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(erstellt: Februar 2018)

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1. Empirisch-lebensweltliche Befunde

1.1. Gesellschaftliche und medizintechnische Formung des Sterbens und seiner Wahrnehmung

1.1.1. Veränderte Sterbeverläufe

So sehr die Sterblichkeit eine anthropologische Konstante darstellt, so kulturbedingt ist die Art und Weise, wie Menschen sterben. Aufgrund medizinischer und gesellschaftlicher Veränderungen haben sich die Sterbeverläufe in westlichen Gesellschaften während der letzten Jahrzehnte stark gewandelt. Der Sterbeprozess dauert nicht nur wesentlich länger, sondern er ist auch von einer Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten und Entscheidungszwängen gekennzeichnet. In Ländern mit einem hochentwickelten Gesundheitswesen sterben heute viele Menschen erst in hohem Alter. In Verbund mit der demographischen Entwicklung führt das dazu, dass sich zunehmend mehr Menschen in der Sterbephase befinden. Dieselbe Entwicklung spiegelt sich in der Entstehung neuer Institutionen wie Hospize, Palliativstationen und Sterbehilfeorganisationen, die sich spezifisch dem Sterben widmen (Zimmermann, 2017). Selbst wenn lebenserhaltende Maßnahmen am Lebensende zur Belastung werden können und derzeit auch in westlichen Ländern längst nicht alle von einer optimalen palliativen Versorgung profitieren, erleben „schätzungsweise drei Viertel […] bis 48 Stunden vor ihrem Tod bewusst einen Sterbeprozess und können eventuell Einfluss auf Ort und Umstände des Sterbens nehmen“ (Schäfer/Frewer/Müller-Busch, 2012, 16). Die genannten Entwicklungen sind mit einer veränderten Wahrnehmung des Sterbens verflochten.

1.1.2. Veränderte Wahrnehmung des Sterbens

Nicht nur das Sterben selbst, sondern auch die Art und Weise, wie das Sterben wahrgenommen und öffentlich thematisiert wird, hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Inwiefern die von Philippe Ariès (1980) und anderen vertretene These, dass der Tod durch die medizintechnischen Entwicklungen der Moderne verdrängt werde, den aktuellen Entwicklungen gerecht wird, ist umstritten. Zwar sterben in westeuropäischen Ländern nach wie vor weit mehr Menschen in Krankenhäusern als zuhause (weshalb man im Durchschnitt vierzig Jahre alt werden muss, um zum ersten Mal eine Leiche berühren zu können; Gehring, 2013). Doch gegenläufig zur Tendenz, das Sterben in klinische Räume abzuschieben, ist eine neue Öffentlichkeit des Sterbens zu beobachten. Sie zeigt sich zum einen in den intensiv geführten Debatten um ärztlich assistierten Suizid und Euthanasie, zum anderen in einer neuen medialen Öffentlichkeit des Sterbens, in der sich die Betroffenen selbst zu Wort melden und Sterbeprozesse nahe mit- und nacherlebt werden können (zu den religionspädagogischen Perspektiven, die sich durch solche leicht zugänglichen Zeugnisse eröffnen, vgl. 3). Wieweit diese neue Öffentlichkeit des Sterbens allerdings zu einem differenzierten Verständnis von Sterbeprozessen beiträgt und nicht selbst von Stereotypen geprägt ist, bleibt zu untersuchen (Deppermann, 2018).

1.1.3. „Epistemische Ungerechtigkeit“ in der Wahrnehmung des Sterbens

Das Sterben lässt sich aus unterschiedlichen Perspektiven beschreiben. In gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskursen dominiert die Außenperspektive, während die Perspektive der Sterbenden selbst nur wenig Berücksichtigung findet. Allan Kellehear (2014a) nennt fünf Faktoren, die zu einem einseitigen Bild von Sterbeprozessen führen: die Dominanz der klinischen (medizinischen und psychologischen) Perspektive, die auf Problemlösung fixiert sei; die unreflektierte Übertragung der Sicht der zurückbleibenden Angehörigen auf die Sterbenden selbst; die einseitige Auswahl von exemplarischen Sterbeberichten und -bildern (die auch die politische Diskussion bestimme); die Überrepräsentation der Mittelklasse in der Forschung sowie die Scheu der Sterbenden, über ihre Erfahrungen zu berichten. Das Wissen über die verschiedenen Dimensionen eines Sterbeprozesses bleibt jedoch unvollständig, wenn nicht auch die Perspektive der Betroffenen selbst in möglichst repräsentativer Weise berücksichtigt wird. Was bei anderen Lebensphänomenen selbstverständlich ist, gestaltet sich jedoch im Fall des Sterbens als besonders schwierig. Sterbende in ihrer allerletzten Lebensphase zu befragen und ihre Erfahrungen systematisch erheben zu wollen, ist zum einen in ethischer und forschungspraktischer Hinsicht anspruchsvoll (Wittkowski, 2012). Der Sterbeprozess ist zudem nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt empirisch erforschbar. Die allerletzte Lebensspanne bleibt unzugänglich und der Tod selbst ist, als ihr Endpunkt, nicht objektivierbar. Zum anderen ist die klinische Wahrnehmung des Sterbens beeinträchtigt durch ein Phänomen, das Havi Carel und James I. Kidd (2014) als „epistemische Ungerechtigkeit im Gesundheitsbereich“ beschrieben haben. Während medizinische Beschreibungen und Erzählformen hier großen Kredit genießen, stehen die Erzählungen der Betroffenen selbst im Verdacht, subjektiven Verzerrungen unterworfen und deshalb „unzuverlässig“ zu sein. Um einer einseitigen Sicht des Sterbens entgegenzuwirken, ist deshalb die medizinisch-empirische Beschreibung von Sterbeprozessen (1.3.) durch einen kritisch-reflektierten Einbezug von Betroffenenberichten (1.4.) zu ergänzen.

1.2. Beginn des Sterbens

Während die Feststellung des Todes – unbeschadet der interdisziplinären Diskussion um das genaue Todeskriterium – in der Kompetenz der Medizin liegt, ist die Frage, wann das Sterben beginnt, nicht medizinisch zu beantworten. Die pragmatische Feststellung, dass diesbezüglich wie bei anderen Lebensprozessen mit fließenden Übergängen zu rechnen ist und es deshalb verfehlt ist, nach einem Anfangspunkt zu suchen, ist insofern nicht ganz befriedigend, als es aus der Betroffenenperspektive einen Unterschied macht, ob man als „Kranker“ oder als „Sterbender“ wahrgenommen und behandelt wird (Lubbock, 2012). Die medizinische Entwicklung hat auch in dieser Hinsicht zu einer Veränderung von Sterbeverläufen geführt. Während es noch im letzten Jahrhundert bei vielen inzwischen erfolgreich therapierbaren Krankheiten bald einmal klar war, dass sie nicht mehr behandelt werden konnten, werden viele Patientinnen und Patienten heute bis kurz vor ihrem Tod kurativ behandelt (wobei die Weiterführung solcher Behandlungen auch palliativ motiviert sein kann). Selbst die Überweisung auf eine Palliativstation muss noch nicht bedeuten, dass jemand nicht doch wieder nach Hause entlassen und darauf zählen kann, eine noch unbestimmte Zeit weiterzuleben. Die Aussage, dass die Sterbeverläufe sich in den letzten Jahrzehnten (in westlichen Gesellschaften) stark verlängert haben (vgl. 1.1.1.), muss vor diesem Hintergrund differenziert werden. In Situationen, in denen die medizinisch klar erkennbare Terminalphase des Sterbens noch nicht eingetreten ist (1.3.), hängt es bis zu einem gewissen Zeitpunkt auch von einer persönlichen Entscheidung ab, ob jemand sich als „Sterbender“ wahrnimmt und als solcher betrachtet wird. Nach Kellehear (2014a) beginnt der Sterbeprozess in dem Moment, in dem jemand realisiert, dass er bald sterben werde. Deshalb kann der Sterbeprozess, der für einen in die Tiefe stürzenden Bergsteiger nur wenige Sekunden in Anspruch nimmt, bei gewissen Krankheiten mehrere Jahre dauern. Auch die bekannte Definition Robert J. Kastenbaums (1977) berücksichtigt diesen subjektiven Aspekt. Demnach ist eine Person dann als sterbend zu bezeichnen, wenn sie einerseits objektiv betrachtet in Todesgefahr schwebt und ihr diese andererseits so weit bewusst ist, dass sie ihr Erleben und Verhalten bestimmt. Für die Terminalphase, die medizinisch klar bestimmbar ist, dürfte allerdings das objektive Kriterium genügen.

1.3. Sterbeverläufe aus medizinischer Perspektive

Wenn in der medizinischen Literatur von Sterbeverläufen („dying trajectories“) gesprochen wird, sind meist die vorlaufenden Krankheitsphasen ebenfalls im Blick. Aus medizinischer Sicht lässt sich zwischen vier typischen Verläufen unterscheiden, die ein je spezifisches ärztliches Handeln erfordern (Lunney/Lynn/Hogan, 2002): 1. dem plötzlichen Tod durch Unfall, Organversagen, Suizid oder Ermordung; 2. das Sterben an einer terminalen Krankheit, das sich lange im Voraus ankündigt; 3. das Versterben an einem chronischen Organversagen, das mitunter am Ende einer lebenslangen Erkrankung steht; 4. das langsame Sterben an Altersschwäche. Die palliativmedizinische Unterscheidung zwischen Rehabilitationsphase, Terminalphase, Finalphase bezieht sich primär auf den zweiten Typus, doch treten die letzten beiden Phasen auch beim dritten und vierten Typus auf. Die Rehabilitationsphase beginnt aus palliativmedizinischer Perspektive bei der infausten Prognose und kann mehrere Monate dauern, während die Terminalphase die letzten Tage und die Finalphase die letzten Stunden umfasst (Becker/Xander, 2012). Spätestens in der Finalphase treten dann auch jene Phänomene auf, durch die der Sterbeprozess für die Begleitpersonen deutlich erfahrbar wird: Erschlaffen der Gesichtsmuskeln, motorische Unruhe, Bewusstseinstrübung, reduzierte Blutzirkulation, die sich in kalter Haut und marmorierten Extremitäten manifestiert, Versagen des Hustenreflexes, Rasselatmung u.a.m. (Becker/Xander, 2012, 130). Zu den Lebensendphänomenen gehörten auch die „terminale Luzidität“ (ein hellwacher Zustand kurz vor dem endgültigen Versterben), „symbolische Kommunikation“ (z. B. wenn ein Sterbender davon spricht, auf eine Reise zu gehen; Peng-Keller, 2017b) oder sog. „Sterbebettvisionen“ (Kellehear, 2014).

1.4. Sterbeverläufe aus der Perspektive Sterbender

Trotz der Einzigartigkeit einer Lebensgeschichte und des interpretativen Charakters von Selbstzeugnissen ermöglichen faktuale Berichte von erlebter Todesnähe einen bislang erst wenig genutzten Zugang für die Erschließung des Sterbeprozesses. Denn: „in jeder Minute beim Tod zu sein, generiert eine eigene Form von Erfahrungswissen“ (Herrndorf 2013, 227). Den medizinisch zu unterscheidenden Sterbeverläufen – plötzlicher Tod, terminale Krankheit, chronisches Organversagen, Altersschwäche – entsprechen voneinander abweichende Sterbeerfahrungen. Was es bedeutet, an einem plötzlichen Tod zu versterben, bezeugen die vielfältigen Zeugnisse von Nahtoderfahrungen. Entgegen der durch Raymond Moody und anderen Pionieren der Nahtoderfahrungsforschung vermittelten Vorstellung, dass in diesen Erfahrungen immer dieselben Motive in einer festen Sequenz auftreten (Außerkörperlichkeitserleben, Lebensrückblick, Tunnel, Licht, letzte Grenze, Rückkehr), belegt die jüngere Forschung die inhaltliche Vielfalt und Deutungsoffenheit (Peng-Keller, 2017a) sowie ihre kulturelle Formung (Knoblauch, 2014). Unabhängig davon, wie solche Erfahrungen weltanschaulich gedeutet werden, sind sie als „palliative Imagination“ zu würdigen, die von den Betroffenen meist als in hohem Maße belebend und sinnhaft erlebt wird.

Auch für die unterschiedlichen Formen eines langsamen Sterbens finden sich vielfältige Zeugnisse (Kellehear, 2014a; Peng-Keller/Mauz, 2018). Sie berichten von krankheits- oder therapiebedingten Leiderfahrungen, von mit vielfältigen Abschieden verbundenen Trauerprozessen, doch paradoxerweise häufig auch davon, dass sich insgesamt die Lebensqualität erhöht und die Erlebnisintensität vertieft. Dass diese Paradoxie oft nicht wahrgenommen werde, hat nach Kellehear damit zu tun, dass Sterbende oft nur mit großer Zurückhaltung von ihren positiven Erfahrungen und Veränderungen erzählen. Das betrifft insbesondere visionäre Erlebnisse, die mit zunehmender Todesnähe nicht nur gehäuft auftreten, sondern auch an tröstlicher Qualität gewinnen. In einer im Bundesstaat New York durchgeführten Studie, in der Hospizbewohner täglich auf ihre diesbezüglichen Erfahrungen befragt wurden, berichteten 88,1% von Traum- oder Wachvisionen. Diese wurden mehrheitlich als tröstlich beschrieben und stellten für die Befragten kein Problem, sondern eine Ressource dar (Kerr u.a., 2014). Die Studie belegt ebenso, dass die betreffenden Erlebnisse nicht erst auf dem Sterbebett, also in der Finalphase des Sterbeprozesses auftreten, sondern sich schon viel früher einstellen können, mitunter bereits mehrere Wochen vor dem Tod. Am häufigsten berichtet wurde von einem Erscheinen nahestehender Menschen. 46% der Erlebnisse enthielten dieses Motiv (Nosek u.a., 2014). Daneben fanden sich weitere, sich teilweise überschneidende Hauptthemen, die sowohl die unmittelbare Zukunft betrafen (Vorahnungen, Vorbereitung für den Aufbruch), Gegenwärtiges (häufig verknüpft mit Dingen, die noch zu erledigen waren) und Vergangenes (beglückende oder belastende Schlüsselerlebnisse).

2. Systematische Orientierungen

2.1. Altes und neues Leben

Im Anschluss an die paulinischen und johanneischen Schriften (1Kor 15,30; 2Kor 6,9; Röm 6; Joh 11,25;12,24) lässt sich zwischen zwei zeitlich nicht zusammenfallenden Sterbeprozessen unterscheiden: dem Sterben mit Christus und dem Sterben als biopsychosozialem Lebensereignis. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Sterbeprozessen kann theologisch unterschiedlich bestimmt werden. Geht man davon aus, dass in seinem Sterben die Lebenshingabe Jesu Christi zur Vollendung kommt, so ist gemäß Karl Rahner das christliche Leben analog dazu als Teilhabe an dessen Lebensvollzug zu verstehen, die im Sterben als einem Akt vertrauensvoller Selbsthingabe seine Vollendung findet (Rahner, 1978). Vor diesem Hintergrund kritisiert Rahner eine Fixierung auf den medizinischen Tod und deutet das Sterben als Akt, der schon lange vor dem biologischen Lebensende ansatzweise vollzogen und erlebt werden kann. Während Rahner von der Vorstellung ausgeht, dass sich das christliche Leben in einem allmählich sich verdichtenden Integrationsprozess vollzieht, der in der finalen Lebenshingabe zur Vollendung findet, beschreibt Ingolf U. Dalferth aus evangelisch-lutherischer Perspektive das christliche Leben als paradoxe Gleichzeitigkeit von altem und neuem Leben. Durch die Auferweckung des Gekreuzigten wirkt Gott inmitten einer altgewordenen und altwerdenden Welt eschatologisch Neues und begrenzt dadurch die Macht des Todes. Damit wird deutlich, dass Zeit und Geschichte nicht vom Tod, sondern von Gottes ewigem Leben begrenzt sind (Dalferth, 1994, 28). Auch wenn christliches Leben das alte und vergängliche Leben nicht einfach hinter sich zurücklassen kann und von der Macht des Todes geprägt bleibt, so bedeutet doch das Christwerden einen Wechsel „von einem auf den Tod hin führenden zu einem aus dem Tod zu Gott hin führenden Leben“ (Dalferth, 2015, 284).

2.2. Sterben als Lebensprozess und die Suche nach einer neuen „Kunst des Sterbens“

Obwohl eine Sterbeerzählung im Zentrum der christlichen Glaubensurkunden steht, hat sich die christliche Theologie intensiver mit dem Tod (als dem Endpunkt des Lebens) als mit dem Sterben selbst beschäftigt. Es fragt sich, ob sie damit nicht zu einer Blickverengung beigetragen hat. In kritischer Auseinandersetzung mit der Thanatologie der 1970er-Jahre vollzog der kanadische Theologe Arthur McGill (1987) einen Blickwechsel vom Tod als Lebensende zum Sterben als Lebensereignis. Wie immer man den Zeitpunkt bestimmt, an dem der Sterbeprozess beginnt: unstrittig ist, dass es sich dabei um die allerletzte Lebensphase handelt. Sieht man vom Fall des plötzlichen Todes ab, verbindet sich die Finalphase des Lebens unter den Bedingungen des heutigen Gesundheitswesens mit spezifischen Gestaltungsherausforderungen und Gestaltungsmöglichkeiten.

Die Suche nach einer neuen „Kunst des Sterbens“ (ars moriendi) antwortet auf das damit verknüpfte Problem, dass die Zumutungen des selbstbestimmten Sterbens den ohnehin schon vorhandenen Leidensdruck verstärken. Gegen die naheliegende Idee, auf ältere Modelle christlicher ars moriendi zurückzugreifen, stellt sich die historische Einsicht, dass diese als Vorbereitung auf eine sehr konkret imaginierte Gerichtssituation konzipiert waren und auf dem Hintergrund einer angsterweckenden Verkündigung entwickelt wurden, die aus heutiger Sicht als Zerrbild christlicher Glaubenshoffnung erscheint. Überblickt man die Suche nach einer neuen ars moriendi, so fallen zwei Merkmale besonders auf: zum einen spielen rituelle Vollzüge in ihr nach wie vor eine wichtige Rolle, auch wenn diese nun stark individuell geprägt sind; zum anderen ist für gegenwärtige Suchbewegungen der Wunsch charakteristisch, so intensiv wie nur möglich in der Gegenwart zu leben und diese auszukosten, während die klassische ars moriendi zukunftsorientiert war und die Gegenwart als Vorbereitungszeit für das finale Gericht verstand.

2.3. „Gutes Sterben“?

Die Suche nach einer „neuen Sterbekunst“ hat die Kritik auf sich gezogen, das Sterben ethisch zu überlasten und dadurch einen Druck zu erzeugen, der es entgegen der erklärten Absicht erschwert. Ideale und Narrative eines „guten Sterbens“ können unversehens einer „Tyrannei des gelingenden Sterbens“ (Schmuck, 2012) Vorschub leisten. Umgekehrt weckt eine Pauschalkritik an Sterbeidealen die Frage, ob die damit verbundene Position nicht ihrerseits an einem bestimmten Sterbeideal orientiert ist und sich deshalb in einen Selbstwiderspruch verfängt. Theologisch ist zweierlei zu unterscheiden: 1. Vor dem Hintergrund der biblischen Passionserzählungen verbieten sich moralische Urteile über faktische Sterbeverläufe. Dass ein Mensch einen schmerzlichen und entwürdigenden Tod stirbt, bedeutet nicht, dass er schlecht gelebt hat. Dass das letzte Urteil über ein Leben dem Menschen entzogen ist, betrifft auch sein Sterben. 2. Aus der Betroffenenperspektive ist die Frage nach dem guten Sterben umgekehrt ebenso unausweichlich wie die Frage nach dem guten Leben. Auch wenn wir uns diese Fragen nicht ausdrücklich stellen mögen, beantworten wir sie in der Art und Weise, wie wir Dinge priorisieren und in unser Leben entweder einbeziehen oder ausschließen. Wie in anderen Lebensbereichen sind unsere Leitbilder hinsichtlich des Sterbens verbunden mit bestimmten Vorurteilen, Wünschen und Erfahrungen. Sie können, genauer betrachtet, spannungsreich oder sogar widersprüchlich sein. Und sie verändern sich, wenn wir über sie reflektieren oder wenn sich unsere Lebenssituation verändert.

3. Didaktische Perspektiven

Das Sterben wird religionspädagogisch meist im Rahmen von Unterrichtseinheiten thematisiert, die der Auseinandersetzung mit dem Tod und Jenseitsvorstellungen (→ Auferstehung der Toten) gewidmet sind. So sachlich naheliegend eine solche thematische Verklammerung ist: als letzte Lebensphase mit spezifischen Herausforderungen und Erfahrungsmöglichkeiten ist das Sterben auch als eigenes Themenfeld zu betrachten. Nicht nur der Tod, sondern auch das Sterben wirft Fragen auf, die religionspädagogisch bedeutsam sind. Was Menschen in Todesnähe erleben und denken, wie sie auf ihr Leben zurückblicken und was sie den Zurückbleibenden mitgeben möchten, betrifft Kinder und Jugendliche nicht erst dann, wenn sie in ihrer unmittelbaren Umgebung mit Sterbenden in Kontakt kommen. Vielmehr sind Sterbeszenen ein Teil der Populärkultur an der Kinder und Jugendliche teilhaben und die ihr Denken und Fühlen prägen. So hat sich beispielsweise das Sterben Winnetous in die Herzen ganzer Generationen eingeprägt. Für einen altersgerechten und dem jeweiligen Lernkontext angepassten Zugang zur Thematik stehen neben fiktionalen Sterbeerzählungen vielfältige literarische und filmische Zeugnisse zur Verfügung. Zu diskutieren sind in diesem Zusammenhang insbesondere die Leitbilder des „guten Sterbens“, die sich in diesen unterschiedlichen Dokumenten in narrativer Weise vermitteln (Peng-Keller/Mauz, 2018).

3.1. Fiktionale Sterbeerzählungen

Fiktionale Sterbeerzählungen ermöglichen Kindern und Jugendlichen eine imaginative Annäherung an die vielen Facetten von Sterbeprozessen und die damit verbundenen Konfliktfelder. Exemplarisch für viele Beiträge stehen die folgenden drei Texte, die alle auch verfilmt wurden: In Eric-Emmanuel Schmitts Roman Oskar und die Dame in Rosa (2003) mischen sich realistische und phantastische Elemente. Der Ausgangspunkt bildet das Problem, dass weder die Eltern noch der Arzt des zehnjährigen Oskars fähig sind, mit ihm über seine lebensbedrohliche Krebserkrankung zu sprechen. An diesem Punkt tritt die extravagante „Dame in Rosa“ auf den Plan, die Oskar zu einem Gedankenexperiment anleitet: Er solle sich vorstellen, jeder verbleibende Tag würde von nun an zehn Jahre bedeuten. Auf diese Weise erhält Oskar die Möglichkeit, doch noch ein ganzes, erfülltes Leben zu führen. In zwölf an Gott adressierten Briefen beschreibt er seine verschiedenen Lebensstationen, um schließlich im Gefühl zu sterben, er sei 120 Jahre alt geworden. Sally Nicholls mehrfach ausgezeichneter Roman Wie man unsterblich wird (2008) erzählt die Geschichte des elfjährigen, an Leukämie erkrankten Sam Oliver McQueen. Zusammen mit einem an derselben Krankheit leidenden Freund nutzt er seine letzten Lebensmonate, um Antworten auf die großen Fragen des Lebens zu finden und möglichst viele seiner Lebenspläne noch zu verwirklichen. Um eine intensive Freundschaft in Todesnähe geht es auch in John Greens ebenfalls preisgekröntem und verfilmtem Roman Das Schicksal ist ein mieser Verräter (2012). Im Mittelpunkt des Buchs steht die sechzehnjährige Hazel Grace Lancaster, die aufgrund eines metastasierten Schilddrüsenkrebs nur noch eine kurze Lebenserwartung in Aussicht hat. In einer Selbsthilfegruppe lernt sie den siebzehnjährigen Augustus Waters (Gus) kennen, der an einem Knochentumor leidet. Zwischen den beiden entspinnt sich eine Liebesgeschichte mit vielen Wendungen und Abschieden.

3.2. Online zugängliche audiovisuelle Zeugnisse

Die „neue Öffentlichkeit“ des Sterbens manifestiert sich in einer Fülle von online zugänglichen Filmen, Interviews, Videos und Blogs, in denen Menschen mit terminalen Erkrankungen zu Wort kommen und von ihren Erfahrungen berichten (Deppermann, 2018). Das Spektrum derer, die einer breiten Öffentlichkeit von ihrer „letzten Reise“ berichten (bzw. der Vorbereitung darauf), reicht von bekannten Persönlichkeiten wie Guido Westerwelle, Roger Willemsen oder Christoph Schlingensief bis zu Personen, die erst durch ihr öffentliches Sterben bekannt wurden. Zu letzteren gehört die Engländerin Jade Goody, die im August 2008 vor laufenden Kameras erfuhr, dass sie an Gebärmutterhalskrebs erkrankt war und die Öffentlichkeit auch in den verbleibenden Lebensmonaten an ihrem Sterbeprozess teilnehmen ließ. Eher ungewollt zum Medienstar avancierte die 90-jährige Norma Bauerschmidt, die nach einer Krebsdiagnose eine Reise quer durch die USA antrat und im Herbst 2016 in einem Hospiz am Pazifik mit 450 000 Facebook-Fans verstarb. Eine „letzte Reise“ ganz anderer Art thematisiert Rowan Deacons Dokumentarfilm Simons Entscheidung (2016). Er thematisiert den Entscheid des an ALS erkrankten britischen Geschäftsmanns Simon Binner, sein Leben durch einen ärztlich assistierten Suizid in der Schweiz zu beenden. Eine eindrückliche Auseinandersetzung mit demselben Thema findet sich auch bei der britischen Videokünstlerin Avril Furness. Sie produzierte 2016 einen 360-Grad-Video, der es erlaubt, den Vollzug eines (nachgestellten) assistierten Suizids aus der Perspektive des Sterbenden selbst nachzuvollziehen. Eine Fundgrube für erste Einblicke in die Erlebniswelt sterbender Menschen bietet schließlich auch das vom Deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Diskursprojekt „30 junge Menschen sprechen mit sterbenden Menschen und deren Angehörigen“ (http://30jungemenschen.de/?page_id=2). Ziel des Projekts war es, jungen Menschen durch die direkte Begegnung mit Betroffenen eine reflektierte Haltung zum Lebensende zu ermöglichen. Die gut aufbereiteten Videos stellen als Endprodukt dieses Projekts zugleich reichhaltiges Lehrmaterial zur Verfügung.

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