet sich durch die „Stetigkeit seines Gottesbewusstseins“ aus, d. h. durch sein durchgehendes Vertrauen in die Nähe Gottes, aus der all sein Handeln und Reden entspringt. Religiöses Erleben artikuliert sich in symbolischer Darstellung und poetischer Mitteilung und führt so in die Kommunikation der religiösen Gemeinschaft. Diese zentriert sich im Gottesdienst um den „Austausch religiöser Erregung“. Dieses modern hoch plausible Verständnis des Christlichen hat sich in einer an scheinbar objektiv gültiger Wahrheit orientierten christlichen Frömmigkeit ebenso wenig durchsetzen können wie in den Kirchenleitungen.

Existenziell bedeutsame → Erfahrung, mithin Subjektivität, ist Grund und Ursache aller religiösen Traditionsbildung. Wo die religiöse Kultur dieser keinen Platz gibt, verharrt sie in überholten Formen. So ist z. B. die Scham im Sinne Sartres ein religionsaffines und heute verbreitetes Phänomen, das in einer traditionell auf die juristische Verarbeitung von Schuld (→ Sünde/Schuld) geeichten Tradition (→ Erlösung, Gerechtigkeit Gottes, → Gericht, Sühnetod [→ Heilstod Jesu], Sündenschuld, etc.) keinen Platz hat. So fehlt die symbolische Darstellung und mit ihr die religiöse Deutung.

F. Steffensky hat von einem „Subjektivitätszwang“ gesprochen und dafür plädiert, die Glaubens-Tradition um ihrer selbst und ihrer Schönheit willen gelten zu lassen und als Erbe zu übernehmen. Man kann sie nicht selbst ausprobieren und herstellen, sondern muss sie übernehmen und in ihr wohnen können. Das ist ein plausibler Gedanke für die, die in der religiösen Tradition leben. Für viele Agnostiker dürfte dieser Weg aber nicht mehr gangbar sein. Anzunehmen ist dagegen, dass in der Funktionalisierung, Berechnung, Quantifizierung der modernen Lebenswelt umgekehrt gerade ein tiefer Grund für den Bedeutungsverlust der Religion liegt. Religion fehlt, wird aber gar nicht mehr verstanden.

5. Subjektorientierte Religionspädagogik

Die neuerdings vor allem in Lehrplänen beschworenen religiösen „Kompetenzen“ machen den Eindruck objektiver Ergebnisse und Daten, die sich zu einem an Subjektivität orientierten Religionsverständnis mindestens sperrig verhalten.

Daher wird in der Religionspädagogik inzwischen vielfach Subjektorientierung angemahnt, bisweilen vorausgesetzt und oft auch bereits als Unverzichtbarkeit eingeschätzt. In der Praxis dominiert freilich die Vermittlung vorgegebener (oft biblischer) Stoffe und lebensweltlicher Themen (→ Lebenswelt) und Problemstellungen, da sie didaktisch schlicht einfacher zu strukturieren sind.

Echte Subjektorientierung führt ein deutlich verändertes Verständnis nicht nur von der Bedeutung der Subjekte im Lernprozess, sondern auch von Religion und religiöser Tradition mit sich. Sie geht aus vom massiven Bedeutungsverlust der christlichen Religion, von verbreiteten Vorurteilen und religiösem Analphabetismus und macht die durchgehende Individualisierung mitsamt ihren problematischen Seiten zur Grundlage der religiösen Didaktik. Nicht Wissensstoff, nicht Kompetenzen und nicht ein bekenntnisgeleiteter Glaube sind ihr Ausgangspunkt. Thema des religiösen Lernens sind die Lernenden selbst, und zwar mit ihren existenziellen Fragen und Erfahrungen.

Das ist von der Einsicht geleitet: Die religiöse Tradition ist Niederschlag und Medium existenzieller Erfahrung, die religiös gedeutet wurde. Tradition ist also nicht die Sache selbst, sondern deren Medium. Sie stiftet eher dazu an, eigene Erfahrungen zu symbolisieren, Tradition also fortzuschreiben und sich selbst dadurch als „potentiell religiös“ (Gundula Rosenow) zu verstehen. Die Symbolisierung eigener → Erfahrung durch → Erzählen, künstlerische oder spielerische Darstellung u.a. lässt allererst einen Sinn für Religion entstehen, der heute nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Er führt notwendig in die Kommunikation, in der dann der Rückbezug auf religiöse Tradition seinen Platz hat. Hier kommt es erfahrungsgemäß zu der oft erstaunten Feststellung, dass die alten Geschichten „ja mit mir zu tun“ haben. Daher ist die genaue Kenntnis der Tradition Sache der religiösen Profis, nicht der religiös Lernenden.

An der religiösen Tradition selbst kann durchaus (inhaltlich oder performativ) Religion gelernt werden – unter Bedingungen fortgeschrittener Individualisierung allerdings vor allem dort, wo die Tradition subjektorientiert aufgeschlossen wird. Damit ist deutlich mehr als „Erfahrungsbezug“ gemeint, nämlich ein Ausgehen von den in den Traditionen bewahrten Erfahrungen. Diese werden zum konkreten Lern- und Unterrichtsthema gemacht. Religion insgesamt erscheint so als ein kulturell sichtbarer Deutungszusammenhang von Erfahrungen und Fragen, die tief menschlich sind und unmittelbar einleuchten.

Literaturverzeichnis

  • Korsch, Dietrich, Art. „Subjektivismus“ in: Religion in Geschichte und Gegenwart 4. Aufl. Bd. 6.
  • Kunstmann, Joachim, Subjektorientierte Religionspädagogik. Plädoyer für eine zeitgemäße religiöse Bildung, Stuttgart 2019.
  • Rosa, Hartmut, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Frankfurt 2. Aufl. 2006.
  • Rosenow, Gundula, Individuelles Symbolisieren. Zugänge zu Religion im Kontext von Konfessionslosigkeit, Leipzig 2016.
  • Taylor, Charles, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a. M. 2009.
  • Rushdie, Salman, Imaginary Homelands. Essays and Criticism, London 1991.
  • Schleiermacher, Friedrich D. E., Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, 1799.

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