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Spirituelles Lernen

(erstellt: Februar 2021)

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1. Hinführung

Das Phänomen Spiritualität berührt eine zentrale Komponente des Menschseins und umfasst vielfältige und sehr unterschiedliche Formen und Ausprägungen. Nicht selten tritt mittlerweile der Begriff spirituell an die Stelle von religiös, weil er dem expeditiven Charakter spätmoderner Religiosität folgend als „individuell, erfahrungsgesättigt, ökumenisch und verbindend […] als geistige Suche in einer offenen Landschaft“ (Bucher, 2015, 17) verstanden wird. Das zeigen auch jugendliche Selbstbeschreibungen, in denen Spiritualität vor allem in ihrer subjektiven Dimension (Authentizität, Lebensbedeutung, persönliche Erfahrung) zum Ausdruck kommt (Streib, 2014). Begünstigt durch eine damit einhergehende Popularisierung und Expansion des Megatrends Spiritualität hat sich in den letzten Jahren verstärkt die Psychologie der Spiritualitätsforschung gewidmet (Bucher, 2014). Ihr Verdienst ist es, das Konstrukt Spiritualität einer Operationalisierung unterzogen und empirisch entfaltet zu haben, wobei sich die Bestimmung als horizontale und vertikale Verbundenheit zum „Herzstück einer Psychologie der Spiritualität“ (Bucher, 2020) entwickelt hat (siehe dazu weiter unten).

Widmet man sich dem Phänomen Spiritualität aus didaktischer Sicht im Kontext von (religiösen) Lern- und Bildungsprozessen (Altmeyer/Boschki/Theis/Woppowa, 2006; Caloun/Habringer-Hagleitner, 2018), gewinnt der psychologische Zugang einige Relevanz. Denn die Rede vom spirituellen Lernen und Lehren (→ Spiritualität, Lehrende) setzt ein bestimmtes Verständnis bzw. Konstrukt von Spiritualität voraus, um einerseits der Individualität religiöser Lernprozesse gerecht werden und andererseits überhaupt die Frage nach der Lern- und Lehrbarkeit von Spiritualität ins Spiel bringen zu können. Aus Sicht einer Psychologie der Spiritualität jedenfalls ist zu konstatieren, dass das Phänomen Spiritualität anthropologisch und entwicklungstheoretisch relevant ist und von daher auch innerhalb der Domäne Religion bzw. des religiösen Lernens in spezifischer Weise in den Blick zu nehmen ist.

Spirituelles Lernen wird hier als eigenständige Lernform (wie bspw. performatives Lernen, biblisches Lernen, ethisches Lernen etc.) begriffen, ist nicht exklusiv an bestimmte Lernorte gebunden und muss deshalb lernortspezifisch in den Blick genommen werden. Es gibt einerseits funktionale Lernanlässe, in denen spirituelles Lernen stattfindet: Etwa beim gemeinsam gesprochenen Tischgebet in der Familie, beim Besuch eines besonderen sakralen Raums während der Urlaubsreise, bei der Erkundung einer Museumsausstellung oder beim emotionalen Erleben eines Popkonzerts. Andererseits führen intentionale Lernanlässe dazu, spirituelle Lernprozesse gezielt zu initiieren, didaktisch zu rahmen und reflektiert zu gestalten: Etwa in der Gemeindekatechese als Ort der Glaubenskommunikation und des Glaubensvollzugs, bei Gruppen- oder Schweigeexerzitien als Angebot der religiösen Erwachsenenbildung oder im schulischen Religionsunterricht als Ort religiöser Bildung und religiösen Kompetenzerwerbs. Diese erste Unterscheidung macht es notwendig, das weite Feld spirituellen Lernens begrifflich und konzeptionell präziser abzustecken (2.) und reflektiert hinsichtlich seiner Grenzen zu erfassen, um nicht der Gefahr zu erliegen, die spezifische Gesetzmäßigkeit einzelner Lernorte zu verletzen. Spirituelles Lernen als religionsdidaktische Lernform erfordert daher eine eigene didaktisch-konzeptionelle Grundlegung (3.), die wiederum weiterführende Fragen und offene Herausforderungen (4.) freilegt.

2. Begriffliche Unterscheidungen

Als Dimension menschlicher Erfahrung und Weltbegegnung ist Spiritualität auf Religion, Religiosität (im Sinne der individuellen Religion von Menschen; → Religiosität, Jugendliche) und Glauben bezogen, aber nicht damit identisch. Wie die religiöse Urteilsfähigkeit oder die Gottesvorstellung des Individuums stellt auch Spiritualität eine spezifische Domäne dar, die einer individuellen Entwicklung unterliegt (Büttner/Dieterich, 2013, 125-140; Bucher, 2014, 70-112) und daher religiösen Lern- und Bildungsprozessen zugänglich ist. Definitorische Zugänge unterscheiden prinzipiell zwischen einem weiten, anthropologischen und einem engen, theologischen Begriffsverständnis von Spiritualität (Bitter, 2004; Peng-Keller, 2010; Sautter, 2008). So lässt sich hier in aller gebotenen Kürze Spiritualität zunächst im weiteren Sinne als eine Lebensweise bezeichnen, „die aus persönlicher, subjektiver Einschätzung im Kontakt mit einer erwarteten/erhofften geistigen Größe (immanenter oder transzendenter Qualität) dem ganz persönlichen Leben Gestalt sichern will.“ (Bitter, 2003, 292). Im engeren Sinne kann Spiritualität „die in einer persönlichen Lebensgestaltung vollzogene Ratifikation der großen Lebens- und Glaubenstraditionen genannt werden. Christliche Spiritualität ist ausdrücklich gelebte, christliche Identität.“ (Bitter, 2003, 293). Beiden Zugängen ist gemein, dass Spiritualität sowohl eine Innen- als auch eine Außenseite, eine geistige Dimension sowie deren Ausdrucksdimension umfasst, insofern die geistige Identität eines Menschen in konkreten Lebensformen dem Leben als Ganzem eine Gestalt gibt.

Wird Spiritualität als spezifischer Gegenstandsbereich religiöser Bildung aufgefasst, in der die Domäne Religion gemäß einem Bildungsbegriff komplementärer Weltzugänge (→ Bildung, religiöse) einen eigenen Zugang zu Welt und Wirklichkeit darstellt, dann können analog dazu Spiritualität und spirituelle Bildung als spezifischer Modus der Weltbegegnung und Selbsterschließung des Subjekts betrachtet werden (Woppowa, 2015). Denn die Ausdifferenzierung religiöser Kompetenz und Sprachfähigkeit schließt ein spirituelles Wahrnehmungs-, Darstellungs- und Ausdrucksvermögen mit ein. Die Attribution spirituell zielt hier auf die Dimensionen der Gestaltwerdung und des Ausdrucks einer geistigen Größe bzw. geistigen Identität des Individuums. Unter diesen Prämissen kann sogar von spiritueller Kompetenz (→ spirituelle Kompetenz) gesprochen werden, die sich – kompetenztheoretisch gesprochen – nicht zuletzt in der Performanz, d.h. im konkreten Sich-Ausdrücken und Handeln zeigt. Mit dem allgemeinen Kompetenzbegriff Weinerts lässt sich die insgesamt nicht unstrittige Rede von spiritueller Kompetenz nun insofern legitimieren, als hier Kompetenzen nicht auf Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten verkürzt werden. Vielmehr hält Weinert den Kompetenzbegriff anschlussfähig für religiöse respektive spirituelle Lern- und Bildungsprozesse, insofern sich Kompetenzen auf psychische Dispositionen des Subjekts beziehen, die emotionale, soziale und willensbezogene Bereitschaften ebenso einschließen wie eine ethische – und möglicherweise auch spirituelle – Dimension verantwortlichen Handelns (Weinert, 2001). Wenn hier eine Option für die bedingte Lehr- und Lernbarkeit von Spiritualität getroffen bzw. von einem spirituellem Kompetenzerwerb gesprochen wird, dann basiert diese Grundoption auf der oben vorgenommenen zentralen Unterscheidung zwischen einem offenen und einem engen Spiritualitätsbegriff bzw. auf der psychologischen Konstruktbestimmung von Spiritualität als Verbundenheit wie nachfolgend dargestellt (zur kritischen Grundfrage nach einer prinzipiellen Didaktisierbarkeit von Spiritualität Boschki/Woppowa, 2006 sowie zur Kritik am Kompetenzbegriff bspw. Karl, 2019, 113-115).

Auf Basis qualitativer Studien (Bucher, 2014, 30-40; zu quantitativ angelegten Studien hinsichtlich Messbarkeit von Spiritualität Bucher, 2014, 41-60) hat die psychologische Spiritualitätsforschung in den letzten Jahren Verbundenheit (connectedness) als Kernkomponente von Spiritualität bestimmt, und zwar in zwei Ausrichtungen: in horizontalem Verständnis als Verbundenheit mit Natur, Kosmos, Umwelt und sozialer Mitwelt sowie in vertikalem Verständnis als Verbundenheit mit – weitgehend nicht personal aufgefasster – Transzendenz/Göttlichkeit einerseits und mit dem eigenen Selbst andererseits. Letztere wird gegen jede Form von Narzissmus oder Egozentrismus im Sinne einer Selbsttranszendenz verstanden, mittels derer das Individuum erst fähig wird, sich mit dem oder den anderen zu verbinden und sich erst in dieser Selbstüberschreitung zu verwirklichen. Daraus ergibt sich die folgende von Bucher entworfene Strukturgrafik:

Spirituelles Lernen 1

Führt man nun die beiden semantischen Felder (weiter bzw. enger Spiritualitätsbegriff, horizontale bzw. vertikale Verbundenheit) zusammen, ergeben sich einerseits zwar inhaltliche Überschneidungen und auch Unschärfen, andererseits allerdings ein differenzierter Blick auf das Phänomen Spiritualität, wie die folgende Matrix zeigen kann:

Spirituelles Lernen 2

Diese exemplarischen Zuordnungen können nicht eindeutig und absolut trennscharf erfolgen. So müsste etwa das jüdisch und christlich verankerte Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe (Dtn 6,5; Lev 19,18; Mk 12,29-31) idealerweise in der Schnittlinie von vertikaler und horizontaler Verbundenheit stehen; oder die vielfältigen kollektiven und individuellen Ausprägungen eines christlichen Lebensstils oder spiritueller Lebensformen (Altmeyer/Boschki/Theis/Woppowa, 2006) sind wohl immer eine Mischung aus einem weiten und einem engen Spiritualitätsverständnis, weil in ihnen traditionelle Formen individuell anverwandelt werden. Darüber hinaus ermöglicht diese Matrix allerdings einen differenzierten Blick auf das Phänomen Spiritualität sowie die Bildung von Schwerpunkten in der Wahrnehmung und Deutung dieser Vielfalt. Es zeigt sich insbesondere auf Basis einer psychologischen Konstruktbestimmung, dass die Beschäftigung mit Spiritualität über kognitivistische Verengungen im Umgang mit der Domäne Religion hinausgehen kann und daher Chancen eines erfahrungsnahen oder erfahrungseröffnenden Lernens (Bucher, 2015, 20; Woppowa, 2018, 192) bereit hält, insbesondere auf horizontaler und anthropologischer Ebene jenseits der engeren Bestimmung als vertikaler Transzendenzverbundenheit bzw. pneumatologisch begründeter Gottesbeziehung.

3. Didaktische Entscheidungen

Vor dem Hintergrund der vorausgegangenen Begriffsbildung erscheint Spiritualität als vielschichtiges und nicht eindeutig zu greifendes Phänomen, dessen didaktische Kontextualisierung bzw. Bearbeitung einen mehrperspektivischen Zugang verlangt. Das gilt sowohl hinsichtlich der Mehrperspektivität des Gegenstands selbst (phänomenologisch, anthropologisch, theologisch, interreligiös, psychologisch etc.) als auch hinsichtlich der Subjekte, ihrer individuellen Ausdrucksformen und Suchbewegungen in Sachen Spiritualität sowie im Blick auf damit einhergehende Lernprozesse. Auf Seiten der Lehrenden setzt ein mehrperspektivischer Zugang sowohl spezifische religionspädagogische Kompetenzen (→ spirituelle Kompetenz; Karl, 2019; Woppowa, 2019) als auch die professionelle Reflexion eigener Überzeugungen und „spiritueller Positionalität“ (→ Spiritualität, Lehrende) voraus.

Ein mehrperspektivischer Zugang zum Phänomen und Begriff Spiritualität ist daher notwendige Prämisse, um sich insbesondere im Religionsunterricht als Fach öffentlicher Bildung jenseits glaubensorientierter Lernprozesse für die oben benannte Option entscheiden und spirituelle Lernprozesse initiieren zu können. Was dort legitim und möglich ist, kann nur in der Zielperspektive liegen, einen spirituellen Kompetenzerwerb von Schülerinnen und Schülern im Rahmen eines schulisch kompatiblen Bildungs- und Kompetenzbegriffs zu fördern und sie in der Ausbildung einer individuellen Spiritualität zu begleiten. Dabei muss es wiederum um eine offene Spiritualität gehen, die sich christlich ausbuchstabieren kann, aber keinesfalls muss und angesichts der bestehenden Freiheitsgrade von Schülerinnen und Schülern auch nicht darf. Der Unterricht würde demnach Lernangebote schaffen, in denen Kinder und Jugendliche an ihrer Wahrnehmungs-, Deutungs- und Ausdrucksfähigkeit arbeiten können, das heißt Wahrgenommenes vor einem persönlichen geistigen Hintergrund deuten und ausdrücken zu lernen. Im Blick auf diese Lernbewegung ist zunächst von einer sogenannten Spiritualitätsdidaktik „von unten“ (Bitter, 2003, 296) zu sprechen, die induktiv bei den lernenden Subjekten und ihren geistigen, spirituellen Suchbewegungen ansetzt. Eine Spiritualitätsdidaktik „von oben“ (Bitter, 2003, 296) hingegen beabsichtigt die innerhalb eines Lernprozesses vollzogene Verschränkung zwischen einer offenen, anthropologischen Spiritualität einerseits und einer engen, theologisch bzw. traditionell bestimmten Spiritualität andererseits. Letzterer wird dort eine größere Relevanz zukommen, wo es nicht primär um Bildungsprozesse geht, sondern vielmehr auch gezielte Möglichkeiten der Glaubenskommunikation und des Glaubensvollzugs bestehen (Pastoral, Katechese, Liturgie etc.). Diesen doppelten Lernprozess „von unten“ und „von oben“ bildet der sogenannte „Lernzirkel Spiritualität“ (ausführlich beschrieben in Woppowa, 2018, 195-199; Vorarbeiten bei: Altmeyer/Woppowa, 2006; Altmeyer, 2013) ab, in dem die beiden spiritualitätsdidaktischen Richtungen ebenso aufgenommen sind (radiale Lesart) wie ein gestufter Lernprozess zwischen Wahrnehmung und Ausdruck bzw. Selbstreflexion und Kommunikation (zirkuläre Lesart):

Spirituelles Lernen 3

Eine spiritualitätsdidaktisch gerahmte Kirchenraumbegehung würde beispielsweise die Lernenden dazu auffordern, den sakralen Raum nicht nur mit allen Sinnen wahrzunehmen (Lernschritt 1 des Lernzirkels: „kontextuell“), sondern auch den eigenen (räumlichen und spirituellen) Standpunkt darin zu suchen, für sich selbst deutend einzunehmen (Lernschritt 3: „subjektiv“) und nach außen hin körperlich oder verbal Gestalt werden zu lassen (Lernschritt 4: „ästhetisch“). Der Schüler, der seine geistige Mitte aus der Musik schöpft, würde sich vielleicht auf die Orgelempore setzen. Die Schülerin, für die Worte, Texte und Sprachbilder eine prinzipielle Orientierung in ihrem Leben darstellen, könnte sich an das Ambo oder auf die Predigtkanzel stellen. Spezifische Ausdrucksformen christlicher Spiritualität (Textlesung, Gesang, raumbezogene Praktiken etc.) können je nach Eignung gezielt eingespielt werden (vgl. den äußeren Ring des Lernzirkels) und sollten insbesondere auch lernortspezifisch (Schule oder Gemeinde, Bildung oder Katechese etc.) initiiert und gestaltet werden (für weitere auf dem Lernzirkel aufbauende unterrichtspraktische Beispiele und Methoden Woppowa, 2013).

Bei aller Ähnlichkeit und bestehender inhaltlicher Schnittmengen ist spirituelles Lernen schließlich zu unterscheiden sowohl von einem performativen Lernen im Sinne der performativen Religionsdidaktik (→ Performativer Religionsunterricht, evangelisch; → Performativer Religionsunterricht, katholisch) als auch von einem mystagogischen Lernen. Insofern das primäre Materialobjekt eines mystagogischen Lernens die Gottesfrage als Grund des christlichen Glaubens bildet und seine Zielperspektive darin liegt, entsprechende „Suchprozesse auf den lebendigen Gott hin auszulösen“ (Schambeck, 2012, 401), wird bereits eine von Beginn an theologische Stoßrichtung dieser Lernform deutlich. Demgegenüber verfolgt die Lernform des spirituellen Lernens insbesondere im Religionsunterricht einen im oben dargelegten Sinne anthropologischen, offenen und niederschwelligen Lernprozess vom lernenden Subjekt und dessen spirituellen Suchbewegungen aus, wobei Gestalt und Zielperspektive dieser Suchbewegungen zunächst offenbleiben. Und insofern ein performatives Lernen das Ziel verfolgt, angesichts eines weitreichenden Traditionsabbruchs von religiöser Praxis gezielt Elemente von Religion erlebbar und damit religiöse Praktiken zum Unterrichtsgegenstand zu machen, ist unterrichtlich relevantes spirituelles Lernen auch hiervon zu unterscheiden. Denn es geht ihm nicht exklusiv nur um Handlungsformen und rituelle Praktiken einer religiösen Tradition, sondern zunächst um die mehr oder weniger bewusst ausgeübte spirituelle Praxis von Menschen bzw. um deren nicht- oder vorreligiöse Formen von Spiritualität als Ausdruck ihrer geistigen Mitte. Erst im zweiten Schritt und durchaus lernortspezifisch sind traditionelle und institutionell angebundene Handlungsformen in den Blick zu nehmen (vgl. dazu den äußeren Ring des Lernzirkels).

4. Weiterführende Fragen, Herausforderungen und Fallvignetten

Aus dem Spannungsfeld didaktischer Rahmungen spiritueller Lehr-Lern-Prozesse – zwischen religiöser Bildung und Glaubenskommunikation, zwischen schulischem Religionsunterricht und Gemeindepastoral bzw. Katechese, zwischen solchen Leitkonzepten wie Erfahrung, Gnade und Freiheit, zwischen Anthropologie, Theologie und Psychologie etc. – ergeben sich weiterführende Fragen und Herausforderungen, von denen hier nur einige am Beispiel einzelner Fallvignetten aufgezeigt werden sollen:

4.1. Aus Sicht der Lehrerinnen- und Lehrerbildung

Paul, Masterstudent im Praxissemester bemerkt: „Zwei meiner Schülerinnen im Reli-Grundkurs haben letzte Woche gesagt, dass sie zwar spirituell seien, aber nicht religiös. Ich habe das einfach übergangen, denn mir ist der Unterschied nicht klar.“ (Zimmermann, 2019, 116). Die Auseinandersetzung mit Spiritualität respektive die Ausbildung einer spirituellen Selbstkompetenz sowie religionspädagogischen Handlungskompetenz ist bislang noch weitgehendes Desiderat in der Professionalisierung von (angehenden) Lehrkräften. Hier besteht Bedarf, sowohl hinsichtlich eigener Überzeugungen und Werthaltungen im Sinne von teacher beliefs als auch im Blick auf die lernenden Subjekte und deren individuelle oder durch Peers geprägte Vorstellungen von Religiosität und Spiritualität (weiterführend Zimmermann, 2019, 128-134; Karl, 2019; Woppowa, 2019, 196f.).

4.2. Aus Sicht der lernenden Subjekte (lernortspezifisch)

Judith, Masterstudentin im Praxissemester, berichtet: „Bei uns wird immer in der ersten Stunde gebetet, ist halt eine freie christliche Schule. Mein Eindruck ist aber, dass selbst an [dieser] Schule manche der Schülerinnen und Schüler überfordert sind, sie stören dann ganz provokativ. Nächste Woche bin ich dran. Blöd, dass wird dazu nie etwas an der Uni gemacht haben, und Erfahrung aus der Jugendarbeit habe ich auch nicht.“ (Zimmermann, 2019, 116). In dieser Fallvignette scheint zunächst der oben bereits benannte Kontext religionspädagogischer Professionalisierung auf. Darüber hinaus zeigen sich aber auch das Problem und die Herausforderung der Passung zwischen spiritualitätsdidaktischen Angeboten und Lernwegen (hier im Rahmen einer verpflichtenden Schulprogrammatik) einerseits und den Adressatinnen und Adressaten und ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten andererseits. Ähnliche Ungleichzeitigkeiten oder fehlende Passungen begegnen auch in der Sakramentenkatechese, wenn traditionelle spirituelle Praktiken rein deduktiv „von oben“ auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer treffen, ohne deren eigene, individuelle Spiritualität reflektiert zu haben. Die Frage stellt sich also, wie viel offener Such- und Reflexionsprozess in Sachen Spiritualität notwendig und welches Angebot an traditioneller Spiritualität möglich und kairologisch angezeigt ist.

4.3. Aus institutioneller Sicht (Gestaltung von Schulkultur)

Der bereits in der zweiten Fallvignette aufgerufene Kontext einer religiösen Schulprogrammatik kann spiritualitätsdidaktisch auch aus institutioneller Sicht betrachtet werden, insbesondere im Blick auf Schulen in christlich-kirchlicher Trägerschaft und deren Ritualpraktiken: „An einem Montagmorgen erkundigt sich der Vertretungslehrer in der ersten Stunde nach der Gebetspraxis in Klasse 7a. Niemand meldet sich, um das System zu erklären, nach dem der/die Vorbeter/in bestimmt wird. Alle blicken starr auf ihre Tische. Daher wählt der Lehrer einen beliebigen Schüler aus dem Klassenbuch aus, damit er aus dem Gebetsheft ein Gebet auswähle und vortrage. Nach längerem Suchen wählt der Schüler das kürzeste Gebet aus und liest es ohne Betonung sowie mit vielen Flüchtigkeits- und Lesefehlern vor. Noch bevor das Morgengebet mit dem Kreuzzeichen abgeschlossen werden kann, sitzen bereits fast alle Schülerinnen und Schüler wieder auf ihren Plätzen.“ (Beobachtung aus dem Praxissemester, nach Reineke, 2019, 33). Schule als Lebensraum für eine in hohem Maße heterogene Gruppe von Menschen muss ein ritualisiertes Schulleben bzw. Elemente von Schulkultur heterogenitätssensibel gestalten, um den beteiligten Subjekten überhaupt die Relevanz solcher Praktiken (wie hier dem gemeinsamen ritualisierten Tagesbeginn) aufzeigen zu können. Wäre es im Blick auf die Problematik dieser Fallbeschreibung nicht zielführender, dabei „von unten anzusetzen und das Morgengebet o.ä. im Sinne des oben vorgestellten Lernzirkels subjekt- und erfahrungsorientierter zu gestalten? Andere Rahmungen, wie exemplarisch die folgende Fallvignette zeigt, können durch niederschwellige Praktiken diesbezüglich mehr Relevanz schaffen: „Zu Beginn der ersten Stunde versammeln sich die Schüler im Raum der Stille zur sogenannten Adventseinstimmung. Es brennt nur wenig Licht, alle erhalten eine kleine Kerze. Es läuft leise Musik. In ruhigem Ton werden kurze besinnliche Texte und Gedanken vorgetragen und anschließend von einem Lehrer sowie Schülerinnen und Schülern in freien Worten ausgelegt. Die Einstimmung schließt mit dem Entzünden der Kerzen im abgedunkelten Raum und einem freiwillig gesprochenen Vaterunser. Noch in der großen Pause sieht man Schülerinnen und Schüler, die noch immer bemüht sind, ihr Licht an der offenen Kerze aus der morgendlichen Andacht mit größter Sorgfalt durch den Tag zu bewahren.“ (Beobachtung aus dem Praxissemester, nach Reineke, 2019, 43).

4.4. Aus interreligiöser Sicht

Religionsdidaktische Bemühungen um spirituelles Lernen sind durchaus anschlussfähig an anderskonfessionelle bzw. andersreligiöse Perspektiven, wenn sie das Phänomen Spiritualität in der oben aufgezeigten Weise mehrperspektivisch begreifen. Im Blick auf religiös heterogene Lerngruppen oder auf die Kooperation von katholischem und evangelischem Religionsunterricht oder christlichem Religionsunterricht mit islamischem oder jüdischem Religionsunterricht wäre zu fragen, wie auf der konzeptionellen Theorieebene Spiritualitätsdidaktik interreligiös ausbuchstabiert werden kann und wie auf der Praxisebene die Vielfalt spiritueller Phänomene, Formen und Praktiken in den Weltreligionen miteinander ins Gespräch gebracht werden können. Denn bedenkenswert bleibt doch der immer wieder bestätigte Eindruck, dass sich fremde religiöse Traditionen auf dem Feld der Spiritualität überraschend nahekommen und beachtliche Schnittmengen aufweisen können (bspw. Grün/Karimi, 2019; Kermani, 2015).

4.5. Aus fachübergreifender Sicht

Schließlich ermöglicht ein mehrperspektivischer Umgang mit Spiritualität, insbesondere auf Basis der Erkenntnisse einer psychologischen Spiritualitätsforschung, die eigenen Fachgrenzen zu überschreiten und analoge Lernwege in den Blick zu nehmen. So hat sich beispielsweise in der Natursoziologie sowie in der Biologiedidaktik ein Ansatz entwickelt, der die sogenannte Psychotoperfahrung ins Zentrum eines naturpädagogischen Lernens rückt (Trommer, 1998; Jung, 2014). Diese an ausgewählten Orten seelischer Zentrierung und Selbstvergewisserung gemachte Erfahrung „ist ein wichtiges Element auf dem Weg zu psychosozialer Nachhaltigkeit, weil sie Beziehung zur Natur, zu (anderen) Menschen und zu sich selbst aktiviert.“ (Jung, 2014, 6). Unter der didaktischen Zielperspektive nachhaltiger Umweltbildung durch Stiftung einer Naturbeziehung wird ein Lernprozess entworfen, der – spiritualitätsdidaktischen Entwürfen nicht unähnlich – die Dimension der Beziehung und Verbundenheit (mit Um- und Mitwelt), den Wechsel zwischen Eindruck und Ausdruck sowie einzeln ausgewiesene Lernschritte aufweist (Jung, 2014). Ein spirituelles Lernen in der Schule, das auf einem offenen Spiritualitätsbegriff basiert und insbesondere die Dimension horizontaler Verbundenheit thematisiert, sollte analoge – im engeren Sinne auch nichtreligiöse – Formen und diesbezügliche fachdidaktische Theoriebildung zur Kenntnis nehmen.

Literaturverzeichnis

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Abbildungsverzeichnis

  • Spiritualität als Verbundenheit. Nach: Bucher, Anton A., Psychologie der Spiritualität. Handbuch, Weinheim/Basel 2. Aufl. 2014, 40 © Jan Woppowa
  • Phänomene von Spiritualität als anthropologisch-theologisches und psychologisches Konstrukt © Jan Woppowa
  • Lernzirkel Spiritualität. Aus: Woppowa, Jan, Ein besonderer Modus der Weltbegegnung? Spirituelle Bildung und spirituelles Lernen in der Schule, in: RelliS Nr. 16 (2015) 2, 21 © Jan Woppowa/Verlagsarchiv Schöningh

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