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Andere Schreibweise: Subjektorientierung; Subjektwerdung

(erstellt: Februar 2017)

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1. Hinführung

Die Orientierung am Subjekt gilt in der Religionspädagogik als zentrales Prinzip, was in Theorie, Forschung und Praxis nahezu als Konsens gelten kann. Subjektorientierung ist Grundlage der Logik wissenschaftlicher Reflexion und Methodologie ebenso wie der Konzeptualisierung religionspädagogischer Modelle für konkrete Praxisfelder und der Durchführung bestimmter religiöser Bildungsmaßnahmen. Beispielsweise sehen Erzieherinnen und Erzieher das Kind als Maßstab allen (religionspädagogischen) Handelns, in Schule und Religionsunterricht gelten die Schülerinnen und Schüler als Mittelpunkt, analog die Erwachsenen in der (religiösen) Erwachsenenbildung, die konkreten Menschen in Kirchengemeinden und ihrem Umfeld sind Fokus aller katechetischen und gemeindepädagogischen Bemühungen. Damit löst die Subjektorientierung die auf → Katechismus und Lehrsätze fokussierte Inhaltsorientierung ab und beerbt gleichzeitig die Erfahrungsorientierung religionspädagogischen Denkens und Handelns, die seit den späten 1960er- und den 1970er-Jahren wesentliche Teile der Landschaft religiöser Erziehung und Bildung prägen.

„Subjektwerdung fördern“ gilt als „Maxime religionspädagogisch reflektierten Handelns“ (Schröder, 2012a, 232-248). Doch der inzwischen inflationär verwendete Begriff des Subjekts kann nur dann ein religionspädagogischer Leitbegriff bleiben, wenn er in seiner philosophischen, bildungstheoretischen und theologischen Genese reflektiert und die postmoderne Subjektkritik ernstgenommen wird, was im Folgenden angedeutet wird. Danach wird der Begriff in seiner Dialogizität, Intersubjektivität und Beziehungsorientierung konturiert, in seinen praktisch-theologischen bzw. religionspädagogischen Verwendungszusammenhängen kurz dargestellt und schließlich in seiner Konsequenz für Theorie, Forschung und Praxis der Religionspädagogik weiterdiskutiert.

2. Philosophische, bildungstheoretische und theologische Herkunft des Begriffs Subjekt

Die europäische Aufklärung hat das Subjekt als Träger des Bewusstseins und als Ort des Denkens und Wollens entdeckt (Überblick: Schmid, 2010; Bartels, 1999). Auch wenn es Vorläufer eines Subjektdenkens in Antike und Vormoderne gab, die insbesondere mit den Namen Aristoteles, Augustinus und Boethius verbunden sind, leitet die neuzeitliche Prägung des Begriffs eine völlig neue Denktradition ein. Der Sache nach ist Descartes’ Verständnis des menschlichen Geistes als denkende Substanz (res cogitans) der Ausgangspunkt für die Trennung zwischen dem Subjekt, das sich als denkendes Wesen versteht (cogito ergo sum), und der Welt der Objekte. In dieser Tradition setzt Kant neue Akzente, indem er der Aktivität des menschlichen Bewusstseins in dessen Bezug zur Welt höchste Priorität einräumt. Erkenntnis von Welt wird zu einer Aktivität des Subjekts und der Vernunft. Kant jedoch trennt zwischen empirischem und transzendentalem Subjekt. Letzteres reicht über das empirische hinaus und wird zum Ermöglichungsgrund für Erkennen und sittliches Handeln überhaupt. „In beiden Bereichen will Kant deutlich machen, dass eine rationale Herrschaft des Menschen über sich selbst, die Gesellschaft und die Welt möglich ist“ (Bartels, 1999, 1550).

Das abendländische Subjektdenken, das in je eigenem Gepräge etwa durch Fichte und Hegel weiterbuchstabiert wird, erfährt im 19. Jahrhundert durch Feuerbach und Marx eine heftige Kritik, da sie das Subjekt vor allem in seiner Entfremdung wahrnehmen. Friedrich Nietzsche schließlich bezweifelt die Möglichkeit des Subjekts radikal, da die Vernunft nicht mehr als verbindender Faktor fungieren kann. Nietzsche wurde so zum schärfsten Kritiker eines Subjektdenkens, das von einem Subjekt als souveränem Träger des Denkens und der Vernunft ausgeht, womit die Subjektkritik des 20. Jahrhunderts in gewisser Weise vorgezeichnet war.

In bildungstheoretischer Hinsicht ist das Subjektdenken von Beginn an mit dem Begriff der Mündigkeit verbunden. Der Mensch hat nach Kant die Fähigkeit, sich aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit zu befreien und als autonomes Subjekt frei, selbstbestimmt und vernünftig zu denken und zu handeln. Doch das Mündigsein fällt nicht vom Himmel, es muss gelernt werden! Emanzipation und vernunftbetonte Höherbildung sind Ziele der aufklärerischen Pädagogik (Benner/Brüggen, 2010). Bis heute gilt das Primat der Mündigkeit als zentrales Erziehungs- und Bildungsziel bis hinein in Erziehungskonzepte für Kindergarten, Schule und Erwachsenenbildung. Dass es dabei nicht immer um eine naiv-idealistische Konzeption von Autonomie gehen muss, belegt die Aufnahme des Motivs der Mündigkeit in den pädagogischen Schriften Adornos, der sich über die Ambivalenz der Aufklärung – insbesondere angesichts von Auschwitz – keine Illusionen macht (Adorno, 1971).

Dennoch bleibt das Subjektdenken ein Zentralbegriff heutiger Pädagogik und Bildungstheorie (→ Bildung). Das „Handbuch pädagogische Anthropologie“ charakterisiert das Subjekt durch mehrere Konstituenten, die für die Subjekt-Bildung entscheidend sind: Biografie, Erfahrung, Individualität, Identität, Selbstsorge, Reflexivität und Autonomie (Wulf/Zirfas, 2014, 537-608). Entscheidend dabei ist, dass das zur Bildung fähige Subjekt nicht länger in seiner Autonomie und freien Selbstbestimmung gedeutet wird, sondern angesichts konkreter biografischer Verläufe in seiner Verletzlichkeit, Fragmentarität und Fähigkeit zum Scheitern.

Theologisch hat der Subjektbegriff ein besonderes Gepräge, da die Menschen in ihrem Handeln und Entscheiden in die Wirklichkeit Gottes gestellt werden. Die lange Wirkungsgeschichte des theologischen Subjektdenkens reicht von Augustinus („Augustinus war der erste Subjekt-Theologe“: Müller, 2006, 1071) bis in die aktuelle systematische Theologie. Die epochale anthropologische Wende der Theologie wurde in der katholischen Theologie (z.B. bei Karl Rahner; später freiheitstheologisch bei Thomas Pröpper) und in der protestantischen Theologie (z.B. bei Wolfhart Pannenberg) zwar unterschiedlich grundgelegt, das Anliegen des theologisch-anthropologischen Denkens jedoch ist das Gleiche: Der Mensch – und damit das sich in der Gottesbeziehung verstehende und deutende Subjekt – steht im Mittelpunkt der theologischen Reflexion. Beispielsweise nimmt Karl Rahner den von Augustinus her kommenden Subjektgedanken auf, indem er den Menschen als „Hörer des Wortes“ und „Hörer der Botschaft“ (Rahner, 1976, 35-53) kennzeichnet und das Subjektsein des Menschen aus der transzendentalen Verwiesenheit des Menschen auf Gott entfaltet.

Der ebenfalls zugleich philosophische und theologische Begriff der Subjektivität ist mit dem des Subjekts verbunden, verweist aber stärker auf das Selbstbewusstsein des Subjekts, seine Existentialität, Individualität, sein Beisichsein (Metz, 2015).

In religionspädagogischer Hinsicht ist die theologische Aufwertung des Subjekts in den Ansätzen von Friedrich Schleiermacher, John Henry Newman und Johann Baptist Hirscher besonders relevant (Ziebertz, 2000, 29), die je auf ihre sehr divergierende Wiese als Vorläufer einer aktuellen praktischen Theologie des Subjekts gelten können.

3. Die Ambivalenz des Subjekts. Zur modernen und postmodernen Subjektkritik

Die grundsätzliche Ambivalenz des menschlichen Existierens zeigt sich in der Ambivalenz von Ohnmacht und Macht, in der Fähigkeit zum Bösen bis hin zur Vernichtung anderen Lebens, deren singuläre Spitze die Katastrophe von → Auschwitz darstellt (Peukert, 2015, 60;97; Bauman, 2005; Adorno, 1994). Schon zuvor wurde die Ambivalenz des Menschen von Sören Kierkegaard radikal analysiert, später, in literarischer Form etwa von Franz Kafka, in dessen Welt der Mensch durch anonyme Mächte, die über sein Schicksal bestimmen, seines Subjektseins beraubt wird. Der kafkaeske Mensch ist der Ausgelieferte, der „Unterworfene“; alle seine Aktivitäten sind zum Scheitern verurteilt.

Am Nachhaltigsten hat die französische Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre Zurückhaltung, ja ihre Ablehnung der aufklärerischen Subjektkonstitution bekundet. Michels Foucaults provokative Rede vom „Tod des Subjekts“ will jedoch, wie Claudia Kolf-van Melis herausgearbeitet hat, ebenso wenig wie weitere subjektkritische Philosophen, etwa Jacques Derrida oder Jean-François Lyotard, „mit der Rede vom Verschwinden des Subjekts […] den Subjektstatus des Menschen abschaffen […]. Vielmehr geht es ihnen dabei um eine Kritik an idealistischen Bestimmungen, die das Subjekt als Ursprung aller Wirklichkeit und Wahrheit darstellen […]“ (Kolf-van Melis, 2003, 15). Dabei verfehlen letztere in ihrer einseitig-idealisierenden Sicht die grundsätzlich ambivalente Bestimmung des Subjektseins, die angesichts der Abhängigkeit und des Unterworfenseins unter Machtstrukturen (Butler, 2001) für Individuen kennzeichnend ist. Das Subjekt verliert seinen Sonderstatus als Dreh- und Angelpunkt der Welt, es ist nicht mehr „Herr im eigenen Haus“ Das cartesianische und kantische Grundpostulat eines souveränen Subjekts, das in Freiheit autonom entscheiden kann, wird in der Postmoderne philosophisch und machtkritisch dekonstruiert (Bublitz, 2014).

Neuere sozialwissenschaftliche Subjektansätze entwickeln das philosophische Subjektdenken und dessen Kritik angesichts sozialempirischer Befunde weiter. Dabei hat sich insbesondere der Begriff der Identität, der aus seiner idealisierten, stufentheoretisch formulierten Verengung (Erikson, 2003) herausgelöst wird, als hilfreich erwiesen. „Identitätsarbeit“ (Keupp/Höfer, 1998) ist eine Konstitutionsleistung des Subjekts, das angesichts gebrochener, fragmentierter Identität eine lebenslange Aufgabe bleibt, bei dem das Subjekt immer wieder aufs Neue versucht, stimmige Passungen zwischen inneren und äußeren Erfahrungen zu schaffen. Identitäten in der Spätmoderne können nichtmehr als einheitliche Größen, sondern nur noch als Patchwork in höchst pluraler Ausprägung empirisch festgestellt werden (Keupp, 2011).

Die Ergebnisse philosophischer Subjektkritik und sozialwissenschaftlich erforschter, fragmentarischer Subjektkonstruktion sind höchst relevant für eine zeitgemäße Formulierung von (religiöser) Bildung, die sich kritisch von einem idealistischen und naiv-optimistischen Bildungskonzept abhebt. Bildung ist in erster Linie eine – stets fragmentarisch bleibende – Selbstkonstruktion des Subjekts in Auseinandersetzung mit der ihr begegnenden Umwelt. Sie kann demnach nur als „Theorie intersubjektiv reflektierter Lernprozesse“ (Peukert, 2015, 43) bestimmt werden.

4. Subjekt und Subjektwerdung in Beziehung

„Wenn Kinder angesprochen werden, werden sie als Subjekt anerkannt. Sie werden wertgeschätzt und können sich als Subjekte entwickeln“ (Wulf, 2014, 108). Ausgehend von der Reflexion einer solchen elementaren Erfahrung kann eine pädagogische Subjektbestimmung vorgenommen werden, die das Subjekt nicht länger in seiner selbstbezogenen Individualität begreift, sondern konsequent als dialogisches Subjekt definiert (Boschki, 2005). Dieses dialogische Subjekt, das hier dezidiert im Horizont einer pädagogischen Anthropologie entworfen wird, hat seine Vorläufer im dialogischen Subjektdenken des 20. Jahrhunderts, das vor allem mit den Namen Martin Buber und seiner dialogischen Philosophie (Buber, 1984) ebenso wie seines dialogischen Erziehungsverständnisses (Buber, 1986) und Emmanuel Lévinas verbunden ist (Überblick: Sandherr, 1998). Inzwischen gibt es wichtige Versuche, die subjektkritischen Einwände Foucaults und anderer ernst zu nehmen, um auf radikale Art das Subjekt neu zu konstituieren, namentlich durch eine dialogische Theorie des Subjekts (Zima, 2000). Das Subjekt kann nur strikt dialogisch und „intradiskursiv“ verstanden werden, wobei (im Unterschied zu Jürgen Habermas) der Dissens gegen den Konsens, die Partikularität gegen die Universalität betont wird. „Denn ein Dialog mit dem anderen hat nur dann einen Sinn, wenn der andere seine Alterität nicht preisgibt“ (ebd., 408). In Differenz zur postmodernen Infragestellung des Subjekts hält Zima am individuellen Subjekt fest, das eigenaktiv als handelnde und sprechende Einheit agiert. In sozialisationstheoretischen Identitätstheorien (u.a. Heiner Keupp) konstruiert der Mensch seine → Identität durch kreative Eigenleistung. Diese Identitätsleistung geschieht als interaktive Auseinandersetzung mit der umgebenden Welt und den interagierenden Menschen. Der Einzelne ist „in einen kommunikativen Zusammenhang eingebettet [...], in dem er sich als Subjekt konstituiert“ (ebd., 15).

Das dialogische Subjekt lebt von der Alterität, wird andererseits aber von ihr bedroht. Dialogizität bedeutet die Auseinandersetzung mit dem Anderen, dem Fremden, den integrierbaren und nicht integrierbaren Alteritäten in Kultur, Sprache, Ideologie und Theorie. Ziel der Kommunikation ist nicht ein ideal postuliertes Einverständnis (Habermas), sondern die produktive Differenz.

Was hier entworfen und betont wird, ist ein intersubjektiv konzipierter, relationaler Subjektbegriff. Das Subjekt kann nicht anders als in Beziehungen verstrickt gedacht werden. Es ist niemals das einsame, quasi monadenhaft existierende. Das Subjekt ist per se Beziehung. Es lebt nicht nur in Beziehung oder in Beziehungen, es ist Beziehung.

Ein solches dialogisches, relationales Verständnis von Beziehung hat wiederum eminente Auswirkungen für die Konzeption von Erziehung und Bildung. Kinder, Jugendliche oder Erwachsene sind aktive Teilnehmer am Bildungsgeschehen, nicht passive Rezipienten. Zwischen Lernenden und Lehrenden entsteht eine Ich-Du-Beziehung, die durch interpersonale Begegnung geprägt ist – im Idealfall auf gleicher Augenhöhe (Künkler, 2011). Subjektwerdung geschieht nie allein, sondern stets in gegenseitiger Beziehung, die auf vertrauensvoller Begegnung zwischen Mensch und Mensch basiert (Gößling, 2010). Bildung kann verstanden werden als „[…] ein intersubjektiv-kommunikativer Raum, in dem das Ich als singuläres und unverwechselbares gerade in seiner Beziehung zu dem unverwechselbar anderen ein eigenes Selbstverständnis, und zwar als bezogene Identität, erwerben kann“ (Peukert, 2015, 94).

5. Subjektorientierung in der Religionspädagogik

Religionspädagogische Theorie und Praxis nimmt die angedeuteten Subjektdiskurse kreativ und konstruktiv auf (u.a. Boschki, 2016; Bahr/Kropac/Schambeck, 2005). Henning Luther hatte bereits vor Jahrzehnten, insbesondere in seinem posthum erschienenen Werk „Religion und Alltag – Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts“ (Luther, 1992), die Diskussion in praktisch-theologischer Hinsicht entscheidend weitergeführt, wodurch die Erfahrungsebene und Lebenswelt des Subjekts als Referenzrahmen wissenschaftlicher Theoriebildung bestätigt wurden. Dabei stellt Henning Luther die Fragmentarität und grundsätzliche Unabgeschlossenheit des religiösen Bildungsprozesses heraus.

Subjektsein wird in der Praktischen Theologie nie mehr individuell und in abstrakter Autonomie gedacht. Unter Rückgriff auf Norbert Elias geht beispielsweise Ulrich Schwab davon aus, dass das Subjektsein des Menschen nur in seinen sozialen Bezügen verstehbar ist (Schwab, 2002, 167). Menschliches Leben vollzieht sich immer zusammen mit anderen, in enger Beziehung mit Eltern, Gleichaltrigen, in Partner- und Freundschaften, mit Bekannten und Fremden – in Harmonie und Konflikt. Damit sind nicht allein die Face-to-face-Beziehungen im Blick, sondern auch die gesellschaftlich-politischen Bedingungen. Denn alle sozialen Kontakte vollziehen sich im gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Kontext der jeweiligen Situation. Subjektwerdung ereignet sich nur an den und mit den anderen im Kontext ihrer Zeit. Auf diese Weise ist eine mehrdimensionale, beziehungsorientierte und kontextuelle Sicht des Subjekts zugrunde gelegt, die für Praktische Theologie und Religionspädagogik maßgebend ist.

Norbert Mette benennt die „Bausteine einer praktisch-theologischen Subjekttheorie“ folgendermaßen (Mette, 2005, 64-79): Die Beziehung Gottes mit den Menschen, Gottes Liebe, steht am Ausgangspunkt einer theologischen Subjektbestimmung, was die unantastbare Würde des Menschen als Ebenbild Gottes konstituiert. Dazu ist die Unterscheidung zwischen Person und Subjekt hilfreich. Person ist der Mensch qua Schöpfung durch Gott, die so gedacht wird, „[…] dass auf dieser Grundlage die allmähliche Bildung des Individuums zum mündigen, selbstverantwortlichen Subjekt erfolgt“ (ebd., 66; Schweitzer, 2015). Zur Subjektkonstitution, so Mette weiter, gehören dann notwendig die Fragen nach der Entwicklung des Menschen, nach der Identität und der dafür konstitutiven Beziehungen mit anderen. Analog entwickelt Bernhard Grümme in seinem Ansatz einer religionspädagogischen → Anthropologie das Subjektsein des Menschen in den Koordinaten Körper-Leib-Geist, Endlichkeit, Gottesbildlichkeit als Grundlage für Bildsamkeit und Bildung, Identität, Sozialität, Freiheit, Versagen-Schuld-Sünde, Zeit, Rationalität und schließlich, nicht zuletzt, der religiösen Potentialität, die jedes Subjekt kennzeichnet (Grümme, 2012, 156-497). Im Anschluss an Johann Baptist Metz betont er die „Gottfähigkeit des Menschen“ (ebd., 458), seine grundlegende Gottesbegabung als Zentrum religionspädagogischer Rede vom Subjektsein. In der Sicht religionspädagogischer Anthropologie gilt: Der Mensch ist Mensch, weil er grundsätzlich fähig ist, sich seiner Gottesbeziehung bewusst zu werden. Dazu sind Lehr-Lern- bzw. Bildungsprozesse in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter unerlässlich. Bildung geht vom Subjekt aus und zielt auf das Subjekt. Dieses Subjekt jedoch ist nicht das schon mit sich identische, das von einer Ganzheit her gedacht werden könnte, sondern das sich entwickelnde, das fragmentarische Subjekt, das auch in der Möglichkeit des Scheiterns gesehen wird. Entscheidend ist: „Bildung geschieht von Alterität her, besteht letztlich in der Wahrnehmung des Andern in seiner Andersheit und ist deshalb alteritätstheoretisch zu fassen“ (ebd., 219). „Es geht um Identitätsfindung in sozialer Verantwortung, um Subjektwerdung in universaler Solidarität […]“ (ebd.).

Vor diesem Hintergrund kann die eingangs zitierte „(religions-)pädagogische Maxime“ im Duktus von Kants kategorischem Imperativ als Maßstab für alles Denken und Handeln im Feld religiöser Bildung formuliert werden: „Trage dazu bei, dass die Personen, mit denen Du in Lehr-Lern-Prozessen zu tun hast, Subjekte werden!“ (Schröder, 2012a, 241).

6. Perspektiven für religionspädagogische Theorie, Forschung und Praxis

Subjektorientierung ist in der Theorie religiöser Bildung mittlerweile gut verankert, allerdings sind auch theoretische Desiderate erkennbar. Oft bleibt das Bekenntnis zur Subjektorientierung zu allgemein und abstrakt. Der Blick ist auf die konkreten Subjekte zu richten, die als Mädchen und Jungen, Jugendliche und Erwachsene, Männer und Frauen in Berührung mit religiösen Bildungsmaßnahmen kommen (sollen). Auch wird die grundsätzliche Ambivalenz des Subjekts zu wenig reflektiert, wenn der Fokus religionspädagogischer Theoriebildung einseitig auf dem Subjekt als bildungsnah und lernbereit liegt. Macht-, gesellschafts- und ökonomiekritische Analysen müssen stärker rezipiert werden, um die sozialen Ohnmachtsstrukturen zu erfassen, in denen Subjekte heute leben. Ebenso sind die Frage nach → Gender und Intersektionalität in der religionspädagogischen Theorie immer noch unterbelichtet, zumindest in der deutschsprachigen Religionspädagogik, was durch Rezeption der internationalen Diskussionen bearbeitet werden könnte (u.a. Gross/Davies/Diab, 2013). Auch die Fragen nach der medialen (Selbst-)Inszenierung und Virtualität des Subjekts sowie der Inklusion von Menschen mit und ohne Behinderung bedürfen weitergehender religionspädagogischer Reflexionen.

Ebenso steht die empirische Forschung in der Religionspädagogik unter dem Leitbegriff der Subjektorientierung. Qualitative Verfahren, die die Gesprächspartnerinnen und -partner weder verobjektivieren noch vereinnahmen, geben ihnen Raum, sich als Subjekte zu artikulieren und zeigen ihnen die gleiche interpersonale Wertschätzung, die auch für religiöse Bildung kennzeichnend ist. Zu fragen ist, ob bei manchen quantitativen Verfahren die Gefahr besteht, dass Menschen eher als Objekte der Forschung denn als Subjekte einer gemeinsamen Forschungspartnerschaft gesehen werden. Hier kann eine konsequente Subjektorientierung als kritisches Korrektiv schon in der theoretischen Anlage der Forschungsprojekte diskutiert werden.

Schließlich wird in religionsdidaktischen Entwürfen der vergangenen Jahrzehnte die Orientierung am Subjekt Schritt für Schritt konkreter realisiert. Ansätze wie die Kinder- und Jugendtheologie, die den jungen Menschen in ihrer theologischen Dignität begegnen, die Elementarisierung, die die elementaren Erfahrungen und entwicklungsbedingten Zugänge der Schülerinnen und Schüler radikal ernst nimmt, oder dialogisch-kreative Ansätze (in Bibel- oder allgemeiner Religionsdidaktik), die die Lernenden intersubjektiv und dialogisch in das Lerngeschehen integrieren, sind nur Beispiele für die Möglichkeit subjektorientierter Praxisvollzüge. Das Ringen um das Subjekt zeigt sich in besonderer Weise in religionsdidaktischen Konzeptionen, die ihren Schwerpunkt auf die Eigenleistung der Lernenden legen, beispielsweise in der konstruktiv-kritischen Religionsdidaktik (Mendel, 2015; → konstruktivistischer Religionsunterricht, hier weitere Literatur). Hier wird versucht, die Subjektorientierung zu radikalisieren und sie auf lerntheoretischer Basis auf der Ebene der Wahrnehmung, der Deutung und des Handelns von Subjekten zu begründen. Religion wird, so dieser Ansatz, nicht von außen an die Lernenden herangetragen, sondern erfolgt als Konstruktionsleistung der Subjekte, wobei die Lehrenden als Impulsgeber und die Lernumgebung als Stimulanz für eigene religiöse Wahrnehmungs- und Deutungsmuster fungieren. Ob die Ansätze eines → performativen Religionsunterrichts ebenso konsequent subjektorientiert oder doch eher indirekt vermittlungsbezogen ist, ist zumindest umstritten (Englert, 2008).

Auch zeitgemäße → Katechese (Altmeyer/Bitter/Boschki, 2016), Elementarerziehung und Gemeindepädagogik sind längst nicht mehr allein auf die zu vermittelnden Inhalten fokussiert, sondern verstehen sich als am Subjekt orientierte „Lebensbegleitung und Erneuerung“ (Nipkow, 1992).

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