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Soziale Frage (19. Jahrhundert)

(erstellt: Februar 2018)

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1. Lebensweltliche Verortungen

Die Soziale Frage (in Majuskeln) ist nicht eine soziale Frage (in Minuskeln). Vielmehr bezeichnet dieser feststehende Begriff ein zentrales Problem der Industrialisierung und somit einer bedeutenden Epoche der deutschen und europäischen Geschichte. Im 19. Jahrhundert wurden angesichts der Sozialen Frage Weichenstellungen vorgenommen, die das Gemeinwesen bis heute prägen.

Vieles, was heute so allgegenwärtig ist, dass man es als selbstverständlich erachtet, hat seinen Ursprung in der Suche nach Antworten auf die Soziale Frage: das Sozialversicherungswesen, die Rolle der Gewerkschaften, die sozialdemokratischen Parteien, die Arbeitsschutzbestimmungen etc. Aber nicht nur im politisch-gesellschaftlichen, sondern auch im kirchlich-religiösen Bereich finden sich viele Phänomene und Einrichtungen, deren Ursprünge ins 19. Jahrhundert reichen: kirchliche Krankenhäuser, Altenheime und Sozialstationen, die Bahnhofsmission, → Caritas und Diakonie als kirchliche Sozialverbände oder aber die sozial-karitativen Ordensgemeinschaften und die Diakonissen. Ebenso sind hier die Ursprünge religiösen Brauchtums zu finden, wie etwa der Adventskranz, der aus der kirchlichen Jugendarbeit Johann Hinrich Wicherns hervorgegangen ist. Auch hat die Sozialverkündigung der Kirchen in ihrer modernen Form ihren Ursprung in der Auseinandersetzung mit den sozialen Folgen der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert.

Nicht nur Jugendlichen sind diese Hintergründe und Zusammenhänge nicht mehr bewusst. Die (religions-)unterrichtliche Auseinandersetzung mit der Sozialen Frage ist also in gewisser Weise auch eine historische Spurensuche und – im Sinne eines chronologisch-genetischen Lernens (Barricelli, 2007, 45-47) – ein Fragen nach dem historischen Geworden-Sein von Sozialstaatlichkeit und der gegenwärtigen Rolle der Kirchen in der Sozialpolitik sowie ihres diakonischen und karitativen Wirkens.

In der Schule wird die Soziale Frage primär im Geschichtsunterricht, aber auch in Fächern wie Deutsch, Englisch oder Kunst thematisiert. Religionslehrpläne vieler Bundesländer sehen die Auseinandersetzung mit der Sozialen Frage explizit vor. Aus der Perspektive des Religionsunterrichts ergeben sich daraus Chancen, aber zugleich auch Herausforderungen: Einerseits bieten sich Synergieeffekte durch fächerverbindendes Arbeiten, andererseits muss der Religionsunterricht bei der Behandlung des Themas sich seines spezifischen Profils bewusst sein.

Diese spezielle Perspektive liegt vor allem darin, aufzuzeigen, wie Christen als Individuen und wie die Kirchen als Institutionen angesichts konkreter Missstände aus ihrer Glaubensmotivation heraus aktiv wurden. Die Ursprünge des gegenwärtigen sozialen und sozialpolitischen Engagements der Kirchen können hier ebenso thematisiert werden, wie die Entwicklung der modernen und institutionalisierten, diakonischen und karitativen Dienste der Kirchen. Im Fokus stehen hierbei nicht nur Personen und Institutionen, sondern auch die normativen Leitlinien und (sozial-)ethischen Erwägungen.

Bedeutsam ist, dass die Behandlung der Sozialen Frage im Religionsunterricht nicht primär von historischem Interesse geleitet ist, sondern vielmehr im Kontext der übergeordneten Ziele des Religionsunterrichts zu sehen ist, etwa der Förderung der Persönlichkeitsentwicklung (z.B. durch historische „Vorbilder“; → Modelllernen) oder der Vermittlung religiösen Orientierungswissens in einer christlich geprägten Kultur (kulturhermeneutische Funktion; → Kulturpädagogik). Am Beispiel der Sozialen Frage können Grundkategorien des Christlichen wie etwa die Nächstenliebe in historischen Konkretionen aufgezeigt werden, um so die ethische Entscheidungs- und Handlungskompetenz (→ Bildung, ethische) und die Motivation zum sozialen Engagement zu fördern.

2. (Kirchen-)Geschichtliche Klärungen

Bei dem Terminus „Soziale Frage“, der seit den 1840er Jahren in der deutschsprachigen Literatur verwendet wird, handelt es sich um eine direkte Übersetzung des französischen Begriffs question sociale. Im 19. Jahrhundert wurde der Begriff weniger als analytische Kategorie herangezogen, sondern hatte vielmehr einen normativen Charakter: Es ging im Kern um gerechte Beziehungen zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen angesichts der Industrialisierung und der wirtschaftlichen Entwicklung. Zentral war hierbei die Frage nach dem angemessenen Verhältnis von → Freiheit einerseits und Gleichheit (→ Chancengleichheit) andererseits (Fischer, 1988, 104-106).

2.1. Die Soziale Frage in ihrem historischen Kontext

2.1.1. Industrialisierung und Industrielle Revolution

Mit dem Terminus „Industrielle Revolution“ werden im Allgemeinen jene Umbruchsprozesse bezeichnet, die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Übergang von einer agrarisch geprägten, traditionellen und vorindustriellen Wirtschaftsgesellschaft hin zu einer modernen Industriegesellschaft begleiteten (Hahn, 2011). Es war die Zeit, in der sich in den Fabriken die maschinelle Massenproduktion durchsetzte, erstmals natürliche Rohstoffe wie Kohle und Eisen im großen Stile genutzt wurden und die Produktivität durch konsequente Umsetzung der Arbeitsteilung in den Fabriken zunahm. Freie Lohnarbeit wurde erstmals zur dominierenden Erwerbsform breiter Bevölkerungsschichten. Die Industrielle Revolution begann in England und setzte sich mit einer zeitlichen Verzögerung auch auf dem europäischen Festland fort (Göbel, 2000, 8-14).

Es kam in dieser Zeit zu grundlegenden Änderungen der Wirtschaftsstruktur (Lenger, 2003, 30-84): Eine Schlüsselrolle kam hier dem Ausbau des Eisenbahnwesens zu. In den 1840er Jahren machten die Ausgaben für das Eisenbahnwesen etwa 20 bis 30 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Investitionen aus; im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts waren phasenweise bis zu 400.000 Menschen direkt in diesem Bereich beschäftigt. Der Ausbau des Transportwesens sorgte nicht nur für eine enorme Nachfrage nach Kohle und Stahl. Auch das Kredit- und Finanzwesen erlebte einen Aufschwung. Der Großteil der Bahnen war in privater Hand, so dass enorme finanzielle Mittel mobilisiert werden mussten, um diese Projekte zu realisieren. Dies geschah zu einem großen Teil durch die Ausgabe von Aktien. Mit den verbesserten Transportmöglichkeiten sanken die Transportkosten etwa für Steinkohle um nahezu drei Viertel (der Transport von Steinkohle machte in Preußen in den 1870er Jahren fast ein Drittel der gesamten Güterbeförderung aus). Dennoch blieb der Kohletransport ein erheblicher Kostenfaktor: Ruhrkohle etwa war in Stuttgart bis zu sechsmal so teuer wie am Grubenort (Lenger, 2003, 38). Dies erklärt auch, warum sich die Schwerindustrie vor allem in jenen Gebieten etablierte, in denen reiche Kohlevorkommen vorhanden waren. In Deutschland waren die Leitregionen vor allem das Ruhrgebiet, der Großraum Berlin, das Königreich Sachsen, die Saarregion und Oberschlesien. Die treibende Kraft der Industriellen Revolution waren der bereits erwähnte Eisenbahnbau, Schwerindustrie und Kohlebergbau sowie der Maschinenbau. Bedeutend waren ebenfalls die Textilindustrie und später durch die Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage zudem die Konsumgüterindustrie. Auch die Entwicklungen in der chemischen Industrie waren von großer Bedeutung, da sie Auswirkungen auf andere Wirtschaftsbereiche hatten (synthetische Düngemittel für die Landwirtschaft oder Farbstoffe für die Textilindustrie etc.). Neben den Dampfmaschinen war es später vor allem die Elektroindustrie, von der wichtige Impulse für die weitere industrielle Entwicklung ausgingen.

2.1.2. Gesellschaftliche Entwicklungen

Die wirtschaftliche Entwicklung ging einher mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Folgen. Zugleich aber waren bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen maßgeblich für den Beginn der Industriellen Revolution. Die ständisch organisierte traditionelle Gesellschaft, die vor allem durch landwirtschaftliche Produktion geprägt war, war eher statisch. Dynamisiert wurde sie in Deutschland im 19. Jahrhundert durch Entwicklungen wie die Bauernbefreiung, also die Aufhebung der Leibeigenschaft und der Grundherrschaft, wie sie etwa 1807 in Preußen und 1808 in Bayern vollzogen wurden. Mit der Möglichkeit der Bauern, ihre Höfe selbst zu bewirtschaften und der so etablierten Bewegungsfreiheit wurden Grundvoraussetzungen für die Industrielle Revolution geschaffen, da die Arbeitskräfte nun dort hinziehen konnten, wo es Arbeit gab. Zugleich aber entstand mit der Bauernbefreiung ein neues Landproletariat, da viele Bauern von der Bewirtschaftung ihres Landes nicht leben konnten. Gleichzeitig entfiel die soziale Schutzverpflichtung der Grundherren gegenüber den Landarbeitern. Ähnlich ambivalente Folgen hatte die Einführung der Gewerbefreiheit zwischen 1807 (Preußen) und 1868 (Bayern), also die Aufhebung der Zunftordnung und anderer ständischer Handelsbeschränkungen. Einerseits wurden Eigeninitiative und Unternehmergeist gefördert, andererseits ging mit der Beseitigung der Zunftordnung auch die soziale Sicherung verloren, die diese geboten hatte. Verbunden mit einem enormen Bevölkerungswachstum nahm auch die Zahl der Arbeitskräfte zu – eine weitere wichtige Voraussetzung für die Industrielle Revolution.

Was sich für die wirtschaftliche Entwicklung als vorteilhaft erwies, hatte schwerwiegende soziale Konsequenzen: Das Überangebot an Arbeitskräften und die Konkurrenz unter den Handwerken hatte Einkommen zur Folge, die nur knapp über dem Existenzminimum lagen. Die Landflucht führte zu einem Anwachsen der Städte. Auch transnationale Migration spielte hierbei eine Rolle – etwa die polnischen Arbeiter, die sich im Ruhrgebiet niederließen.

Die Arbeitssuchenden konzentrierten sich in den neu entstehenden Industriezentren. In der Nähe der Fabriken entstanden Arbeiterkolonien und Mietskasernen, in denen die Arbeiter und ihre Familien unter prekären Bedingungen lebten (hohe Mieten, äußerst beengte Wohnungen, gesundheitsschädliches Umfeld, desolate hygienische Bedingungen etc.). Prekär waren auch die Arbeitsbedingungen: lange Arbeitszeiten, hohe gesundheitliche Belastung, fehlende Schutz- und Sicherheitsmaßnahmen etc. Die Arbeiter wurden zu Dienern der Maschinen und hatten sich deren Takt und Tempo zu unterwerfen. Da die Löhne äußerst niedrig waren, mussten häufig auch die Frauen und die Kinder in den Fabriken arbeiten, um das Überleben der Familie zu sichern. Es entstand ein marginalisiertes und verarmtes Industrieproletariat.

Der Pauperismus wurde immer mehr zum Problem, über das auch die eigentlich prosperierende Wirtschaft und der wachsende Wohlstand vor allem der Mittel- und Oberschichten nicht hinwegtäuschen konnten. Die Soziale Frage wurde im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zu einem zentralen Thema der deutschen Politik und stellte eine Herausforderung für Parlament, Parteien, für die Regierung, die Wirtschaft und die Unternehmen dar. Im Folgenden werden einige bedeutende weltlich-politische Lösungsvorschläge vorgestellt (Göbel, 2000, 101-120).

2.1.3. Weltlich-politische Lösungsansätze

Sozialistische Ansätze

Die bürgerliche Gesellschaft mit ihrer ungleichen Verteilung von Macht und Reichtum sowie der Konzentration der Produktionsmittel in den Händen weniger wurde von den sozialistischen Denkern als Hauptursache der sozialen Misere identifiziert. Die Lösung der Sozialen Frage wurde mithin in der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse gesehen. Nach der Vorstellung von Karl Marx (1818-1883) sollten diese durch eine Revolution abgeschafft werden. Der Klassenkampf sollte den Übergang zur sozialistischen bzw. kommunistischen Gesellschaft ermöglichen, in der das Privateigentum abgeschafft und die Produktionsmittel verstaatlicht werden. Mit dem Absterben des Staates in der kommunistischen Gesellschaft würde so der Besitz an den Produktionsmitteln sozialisiert werden; da die Entfremdung durch die Arbeitsteilung aufgehoben wäre, würde sich ein jeder „nach seinen Fähigkeiten“ einbringen und „nach seinen Bedürfnissen“ erhalten, wie Marx in der „Kritik des Gothaer Programms“ im Jahr 1875 schrieb.

Arbeiterbewegung und Gewerkschaften

In Deutschland kam es im Kontext der Revolution von 1848 zu ersten Zusammenschlüssen von Arbeitern. Ab dem Ende der 1840er Jahre gab es immer wieder Streiks und kollektive Aktionen (vor allem von den Industrie- und Eisenbahnarbeitern), mit denen die Streikenden eine Verbesserung der Löhne sowie eine Verkürzung der Arbeitszeiten erreichen wollten. Diese Streiks konnten auch durch das Verbot der Zusammenschlüsse von Arbeitern 1858 nicht vollends unterbunden werden.

Von großer Bedeutung für die Entwicklung der Arbeiterbewegung waren die 1860er Jahre, in denen neben Gewerkschaften auch zwei Arbeiterparteien entstanden: Ferdinand Lassalle (1825-1864) war der erste Vorsitzende des 1863 in Leipzig gegründeten „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins“ (ADAV), eines eher gemäßigten und reformorientierten Zusammenschlusses, der vor allem die Verbesserung der Situation der Arbeiter durch eine staatliche Gesetzgebung sowie ein allgemeines, direktes und geheimes Wahlrecht forderte. Die 1869 unter August Bebel (1840-1913) und Wilhelm Liebknecht (1826-1900) gegründete „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“ verfolgte einen revolutionären Ansatz zur Überwindung der Verhältnisse. Beide Parteien schlossen sich 1875 in Gotha zur „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands“ (SAP) zusammen. Im Gothaer Programm forderten sie u.a. das Herbeiführen einer sozialistischen Gesellschaft ohne Gewaltanwendung, das allgemeine Wahlrecht, stärkere politische Teilhaberechte der Bevölkerung, Abschaffung jener Gesetze, die die Arbeiterschaft einschränkten, allgemeines Koalitionsrecht etc.

Die Regierung Bismarck versuchte, die Arbeiterbewegung durch die sogenannten Sozialistengesetze, die von 1878 bis 1890 gültig waren, zu unterdrücken und ihr zugleich durch die Sozialgesetzgebung den Nährboden zu entziehen.

Privatwirtschaftliche Initiativen

Auch wenn die Mehrheit der Unternehmer gewinnorientiert war und in der Sozialen Frage primär ein Problem sah, das von den Arbeitern selbst verschuldet war bzw. von ihnen selbst gelöst werden sollte, gab es auch Unternehmer wie etwa Alfred Krupp (1812-1887) oder Robert Bosch (1861-1942), die aus religiösen, philanthropischen oder auch aus wirtschaftlichen Gründen Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Fabrikarbeiter ergriffen. Meist waren es patriarchalische Unternehmerpersönlichkeiten, die etwa Betriebskassen (Krankheit, Altersversorgung, Invalidität etc.), Konsumvereine zur Senkung der Lebenshaltungskosten, Schulen, Betriebswohnungen etc. einrichteten.

Staatliche Sozialpolitik

Voraussetzung einer staatlichen Sozialpolitik war die Einsicht, dass die Soziale Frage einer umfassenden politischen Lösung bedurfte und dass Barmherzigkeit nicht ausreichte, um die Probleme zu lösen. An der Sozialpolitik der Bismarck’schen und der Wilhelminischen Zeit erweist sich das ambivalente Verhältnis zur Arbeiterschaft: Einerseits wurden für die damalige Zeit vorbildliche sozialpolitische Maßnahmen ergriffen, andererseits zeigt sich das Misstrauen gegenüber der Arbeiterbewegung und den Gewerkschaften in den repressiven Sozialistengesetzen.

Zu den Bismarck’schen Sozialgesetzen zählen die 1883 etablierte Krankenversicherung, die Unfallversicherung (1884) und die Renten- und Invaliditätsversicherung (1889). Diese Gesetze zeigen den Wandel von einem liberal geprägten Nachtwächterstaat hin zu beginnender Sozialstaatlichkeit.

2.2. Die Kirchen und die Soziale Frage

Die Kirchen als Institutionen taten sich zu Beginn schwer, angemessene Antworten auf die soziale Problematik zu finden: Die evangelische Kirche konnte aufgrund ihrer engen Bindung an den Staat hier kaum als Korrektiv fungieren. Die katholische Kirche ihrerseits war vor allem mit der Abwehr des Modernismus, mit dem Kulturkampf oder der neuen Weltanschauungen wie dem Sozialismus beschäftigt.

Es waren in beiden Konfessionen vor allem Einzelpersönlichkeiten, die die Zeichen der Zeit erkannten und darauf zu reagieren wussten. Aus dem Engagement dieser Individuen ergab sich dann eine wachsende Sensibilisierung der Institutionen für die Soziale Frage und die Herausbildung eines Sozialkatholizismus bzw. -protestantismus.

2.2.1. Die evangelische Kirche und die Soziale Frage

Eine der einflussreichsten Persönlichkeiten des sozialen Protestantismus des 19. Jahrhunderts war der Theologe und Pädagoge Johann Hinrich Wichern (1808-1881), der im Rahmen seiner Lehrertätigkeit mit den verarmten und von sittlicher Verwahrlosung bedrohten Hafen- und Arbeitermilieus Hamburgs in Kontakt kam. Im Jahr 1833 gründete er das „Rauhe Haus“ im Hamburger Vorort Horn, wo in sozialpädagogischen Wohngruppen zunächst perspektivlose, alleinstehende und gefährdete Jungen, später aber auch Mädchen aufgenommen wurden. Durch Betreuung, → Bildung und berufliche Qualifizierung sollten diese benachteiligten Jugendlichen zu einer selbstständigen Lebensführung befähigt werden. 1839 gründete er das „Brüderhaus“ zur sozialdiakonischen Ausbildung für Mitarbeiter des "Rauhen Hauses", aber auch für andere Tätigkeitsfelder. Auch die „Innere Mission“ geht auf Wicherns Initiative zurück. Sein Anliegen war es, im Sinne einer „aufsuchenden Kirche“ auf jene marginalen Sektoren zuzugehen, die weder im Fokus der Gesellschaft, noch der Kirche lagen. Es ging darum, die subalternen Schichten in ihren Lebenswirklichkeiten (Wohnung, Betriebe, Bahnhöfe etc.) aufzusuchen. Wichern sah in einer Kombination aus Selbsthilfe, Diakonie und staatlicher Sozialpolitik den Schlüssel zur Lösung der Sozialen Frage. Wicherns Anliegen wurde zunächst kritisch beäugt. Bei einer mitreißenden Rede auf dem ersten Evangelischen Kirchentag (→ Deutscher Evangelischer Kirchentag) 1848 in Wittenberg gelang es ihm aber, für seine Position zu werben, dass diese Innere Mission zu den genuinen Aufgaben der Kirche gehöre. Die diakonische Tätigkeit wurde innerhalb der evangelischen Kirche institutionalisiert. So entstand der „Central-Ausschuss für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche“, die Vorläuferorganisation des heutigen Diakonischen Werks der EKD. In der Folge entstanden vielerorts Stadtmissionen und sozialdiakonische Einrichtungen (Kaiser/Greschat, 1996; Kaiser, 2008).

Eine bedeutende Initiative ging von dem evangelischen Pfarrer Friedrich von Bodelschwingh (1831-1910) aus, der von 1872 an die „Rheinisch-Westfälische Anstalt für Epileptische“ in Bethel bei Bielefeld leitete. Die Einrichtung wurde schnell zu einer der größten der Inneren Mission. Neben der Behindertenfürsorge widmete Bodelschwingh auch den Wanderarbeitern große Aufmerksamkeit und setzte sich für den Bau angemessener Wohnsiedlungen für Arbeiter ein. Noch heute spielen die von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel eine bedeutende Rolle in der sozialdiakonischen Arbeit der evangelischen Kirche (www.bethel.de/ueber-uns/geschichte-bethels.html).

Ähnlich bedeutsam waren das Ehepaar Theodor und Friederike Fliedner (1800-1864 bzw. 1800-1842). Als Pfarrer kam Fliedner in Kaiserswerth bei Düsseldorf in Kontakt mit den Lebenswirklichkeiten von Strafgefangenen; 1826 gründete er die „Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft“ und setzte sich für die Verbesserung der Lebenssituation Inhaftierter sowie für deren Resozialisierung ein. Im Jahr 1836 eröffnete er mit seiner Frau, einer ausgebildeten Lehrerin und Krankenpflegerin, in Kaiserswerth das erste Diakonissenkrankenhaus. Auf Fliedner geht auch das evangelische Diakonissenamt zurück: Unverheiratete Frauen widmen sich ganz dem sozialdiakonischen Dienst und leben gemeinschaftlich in „Schwesternschaften“. Dieses Berufsbild erlangte schnell eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz. Zum Schutz und als äußeres Erkennungszeichen tragen sie meist eine Schwesterntracht (dunkles Kleid, Schürze, weiße Haube bzw. Schleier). Bis heute spielen die Diakonissen eine wichtige Rolle im Gesundheitswesen und in der Sozialdiakonie (Gause/Lissner, 2005; Kaiser/Scheepers, 2010).

2.2.2. Die katholische Kirche und die Soziale Frage

Im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden – zunächst vor allem in Frankreich, später aber auch in vielen anderen Ländern – zahlreiche sozialkaritative Ordensgemeinschaften, vor allem Frauenorden. Häufig handelt es sich hierbei um Gemeinschaften diözesanen Rechts, die auf die Initiative von Einzelpersonen (Priester, Bischöfe, Laien) zurückgehen und zunächst lokal oder regional in der Kranken- und Armenpflege oder in der Fürsorge für gefährdete Jugendliche tätig waren. Viele Gemeinschaften weiteten ihren Tätigkeitsbereich aus (Schaffer/Gatz, 1997; Meiwes, 2008).

Einer anderen gefährdeten Gesellschaftsgruppe widmete Adolf Kolping (1813-1856) seine Aufmerksamkeit: den (wandernden) Handwerksgesellen. Von 1849 an gründete er in Köln den „Katholischen Gesellenverein“ und sorgte sich um menschenwürdige Unterkünfte für die Wandergesellen (später wurden diese Häuser „Kolpinghäuser“ genannt). Daneben engagierte er sich für deren sittliche, religiöse und soziale Bildung. Kolping kannte die Probleme der Gesellen aus direkter Anschauung: Aus einer armen Familie stammend war er zunächst als Schustergeselle selbst auf Wanderschaft, bevor er 1845 zum Priester geweiht wurde. Seinem Vorbild folgend wurden in anderen Städten und Ländern ähnliche Unterkünfte für Gesellen eingerichtet (Kracht, 1993). Das „Kolping-Werk“ ist noch heute ein wichtiger katholischer Sozialverband, der sich vor allem in den Feldern Jugendarbeit und berufliche Bildung betätigt.

Die prägende Gestalt des deutschen Sozialkatholizismus war Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler (1811-1877), der sich von 1848 an, zwei Jahre bevor er Bischof von Mainz wurde, als Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung mit der Sozialen Frage befasste. Beim ersten Katholikentag in Mainz (1848) vertrat er noch die Position, dass die Lösung der Sozialen Frage vor allem von der Kirche gefunden werden müsste, da der Staat dazu nicht in der Lage sei. Auch sah er deren Ursache zunächst im Abfall vom christlichen Glauben. Die Lösung lag für ihn mithin in der Stärkung der Religion und in der moralischen Aufrichtung des Menschen.

Seine Ansichten wandelten sich mit der Zeit: 1864 erwog er die Gründung von Produktivassoziationen, in denen die Arbeiter neben Arbeitslohn zugleich Gewinnanteile erhalten sollten. Er forderte den Schutz der Arbeiterfamilien, das Recht der Arbeiter auf Arbeitskampfmaßnahmen, das Verbot der Sonn- und Feiertagsarbeit, die gesetzliche Regelung der täglichen Arbeitszeit etc. Kettelers Ideen wurden nicht nur für die Sozialpolitik der Zentrumspartei, sondern auch für die Katholische Soziallehre prägend: Auch wenn Selbsthilfe und kirchliches Engagement Beiträge zur Lösung der sozialen Fragen leisten könnten, so sei es doch zunächst der Staat, der durch sozialpolitische Maßnahmen Lösungen suchen müsse. Es handelt sich um eine Wende von der reinen Caritas zur Politik (Spieker, 2001, 184f.).

Richtungsweisend für den deutschen Sozialkatholizismus war auch Lorenz Werthmann (1858-1921), der 1897 in Köln den Charitasverband für das katholische Deutschland gründete; seit 1921 heißt der Verband Deutscher Caritasverband (DCV). Er gehört bis heute zu den Spitzenverbänden im Sozialwesen (www.caritas.de).

Unter Papst Leo XIII. wurde die Soziale Frage Gegenstand der kirchlichen Sozialverkündigung. Die Enzyklika Rerum Novarum (1891) gilt als die erste Sozialenzyklika und als Beginn der Katholischen Soziallehre. Leo XIII. stellte die Soziale Frage in den Mittelpunkt und versuchte, die Forderung nach Gerechtigkeit mit der nach Freiheit zu verbinden. Er wandte sich gleichermaßen gegen die liberale Vorstellung eines Nachtwächterstaates und gegen die sozialistischen Vorstellungen einer Diktatur des Proletariats. Vielmehr forderte er einen Staat, der – entgegen sozialistischen Vorstellungen – das Privateigentum schützt, zugleich aber das Gemeinwohl fördert und die Rechte der Arbeiter aktiv verteidigt (etwa das Recht auf einen angemessenen Lohn, arbeitsfreie Sonntage, Schutz von Frauen und Kindern, Recht auf Eigentumsbildung, Recht auf Koalitionsfreiheit der Arbeiter etc.). Rerum Novarum bildete fortan den normativen Rahmen für das gesellschaftspolitische Agieren der katholischen Kirche (Anzenbacher, 1997, 138-158).

3. Religionsdidaktisch‐praktische Überlegungen

Die große historische Bedeutung der Sozialen Frage spiegelt sich nur selten in einem entsprechenden Interesse der Schülerinnen und Schüler für diese Thematik wieder. Da die Soziale Frage auch in anderen Unterrichtsfächern (insbesondere Geschichte, Deutsch, Kunst) thematisiert wird, ist zu prüfen, welchen zusätzlichen Beitrag die Auseinandersetzung damit im Religionsunterricht erbringen kann und soll. Ziel der religionsunterrichtlichen Beschäftigung mit dem Thema (→ Kirchengeschichtsdidaktik) ist in der Regel nicht, einen vornehmlich systematischen kirchengeschichtlichen Überblick zu bieten.

Warum lohnt es dennoch, sich im Religionsunterricht mit der Sozialen Frage zu befassen? Welche Aspekte und Themen eignen sich hier besonders? Wie kann die Soziale Frage gewinnbringend im Religionsunterricht behandelt werden? Im Folgenden werden einige religionsdidaktische und -methodische Überlegungen vorgestellt, die für die Auseinandersetzung mit der Sozialen Frage im Religionsunterricht fruchtbar gemacht werden können.

3.1. Synergien nutzen – fächerverbindender Unterricht

Die Soziale Frage ist als Thema in den Lehr- und Bildungsplänen mehrerer Fächer vorgesehen. Wenn es sich unterrichtsorganisatorisch einrichten lässt, so ist es ratsam, die Soziale Frage im Verbund mit anderen Unterrichtsfächern zu behandeln bzw. sich im Religionsunterricht damit zu befassen, nachdem die Schülerinnen und Schüler ein Grund- und Kontextwissen bereits in den anderen Fächern erarbeitet haben. Die neuen Aspekte können so besser eingeordnet und kontextualisiert werden.

Das erste Bezugsfach ist sicherlich der Geschichtsunterricht, in dem diese Themen vor allem unter sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Aspekten behandelt werden. Aber auch im Deutschunterricht lassen sich zahlreiche Bezüge herstellen, etwa in der Behandlung von Gerhard Hauptmanns Drama Die Weber oder von Ferdinand von Freiligraths Aus dem schlesischen Gebirge (→ Kirchengeschichte, Literatur als didaktischer Zugang). Ähnlich kann auch im Englischunterricht einschlägige Literatur der viktorianischen Zeit erarbeitet werden, wie etwa Charles Dickens Oliver Twist, der vor allem die Kinderarmut thematisiert, oder Elizabeth Gaskells Industrieroman North and South. Auch im Kunstunterricht (→ Kunst, kirchengeschichtsdidaktisch) können die Industrialisierung und die Soziale Frage Thema sein, etwa bei der Auseinandersetzung mit Naturalismus und Realismus, im Werk von Heinrich Zille oder von Käthe Kollwitz oder aber im Kontext der Architektur bei der Behandlung der Anfänge des sozialen Wohnungsbaus.

3.2. Modellernen – Zugang über Biographien und Einzelpersonen

Wie deutlich wurde, waren es oftmals Einzelpersönlichkeiten, die sich durch die soziale Misere angefragt sahen und aus ihrer christlichen Motivation heraus aktiv wurden. In diesem Sinne bietet es sich an, kirchliche Antwortversuche auf die Soziale Frage im Sinne eines Modelllernens an Einzelpersönlichkeiten zu verdeutlichen. Schülerinnen und Schüler können sich so mit konkreten Lebensentwürfen auseinandersetzen, sich mit ihnen identifizieren oder sich von ihnen abgrenzen. An diesen Biographien wie etwa Don Bosco (https://www.donbosco-macht-schule.de/fileadmin/Kundendaten-macht-Schule/Unterrichtsangebote/Don-Bosco-1-6/Froehlich_sein_Gutes_tun_Unterrichtsmaterial_2012.pdf) oder Johann Hinrich Wichern (Baur, 2008) können christliche Motive und Motivationen erkannt und diskutiert werden (Lindner, 2016, 211f.; → Lernen, biografisches; → Lernen, diakonisches).

Wichtig ist hierbei herauszuarbeiten, wie die gesellschaftlichen Verhältnisse von den konkreten Personen wahrgenommen wurden und wie sie diese vor dem Hintergrund ihres christlichen Glaubens deuteten (Witten, 2014). Besonders geeignet sind Persönlichkeiten, deren Initiativen noch heute fortwirken, etwa in von ihnen gegründeten Einrichtungen oder Gemeinschaften. Hierfür finden sich zahlreiche Beispiele, wie etwa Friedrich von Bodelschwingh und Bethel oder Adolf Kolping und das Kolpingwerk.

Herausfordernd bei diesen biographischen Zugängen kann die Behandlung von Zügen der Einzelpersonen sein, die heute als problematisch einzustufen sind (etwa die oftmals paternalistische Haltung gegenüber den Hilfsbedürftigen oder der Einsatz von Gewalt und Prügel in der Erziehung). Die Herausforderung liegt darin, diese Aspekte einerseits als zeitbedingt zu kontextualisieren, andererseits aber deutlich zu machen, wo vor dem heutigen Wertehintergrund klare Grenzen zu ziehen sind. Zugleich muss aber auch die Gefahr einer „hagiographischen“ Überhöhung der Einzelpersönlichkeiten bedacht werden, wie sie sich in einigen Schulbüchern und Unterrichtshandreichungen findet.

3.3. Gegenwart aus der Vergangenheit verstehen

Jugendliche nehmen ihre Umwelt oftmals als gegeben wahr. Es fehlt häufig ein Bewusstsein für das Geworden-Sein der (sozialen) Umwelt. So stellen Heranwachsende von sich aus selten die Frage, wieso es so viele Krankenhäuser und Altenheime in kirchlicher Trägerschaft gibt, welchen Ursprung die Sozialverbände Diakonie und Caritas haben, woher sozial-karitative Ordensgemeinschaften oder die Diakonissen kommen etc.

Im Sinne eines chronologisch-genetischen Verfahrens kann ausgehend von der Gegenwart das Geworden-Sein und der Ursprung heute alltäglicher Einrichtungen erschlossen werden. So bietet es sich etwa an, sich im Rahmen des Religionsunterrichts mit den Funktionen und Aufgaben der Bahnhofsmission zu beschäftigen. Die Frage nach dem Ursprung der Bahnhofsmission führt direkt ins Zeitalter der Industrialisierung, als kirchliche Initiativen (sehr früh übrigens in ökumenischer Kooperation) an den Großstadtbahnhöfen allein reisenden Frauen vom Land, die in der Stadt als Arbeiterinnen und Dienstmägde arbeiten wollten, Schutz und Hilfe anboten. Diese Frauen waren besonders von Gewalt, Ausbeutung und Prostitution bedroht (Nikles, 1994). Ein Blick in die Geschichte der Bahnhofsmission zeigt, wie sich deren Aufgaben im Wandel der Zeit selbst gewandelt haben (www.bahnhofsmission.de/Geschichte.15.0.html).

Ähnlich führt die Frage nach dem Ursprung des den meisten Schülerinnen und Schülern bekannten Adventskranzes direkt zu Johann Hinrich Wichern und seinem „Rauhen Haus“. So finden sich zahlreiche Ansatzpunkte in der Gegenwart, die ihren Ursprung in der Zeit der Industriellen Revolution und dem kirchlichen Einsatz für die Unterprivilegierten haben.

3.4. Öffnung des Unterrichts – Experten und außerschulische Lernorte

Gerade bei einer in der Gegenwart beginnenden Spurensuche bietet es sich an, den Unterricht zu öffnen – sei es durch das Aufsuchen außerschulischer Lernorte (→ Lernorte religiöser Bildung; → Orte, historische) oder durch externe Experten (Adam, 2008; Schulte, 2013; Köster, 2016). Hier finden sich auch im lokalen Kontext oft gute Möglichkeiten: Einrichtungen der Diakonie oder Caritas, Kolpinghäuser, Bahnhofsmissionen, Besuch bei sozial-karitativen Ordensgemeinschaften oder Diakonissen etc. Ebenso ist es denkbar, Vertreterinnen bzw. Vertreter solcher Einrichtungen als Expertinnen bzw. Experten in den Religionsunterricht einzuladen. Es sollte allerdings darauf geachtet werden, dass nicht nur die aktuellen Aktivitäten im Fokus stehen, sondern beim Besuch des außerschulischen Lernortes oder beim Expertengespräch auch deutlich wird, wo die Ursprünge der Einrichtung bzw. des Verbandes liegen und wie sich die sozialen Probleme und das diakonische und karitative Engagement im Laufe der Zeit verändert haben.

3.5. Lokale Bezüge herstellen

Wo es sich anbietet, sollte stets versucht werden, die konkreten Gegebenheiten vor Ort in den Unterrichtsprozess mit einzubinden. Dies können Einrichtungen vor Ort sein, sozial-karitative Gemeinschaften oder Diakonissen oder auch lokal oder regional besonders bedeutsame historische Persönlichkeiten, die im Zusammenhang mit der Sozialen Frage von Bedeutung sind (etwa der in der Pfalz besonders verehrte Ordensgründer Paul Josef Nardini oder die Ordensgründerin Maria Katharina Kasper, die im Westerwald verehrt wird).

3.6. Soziale Frage und soziale Fragen – Aktualisierungen und Gegenwartsbezüge

Die Soziale Frage des 19. Jahrhunderts ist als Folge technologischer und wirtschaftlicher Entwicklungen und Neuerungen zu sehen. Eine der gesellschaftlichen Folgen der so angestoßenen gesellschaftlichen Entwicklungen war die Verelendung und Marginalisierung bestimmter Gesellschaftssegmente. Auch wenn die Soziale Frage in dieser Form einmalig war, reproduzierte sich das zugrundeliegende strukturelle Problem in unterschiedlichen Zeiten. Es handelt sich mithin um eine Herausforderung, die sich in verschiedenen Kontexten manifestierte und noch immer manifestiert. Hier bietet es sich an, die Soziale Frage des 19. Jahrhunderts mit den sozialen Fragen der Gegenwart zu verknüpfen: Kinderarbeit der Industriellen Revolution und die heutige Kinderarbeit in den Ländern des Südens, Arbeitsbedingungen des Industrieproletariats und Arbeitsbedingungen des heutigen Dienstleistungsproletariats, Ungleichheit der Verteilung von Reichtum und Lebenschancen damals und heute etc.

Dem klassischen Dreischritt „Sehen – Urteilen – Handeln“ folgend sollte es im Unterrichtsgeschehen auf der Ebene des „Sehens“ zunächst darum gehen, heutige soziale Fragen näher in den Blick zu nehmen und Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede zu der des 19. Jahrhunderts herauszuarbeiten. Auf der Ebene des „Urteilens“ bietet es sich an, aktuelle Sozialverkündigungen der Kirchen zu behandeln und etwa die Entwicklung dieser Soziallehren nachzuzeichnen. Ebenso sollten die Lernenden Kategorien entwickeln, um heutige soziale Problemlagen bewerten zu können. „Handeln“ schließlich bezieht sich einerseits auf die sozialpolitischen und kirchlichen Antwortversuche auf die sozialen Fragen im Laufe der Geschichte. Hier können auch aktuelle sozialethische Debatten aufgegriffen werden. Überdies kann in diesem Kontext die Frage thematisiert werden, wo angesichts der aktuellen sozialen Fragen jeder Einzelne seinen Beitrag leisten kann.

4. Schluss

Die religionsunterrichtliche Behandlung der Sozialen Frage des 19. Jahrhunderts zielt vor allem auf die Thematisierung von Grundfragen religiöser und ethischer Bildung ab: Wie positioniere ich mich als Christ angesichts sozialer Probleme und (sozialen) Unrechts? Was motiviert Menschen, sich für eine bessere Welt einzusetzen? Was können einzelne Menschen durch Mut und Initiative erreichen? Welche Aufgaben kann und soll Kirche in modernen Gesellschaften erfüllen? In welchen Situationen fordert das Gebot der christlichen Nächstenliebe immer wieder neu heraus? Die Gerechtigkeitsfrage stellt sich bei der Behandlung der Sozialen Frage nicht nur auf der individuellen, sondern stets auch auf der strukturellen Ebene.

Die Beispiele aus der Kirchengeschichte zeigen eindrücklich, wie das von der christlichen Nächstenliebe geleitete, diakonische bzw. karitative Handeln und das politische Eintreten für Gerechtigkeit Hand in Hand gehen und sich gegenseitig ergänzen. Eine einseitige Betonung der staatlichen Verantwortung würde den Staat überlasten und zugleich den Einzelnen davon entbinden, sich innerhalb seines Einflussbereiches für (soziale) Gerechtigkeit einzusetzen. Auf der anderen Seite würde aber auch die Fokussierung auf die Pflicht zur christlichen Nächstenliebe und zu diakonischem/karitativem Handeln das Individuum überfordern. Am Beispiel der Sozialen Frage des 19. Jahrhunderts kann beides aufgezeigt werden: Die Wirkmächtigkeit der Ideen Einzelner sowie die berechtigte politische Forderung, auf struktureller Ebene für mehr Gerechtigkeit zu sorgen. Hinsichtlich der unterrichtlichen Umsetzung spiegelt sich dies im Spannungsverhältnis von biographischen Zugängen und strukturgeschichtlichen Zusammenhängen wieder.

Literaturverzeichnis

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