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Religionspsychologie

Schlagworte: Psychology of Religion (engl.), Psychology of Religion and Spirituality (engl.)

(erstellt: Januar 2015)

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1. Gegenstand

Religionspsychologie wird meist als ein Teilgebiet der Psychologie verstanden; die religionspsychologische Forschung spielt sich faktisch aber im interdisziplinären Schnittfeld von Psychologie, → Theologie, Religionswissenschaft und anderen Fächern der Religionsforschung ab (vgl. Klein/Streib, 2011, 197-203). Versteht die Psychologie gemeinhin menschliches Erleben und Verhalten als ihren Gegenstand (vgl. Zimbardo, 1995, 4), so lässt sich als Gegenstandsbereich der Religionspsychologie religiöses Erleben und Verhalten angeben. Gängig ist dabei die Unterscheidung von fünf basalen Dimensionen des religiösen Erlebens und Verhaltens: einer ideologischen (Glaube an die Existenz einer transzendenten Wirklichkeit) und einer intellektuellen Dimension (Interesse an religiösen Fragen und Themen), einer Dimension der öffentlichen (Teilnahme an gemeinschaftlichen Ritualen) und einer der privaten religiösen Praxis (z.B. Gebete und Meditationen) sowie einer Dimension der religiösen Erfahrung (vgl. Glock, 1962, 98-110; Huber, 2003, 223-231). Dieser Phänomenologie religiöser Ausdrucksformen liegt ein substanzieller Religionsbegriff (Bezug auf eine transzendente Wirklichkeit) zugrunde, wie er sich ähnlich auch in klassischen und gegenwärtigen religionspsychologischen Entwürfen findet. So definierte William James (1997, 63f.) bereits 1902 in seinem religionspsychologischen Klassiker „Die Vielfalt der religiösen Erfahrung“ Religion als „die eigenen Gefühle, Handlungen und Erfahrungen des Individuums, sofern diese im Bezug zu dem stehen, was auch immer man als das Göttliche betrachtet“. Gegenwärtig in der Religionspsychologie prominent ist die Definition Pargaments (Pargament, 1997, 32), der unter Religion „die Suche nach Sinn und Bedeutung auf Wegen, die einen Bezug zum Heiligen haben“, versteht. Der in diesen Definitionen zum Ausdruck kommende substanzielle Bezug auf etwas Göttliches, Heiliges oder eine transzendente Wirklichkeit ist dem sozialwissenschaftlichen Forschungsansatz der Religionspsychologie geschuldet, denn nur unter Angabe entsprechender Überzeugungsinhalte lässt sich empirisch ( Empirie) beobachten, welche psychosozialen Effekte mit diesen Überzeugungen einhergehen (z.B. Sinnstiftung, bestimmte Gefühlsqualitäten, Wertorientierungen und Einstellungsmuster, Wohlbefinden und psychische Gesundheit u.a.).

International wird mittlerweile häufig von „Psychology of Religion and Spirituality" gesprochen, um der zunehmenden Verbreitung der Rede von Spiritualität, insbesondere im angloamerikanischen Sprachgebrauch, Rechnung zu tragen. So benannte sich etwa die religionspsychologische Division der American Psychological Association 2004 in „Psychology of Religion and Spirituality“ um, und die wesentlichen englischsprachigen Handbücher (Paloutzian/Park, 2013; Pargament, 2013) führen inzwischen oft sowohl Religions- als auch Spiritualitätsbegriff im Titel. Je nach Autorin oder Autor wird Spiritualität dabei enger oder weiter als Religion gefasst, etwa als Kern aller religiösen Empfindungen und Aktivitäten oder aber als Suche nach existenzieller Bedeutung auch unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft (Utsch/Klein, 2011, 32-40).

2. Geschichte

Im folgenden Abschnitt kann die Geschichte der Religionspsychologie nur in einigen, knappen Grundzügen skizziert werden. Ein kurzer Abriss der historischen Entwicklung findet sich bei Klein (2008, 47-76); eine umfassende und profunde Darstellung der verschiedenen Protagonisten, ihrer Biographien und religionspsychologischen Ansätze bietet das voluminöse Überblickswerk von David M. Wulff (1997). Speziell mit der Geschichte der Religionspsychologie im deutschsprachigen Raum befasst sich Henning (2003, 9-90).

In der Entstehungszeit der akademischen Psychologie um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert herum setzten sich nahezu alle Pioniere des Fachs, darunter so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Wilhelm Wundt, William James oder Sigmund Freud, ganz selbstverständlich auch mit Religiosität als wichtigem Bereich des menschlichen Lebens auseinander. Im frühen 20. Jahrhundert erlebte die Religionspsychologie sogar eine gewisse Blüte; es bildeten sich regelrechte religionspsychologische Schulen aus, darunter die Clark-Schule in den USA, die Dorpater Schule im heute estnischen Tartu oder die religionspsychologische Schule innerhalb der deutschsprachigen evangelischen Theologie. Mit der Durchsetzung des Behaviorismus als dominantem Paradigma innerhalb der Psychologie und dem Aufkommen der Dialektischen Theologie innerhalb der evangelischen Theologie erlosch dieses erste, breite Interesse jedoch und führte speziell in Deutschland zu einem fast vollständigen Erliegen religionspsychologischer Forschungsaktivitäten. Bis heute schlägt sich dieses Erbe darin nieder, dass es hier, anders als in den USA, aber auch als in kleineren europäischen Nachbarländern wie Belgien, den Niederlanden oder Schweden, keine universitären Institute oder Professuren für Religionspsychologie gibt, so dass Religionspsychologie nur von einer verhältnismäßig kleinen Zahl Forscherinnen und Forscher betrieben wird (Belzen, 2009, 85-94; Grom, 2010, 101f.). Der religionspsychologische Diskurs findet allerdings ohnehin international statt; wichtigste Plattform ist die (ursprünglich bereits 1914, während der frühen Blüte der Religionspsychologie, in Nürnberg gegründete) „International Association for the Psychology of Religion“ (IAPR).

3. Gegenwärtige Forschungsfelder

Religiöses Erleben und Verhalten lassen sich aus einer Vielzahl psychologischer Disziplinen, Paradigmen und Theorien heraus mittels unterschiedlichster Untersuchungsmethoden erforschen. Dementsprechend vielfältig sind die religionspsychologischen Forschungsfelder; sie reichen von der neurowissenschaftlichen Untersuchung der körperlichen Grundlagen religiöser Empfindungen (McNamara, 2009, 80-130; Schjoedt, 2009, 315-332) über die Beschäftigung mit möglichen persönlichkeitsspezifischen Prädispositionen für Religiosität (Piedmont/Wilkins, 2013, 292-307; Saroglou, 2010, 108-120) und sozialpsychologische Studien zu Zusammenhängen zwischen religiöser Orientierung und bestimmten Einstellungsmustern (Hunsberger/Jackson, 2005, 807-822; Küpper/Zick, 2010, 23-90) und Werthaltungen (Gennerich, 2010; Saroglou/Delpierre/Dernelle, 2004, 721-732) bis hin zur klinisch-, medizinisch- und gesundheitspsychologischen Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Religiosität zu psychischer Gesundheit, subjektiver Lebensqualität und Wohlbefinden (Klein/Albani, 2011, 7-36; Koenig/King/Carson, 2012, 123-315).

4. Bezüge zur Religionspädagogik

Von besonderem Interesse für die → Religionspädagogik sind religionspsychologische Theorien und Untersuchungen zur religiösen Entwicklung, speziell im Kindes- und Jugendalter ( Religiöse Entwicklung, Forschungszugänge; Entwicklungspsychologie). In den 1980er Jahren wurden, aufbauend auf den entwicklungspsychologischen Theorien Jean Piagets, Lawrence Kohlbergs, Sigmund Freuds und Erik H. Eriksons, Stufentheorien zur Glaubensentwicklung (Fowler, 1981) und zur Entwicklung des religiösen Urteils (Oser/Gmünder, 1984) vorgelegt, die heute zum Standard der religionspädagogischen Ausbildung gehören. Ihren Wert haben diese Theorien vor allem für die → Unterrichtsplanung, da sie dabei helfen können, die entwicklungsbedingten kognitiven Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler zu reflektieren und Unterrichtsinhalte und -gestaltung darauf abzustimmen. Dennoch ist an den Stufentheorien auch deutliche Kritik geübt worden, insbesondere an ihrer starren Entwicklungslogik (strukturelle Ganzheit, Sequenzialität, Invarianz, Irreversibilität und Universalität der postulierten Stufenfolgen). Insofern ist in den letzten 15 Jahren versucht worden, anstelle von Stufentheorien der religiösen Entwicklung ein Entwicklungsmodell kognitiver religiöser Stile zu erarbeiten, das es gestattet, auch wechselvolle religiöse Entwicklungsverläufe verstehen zu können (Streib, 2001, 148-153; Büttner/Dieterich, 2013, 82-88). Daneben werden anstelle komplexer, zahlreiche Aspekte umfassender Theorien der religiösen Entwicklung vermehrt einzelne bereichsspezifische religiöse Kognitionen, z.B. die Gottesvorstellung (z.B. Barrett/Keil, 1996, 219-244; Gennerich, 2011) oder das Todeskonzept (z.B. Bering/Hernández-Blasi/Bjorklund, 2005, 587-607), im religionspädagogisch relevanten Altersbereich von Kindheit und Jugend untersucht, woran Unterrichtseinheiten mit entsprechendem thematischen Bezug anschließen können.

Eine fundierte Übersicht über die klassischen entwicklungspsychologischen Theorien Piagets, Kohlbergs, Freuds und Eriksons sowie die darauf aufbauenden Theorien Fowlers und Osers zur religiösen Entwicklung bietet Schweitzer (2007, 60-167). Ein guter Überblick über die jüngeren entwicklungspsychologischen Forschungsfelder findet sich bei Büttner und Dieterich (2013).

Literaturverzeichnis

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  • Bering, Jesse M./Hernández-Blasi, Carlos/Bjorklund, David F., The Development of "Afterlife" Beliefs in Secularly and Religiously Schooled Children, in: British Journal of Developmental Psychology 23 (2005) 4, 587-607.
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  • Utsch, Michael/Klein, Constantin, Religion, Religiosität, Spiritualität. Bestimmungsversuche für komplexe Begriffe, in: Klein, Constantin/Berth, Hendrik/Balck, Friedrich (Hg.), Gesundheit – Religion – Spiritualität. Konzepte, Befunde und Erklärungsansätze, Weinheim 2011, 25-45.
  • Wulff, David M., Psychology of Religion. Classic and Contemporary, New York 2. Aufl. 1997.
  • Zimbardo, Philipp G., Psychologie. Deutsche Bearbeitung von Siegfried Hoppe-Graff, Barbara Keller und Irma Engel. Herausgeber der deutschen Ausgabe: Siegfried Hoppe-Graff und Barbara Keller, Berlin 6. Aufl. 1995.

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