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Subjektivierung

(erstellt: Februar 2022)

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1. Problematisierung des Begriffs

Subjektivierung ist ein vor allem in Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften verwendeter Begriff, der seit einigen Jahren Konjunktur hat. Subjekt- und Selbstkonzepte, als solche konstitutiv für die Verfasstheit moderner Gesellschaften (→ Gesellschaft), sind Gegenstand zahlreicher Publikationen und Forschungsprojekte. Dabei werden Begriffe wie → Subjekt, → Subjektivität, Identität oder → Individualität vor allem unter den Vorzeichen von Selbstentfaltung, Selbstmanagement oder Selbstoptimierung neu diskutiert, aber auch in Hinblick auf Diversität (→ Diversity), Achtsamkeit und → Inklusion.

Vor allem zwei Begriffsverwendungen sind für die hier diskutierten Argumentationszusammenhänge von Subjektivierung zu unterscheiden, obgleich sie inhaltlich ineinander spielen: Zum einen ein methodischer Ansatz, der Subjektivierung als historisch veränderbaren und situativ immer wieder neu konstituierten Prozess von Selbstsorge oder Selbst-Bildung versteht. Zum anderen wird Subjektivierung sehr standardisiert und oft ohne nähere Charakterisierung gebraucht, um Tendenzen neoliberaler, individualisierender Subjektivierung der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit zu kritisieren. Gemeinsam ist beiden Begriffen ihre Verortung im poststrukturalistischen Dekonstruktivismus, das heißt, dass sie von der historischen und sozio-kulturellen Bedingtheit des Subjekts ausgehen und, anders als die cartesianisch-kantianische Subjektphilosophie, nicht nach einem rationalen oder metaphysischen Wesenskern des Subjekts (→ Subjekt) fragen. Hingegen sind Theorien der Subjektivierung an der Genese von Subjekten interessiert, das heißt, an den sozialen und historischen Faktoren und Bedingungen, die den Einzelnen zu einem gesellschaftlich akzeptierten und handlungsfähigen Subjekt machen. Es geht bei der Betrachtung von Subjektivierung darum, nach den Diskursen und Praktiken der Anrufung und Adressierung zu fragen, mit denen Subjekte geformt werden und mit denen sie sich selbst in ständigen Prozessen des Einübens, Aneignens, Mitspielens und Einpassens zu Subjekten machen.

2. Subjektivierung als Selbstsorge

Subjektivierung lässt sich als Prozess der praktisch vollzogenen Selbstsorge oder Selbst-Bildung begreifen, der sich im Wechselspiel von Selbst- und Fremdregierung vollzieht. In der Sorge um sich, so der begriffsprägende französische Philosoph Michel Foucault, formiert sich das Selbst als sozial handlungsfähiges → Subjekt, das situations- und ortsadäquat angemessen agiert.

Zum Subjekt macht sich der oder die Einzelne durch, wie Foucault es nennt, „Technologien des Selbst“, die „es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner [→] Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, daß er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt.“ (Foucault, 1982a/2005, 968). In den Blick geraten damit alltägliche Praktiken somatischen wie psychischen Bedenkens und Einübens der Arbeit an sich selbst, die in Konzepten von Spiritualität, Askese, Lebensführung oder körperlicher Disziplinierung, aber auch sozialer Anpassung oder beruflicher Tätigkeit institutionalisiert sind. Das Subjekt konstituiert sich im Hinblick auf seine gesellschaftliche Akzeptanz und in der Aneignung hegemonialer Subjektordnungen. In seiner Selbstsorge weist das Subjekt aber auch Fähigkeiten zur Variation und Abweichung auf. In den Praktiken von Subjektivierung, wie der Aneignung einer Subjektform, dem Erfüllen von Anforderungen oder dem Scheitern an sozialen Erwartungen, verändern sich Dispositionen des Subjekts und bringen neue Spielarten von Subjektivierung hervor. Foucault bringt diese immanente Variation von Subjektivierung in seinem Text „Subjekt und Macht“ von 1982 auf den Punkt: „Das Wort ‚Subjekt‘ hat zwei Bedeutungen: Es bezeichnet das Subjekt, das der Herrschaft eines anderen unterworfen ist und in seiner Abhängigkeit steht; und es bezeichnet das Subjekt, das durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist.“ (Foucault, 1982b/2005, 275). Selbstsorge als Beziehung des Subjekts zu sich selbst und zu anderen ist demnach nicht sozial oder kulturell determiniert, sondern wandelbar innerhalb situativer und struktureller Verflechtungen.

Wichtige Impulsgeber für die Betrachtung von Subjektivierung sind feministische Theorien sowie politische Identitätskonzepte der Postcolonial Studies, die sichtbar machen, dass Subjektivierungsprozesse intersektional (→ Intersektionalität) verschränkt ablaufen. Für feministische Subjekttheorien sind die Arbeiten der US-amerikanischen Philosophin Judith Butler einschlägige Referenz. Butler sieht in den vermeintlich biologischen Tatsachen von Geschlecht und Körperlichkeit Effekte performativer Praktiken, die körperlich-materiale Subjekthaftigkeit erst hervorbringen (Butler, 1991). Das biologische Geschlecht (Sex), das soziale Geschlecht (Gender) sowie das sexuelle Begehren (Desire) sind Elemente einer über signifikante Zeichen vermittelten hegemonialen Matrix einer heterosexuellen Geschlechterordnung, anhand derer Körper als kulturell lebensfähig klassifiziert werden. Individuen abseits dieser Ordnung werden allgemein nicht als intelligible Subjekte betrachtet. Ihre Identifizierung scheitert innerhalb der hegemonialen Regelsysteme, eröffnet aber unter Umständen den Blick für produktive Verwirrungen der Geschlechter, aber auch die definitorischen Grenzen dessen, was oder wer als Subjekt gelten darf.

Butler greift mit ihren Überlegungen zu Geschlechtsidentitäten Theorien über politische Identitätskonzepte der Postcolonial Studies teilweise auf und entwickelt sie weiter. Die Postcolonial Studies sind vor allem für Fragen der politischen Anerkennung von Subjekten von Interesse, das heißt, ob und inwiefern Subalterne in kolonialen Kontexten als Subjekte gelten und nicht zuletzt, welche Rolle → Rassismus, genauer: die Differenz zwischen weißer und schwarzer Hautfarbe, dabei spielt (Hall, 1994).

Derart perspektiviert sind Subjektivierungsprozesse und darauf basierende Subjektmodelle in „allen möglichen Lebensbereichen“ (Alkemeyer, 2013, 43), das heißt Ökonomie, Politik, Militär, Technologie, Kultur, Kunst oder in den Wissenschaften, intersektional verschränkt und sozial differenziert zu beobachten.

Im Zentrum von Subjektanalysen stehen gleichwohl vielfach somatische und psychische Techniken und Anforderungen an Selbstgestaltung und Selbstverbesserung. Subjektivierung vollzieht sich demnach in der Modellierung gesunder und leistungsfähiger Körper in differenten gesellschaftlichen Anforderungsbereichen (Arbeit, Sport, Militär, Reproduktion etc.), die Körper- und Bewegungspraktiken (Konkurrenz, Spiel, Kooperation und andere) an gesellschaftlich adressierten Subjektidealen ausrichten und sie weiter normalisieren und veralltäglichen (Villa, 2008). Somatische Subjektanforderungen sind zudem eng verknüpft mit Gesundheitspolitiken und den ihnen innewohnenden Subjektivierungsappellen, die Grenzziehungen zwischen Subjekten festlegen, die aufgrund von Alter, Untüchtigkeit oder Infektiösität als gesund oder krank, erwünscht oder unerwünscht gelten, sowie den gesellschaftlichen Umgang mit diesen Subjekten. Auch Ernährung und körperliche Fitness sind als Faktoren von Subjektivierung zu lesen und werden zunehmend, so die sozial- und kulturwissenschaftlich einmütige Deutung, im Dienst einer gesundheitlichen Selbstsorge gestellt, durch die das körperliche Selbst nicht mehr nur in Krankheit kuratiert, sondern präventiv optimiert wird (Lengwiler/Madarász, 2010).

Die „Technologien des Selbst“, wie sie Foucault benennt (Foucault, 1982a/2005), legen mentale und psychische Prozeduren der Selbstsorge unmittelbar nahe. Thema der Forschungen zu Subjektivierungen sind denn auch vielfach therapeutische und psychologische Expertendiskurse und ihre populären Ableger, die Anforderungskataloge sozial akzeptierter und gelungener Seelenführung moderner Gesellschaften formulieren (Elberfeld, 2020). Insbesondere die seit den 1970er Jahren deutlich expandierenden Therapie- und Beratungsmärkte hätten epistemische Brüche in allgemein wirksamen Subjektkonzeptionen und Subjektivierungsweisen mit sich gebracht (Tändler, 2016). Die kulturelle und politische Bedeutung der 68er-Bewegung unterstreichend, wird die soziale Trägerschicht neuartiger Therapeutisierungs- und Psychologisierungsdiskurse vor allem im linksalternativen Milieu und Teilen der Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er Jahre verortet.

Dem ist entgegenzuhalten, dass Subjektivierungspraktiken rationalisierter und disziplinierter Seelenführung freilich älteren Datums sind. Foucaults Augenmerk galt der Selbstsorge der Antike in Form ihrer Sexualethik. Christliche Selbstführungspraktiken wie die mönchische Askese oder Beicht- und Bußpraktiken brachten eigene Formen wachsamer Selbstlenkung hervor. Subjektivierende Glaubenserlebnisse und -rituale sind in der Religionsgeschichte mühelos auszumachen und oftmals konstitutiv für → Religion in institutionalisierter Form. Religiös begründete Gewissenserkundungen, wie sie in der pietistischen Lebensführung in täglicher Bibellektüre, Tagebuchschreiben und (Selbst-)Rechtfertigungsliteratur ausgeformt sind, stellen geradezu idealtypisch Medien von Selbstkontrolle und Selbstsorge bereit (Kittsteiner, 1995).

Ebenso sind in der → Pädagogik als wissenschaftliche Disziplin wie als erzieherisches Verfahren Subjektivierungsprozesse grundlegend und damit spätestens seit dem 18. Jahrhundert nachweisbar. In → Bildung und Erziehung, in ihren normativen Zielen und Methoden sowie ihren Anstalten, Einrichtungen und sozialen Funktionen waren und sind ebenso alltägliche wie für den oder die Einzelne folgenreiche Subjektivierungstechniken wirksam. Die Klassifizierungs- und Prüfungstechniken des pädagogischen Blicks variieren je nach assoziiertem Wertekanon. Ob disziplinierend Gehorsam erwartet wird, leistungsorientierte Optimierung oder expressive Selbstentfaltung – die Erziehungsmacht in ihren mikropolitischen Verästelungen erzeugt, normiert und gestaltet Subjekte und befindet über den Ein- und Ausschluss Einzelner von akzeptierten Subjektformationen.

Subjektivierung als empirisch zu beobachtender Prozess der Selbstsorge und Selbstbildung ist historisch eng mit der Herausbildung moderner Gesellschaften verknüpft. Der Subjektbegriff erhält mit den politischen und sozialen Umbrüchen um 1800 zweifellos qualitativ neue Dimensionen. Gleichwohl sind Konzepte und Genealogien der Selbstsorge historisch älter und die in Philosophie oder Soziologie gängige Gleichsetzung von Subjekt und Moderne als Selbstsicht eben jener modernen Subjekthaftigkeit zu betrachten.

Den dahingehend bekanntesten Versuch eines Überblicks über Subjektkulturen der Moderne wagte sicherlich der Soziologe Andreas Reckwitz (Reckwitz, 2006). Anhand dreier „primärer Subjektivationsorte“ (Arbeit, Beziehungen sowie Mediengebrauch und Konsumtionsgewohnheiten) destilliert er eine Abfolge von drei „hybriden“, das heißt widersprüchlichen und instabilen Subjekttypen westlicher, fordistisch organisierter Gesellschaften heraus: das „moralisch-souveräne Allgemeinsubjekt“ der bürgerlichen Moderne für das 19. Jahrhundert, das „nach-bürgerliche Angestelltensubjekt“ der organisierten Moderne (1920-1970) sowie das „konsumtorische Kreativsubjekt“ der Postmoderne seit 1980 (Reckwitz, 2006, 55;97;275;441). Einflussreich und begriffsprägend für die Debatte um Subjektivierung beschreibt Reckwitz allerdings eher diskursive Ausformungen kultureller Selbstrepräsentationen denn Prozesse von Subjektivierung in ihrer sozialen Genese und ihren konstituierenden Praktiken.

3. Kritik an neoliberaler Subjektivierung

Die Konjunktur des Subjektbegriffs und der Rede von der Subjektivierung geht im Wesentlichen auf soziologische Forschungen zurück, die seit fünfzehn Jahren auch im deutschen Sprachraum die als neoliberal bezeichneten Subjekt-Adressierungen kritisieren. Die einschlägige Literatur besagt im Kern, dass, resultierend aus einer neoliberalen kapitalistischen Wirtschaftsordnung seit den 1980er Jahren zunehmend Anforderungen an Produktivität im Umlauf seien, die auf das einzelne Subjekt und seine Selbstverwirklichung, Flexibilität, Kreativität und Selbstoptimierung zielen. Für den oder die Einzelne unauflöslich und strukturell überfordernd zeige die allgegenwärtige Erwartung von authentischer, nach persönlichem Glück strebender Selbstentfaltung die Kehrseite von Suchtaffinität und psychischer Labilität nach sich. Das postmoderne Selbst sei „erschöpft“ – so der französische Soziologe Alain Ehrenberg (Ehrenberg, 2008).

Derartige Gegenwartsdiagnosen gehen oftmals auf die späten Vorlesungen Foucaults zurück, in denen er den US-amerikanischen Neoliberalismus seiner eigenen Gegenwart der frühen 1980er Jahre und dessen Gouvernementalität qua aktivierender Selbstregierung des Einzelnen analysiert. In diesem Zusammenhang prägt Foucault das Subjektmodell des „Unternehmer[s], und zwar ein[es] Unternehmer seiner selbst“ (Foucault, 1979/2004, 314).

Die Vorlesungen Foucaults wurden zuerst vor allem im angelsächsischen Raum rezipiert und in den sozialkritischen Governmentality Studies seit den 1990er Jahren weiter ausbuchstabiert. Ihnen zufolge verbreiteten sich seit den 1970er Jahren in Westeuropa und den USA neoliberale Regierungstechniken, die subtile politische Interessen über die Selbstermächtigung des Einzelnen verfolgen und auf aktive soziale Selbstlenkung und Selbstermächtigung setzen würden, um ein gesellschaftliches Leitbild der Marktorientierung durchzusetzen. Die einschlägigen Studien decken so unterschiedliche Bereiche wie Sozialpolitik, Medizin, Genetik, Gesundheitspolitik, Stadtplanung, Versicherungssysteme oder Kriminologie ab, in denen sie jeweils ähnliche Muster politischer Einflussnahme feststellen, die Effekte bis auf die Ebene des Einzelnen zeigen, der zum „enterprising subject“ werden solle, wie es die britischen Sozialwissenschaftler Peter Miller und Nikolas Rose in Anlehnung an Foucault formulierten (Miller/Rose, 1995, 430).

Mit einem kleinen Umweg über die Rezeption der angelsächsischen Governmentality Studies hat sich das Kritikmuster an neoliberalen Regierungsformen des Selbst auch in deutschsprachigen Kultur- und Sozialwissenschaften verbreitet. Der Wandel der Sozialpolitik, Umbrüche in den Rahmenbedingungen von Arbeit und Produktion, veränderte Kommunikationsformen der neuen sozialen Medien und nicht zuletzt die Organisation von Fiskal- und Geldpolitiken hätten spätestens seit den 1990er Jahren weitreichend veränderte Subjektivierungsmuster mit sich gebracht. Adressierungen von Mobilität und Flexibilität, von Eigeninitiative und Selbstoptimierungen seien alltäglich geworden, zumindest in Zusammenhängen sozialstaatlicher Aktivierungspolitiken, in medialen Inszenierungen optimierter Körper oder Ratgebern für die eigenverantwortliche „Arbeit am Glück“ (Duttweiler, 2007). Unternehmerische Anrufungen wurden für die deutschsprachige Soziologie von Ulrich Bröckling auf die prägnante Formel des „unternehmerischen Selbst“ gebracht (Bröckling, 2007). In seinem gleichnamigen Buch betrachtet er aktivierende Rationalitäten und Subjektivierungsprogramme vorwiegend in Management- und Coachingdiskursen sowie psychologischer Beratungsliteratur. In den Relationen von ökonomisierenden Wissensregimen und Regierungstechniken (Kreativität, Empowerment, Qualität, Projekt) erkennt er die hegemoniale Subjektivierungsform einer Gegenwart, die stete unternehmerische Selbstmobilisierung zu einem gesellschaftlich allgemein akzeptierten Leitmotiv gemacht hat.

4. Perspektiven für Bildung und Didaktik

Eine für Subjektivierungstheorien sensible Didaktik trifft sich in vielen Punkten in Überlegungen zu einer kritischen Subjektorientierung (→ Subjekt) in Bildungstheorie und → Bildungsforschung. Die Reflexion sozialer und ökonomischer Bedingtheiten von „Bildungssubjekten“ sowie ihrer Verflochtenheit mit alltäglichen Machtstrukturen wie machtasymmetrischen Bildungssituationen verhilft sicher dazu, Bildungsprozesse und pädagogisches Arbeiten sozial offen zu halten. Ebenso sollte der „subjektivierende Blick“ von Pädagoginnen und Pädagogen mit Bedacht den intersektionalen Verschränkungen von Klassismus mit sozio-kulturellen Konstruktionen von → Gender, rassistisch legitimierten Diskriminierungen oder Ableismus gelten. Arbeiten der Bildungssoziologie und Ethnographie über die Herstellung defizitärer „Bildungssubjekte“ im schulischen System wie in medialen Stereotypen zeigen die Mechanismen auf, die in pädagogischer Alltagsarbeit zu problematisieren wären (Wellgraf, 2012).

Antidiskriminierende bildungspolitische (→ Bildungspolitik) Debatten um Inklusion und Diversität, als pädagogische Ideale an → Chancengleichheit, Vielfalt und wertschätzender Anerkennung ausgerichtet, mögen in bester Absicht geführt werden, verdecken dennoch oftmals die ihnen zugrundeliegenden bildungsökonomischen Basisprozesse. Nicht nur dass es sich bei den Begriffen um Schlagworte subjektivierender Vermarktungs- und Wettbewerbsstrategien handeln kann, vor allem aber wird die Responsibilisierung der beteiligten Subjekte nicht mitgedacht, und dies gilt in erster Linie für die lehrenden und erziehenden Subjekte (Pädagoginnen und Pädagogen, Lehrerinnen und Lehrer sowie Erzieherinnen und Erzieher), in deren Selbst-Verantwortung die inklusive und diverse Subjektbildung liegt.

Hinzu kommen Tendenzen der letzten Jahre, Lernen in Bildung und Weiterbildung als selbstgesteuertes Lernen zu begreifen, das heißt der oder die Lernende soll „von Lehrpersonen unabhängiger, selbst bestimmter und selbst verantworteter“ lernen (Wrana, 2006, 2). Wesentliche Instrumente des Selbst-Lernens sind digitale, multimediale Bildungsangebote, die jüngst in Homeschooling oder digitaler Lehre der Hochschulen pandemiebedingt für nahezu alle Bildungsträger zwangsweise zur Realität wurden. Effekte für die Anerkennung von Subjekten in ihrer Lernumgebung, respektive die Nicht-Anerkennung von Subjekten bei Unselbstständigkeit, sind nur im Ansatz erforscht – erst recht für Subjektivierung im virtuellen Raum (Reh, 2013). Auch hier sind es die zugrundeliegenden Ökonomisierungsprozesse, die kritisch zu beobachten sind. Bildung und Lernen via Selbststeuerung zu propagieren, ist in Zeiten eher stagnierender Bildungsbudgets auch als politisches Kalkül zu dechiffrieren, Bildungsinstitutionen und -prozesse kostengünstig zu halten, bei gleichbleibenden oder steigenden Anforderungen an Lehr- und Lernsubjekte. Auf der Hand liegt, dass eine größere Unabhängigkeit des Lernens von Ort und Zeit die Präsenzpflichten jeglicher Art und die damit einhergehenden Kosten reduziert. Aus der Perspektive von Subjektivierungstheorien ist es weitreichender, dass zunehmend verunklart, wer oder was die Bildungsinhalte des selbstgesteuert subjektivierten Lernens verantwortet. Die Kritikpunkte, die mit der Subjektform des „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling, 2007) mittransportiert werden, erscheinen hier besonders relevant hinsichtlich einer pädagogischen Freisetzung von Subjekten im virtuellen Lernraum.

Über pädagogische und bildungswissenschaftliche Normalisierungstechniken werden per se Subjektivierungsprogramme transportiert – ob es die älteren Anrufungen von Leistung, Auslese oder Begabung sind oder jüngere Konzepte wie Kompetenz oder Motivation. Sie waren und sind immer mit den sozio-ökonomischen und kulturellen Kontexten ihrer Zeit verflochten und bilden und erziehen die Subjekte, die gesellschaftlich erwartet werden.

Anlass zu pädagogischem Fatalismus in der Annahme, dem Determinismus sozialer Mächte ausgeliefert sein, besteht subjekttheoretisch jedoch nicht. Eine für Subjektivierung sensibilisierte Selbstsorge kann so gestaltet werden, dass sie zur kritischen Reflexion ihrer jeweiligen Bedingtheiten befähigt und die Faktoren ihrer eigenen Subjektivierung mitdenkt. Es ist denkbar und den Arbeitsaufwand einer kritischen Subjektivierung wert, jeder und jedem ein Wissen davon zu vermitteln, „wie man sein eigenes Leben regieren sollte, um ihm die Gestalt zu geben, die die schönstmögliche sein würde.“ (Foucault, 1984/2005, 828).

Literaturverzeichnis

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  • Butler, Judith, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991.
  • Duttweiler, Stefanie, Sein Glück machen. Arbeit am Glück als neoliberale Regierungstechnologie, Konstanz 2007.
  • Ehrenberg, Alain, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2008.
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  • Tändler, Maik, Das therapeutische Jahrzehnt. Der Psychoboom in den siebziger Jahren, Göttingen 2016.
  • Villa, Paula-Irene (Hg.), Schön normal. Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst, Bielefeld 2008.
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  • Wrana, Daniel, Das Subjekt schreiben. Reflexive Praktiken und Subjektivierung in der Weiterbildung – eine Diskursanalyse, Baltmannsweiler 2006. Online unter: https://www.pedocs.de/frontdoor.php?source_opus=11388, abgerufen am 18.10.2021.

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