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Religiöse Erziehung im Judentum

Andere Schreibweise: jüdische Erziehung; jüdische Bildung

(erstellt: Februar 2017)

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1. Hinführung

Lernen und studieren der Tora ist im religiösen Judentum (→ Judentum, als Thema christlich verantworteter Bildung) seit jeher oberste Pflicht. Die Tora zu studieren, sie Tag für Tag immer besser kennen zu lernen, um sie schließlich im eigenen Leben verwirklichen zu können, ist mehr als ein bloßer Auftrag; es ist eine Mitzwa, ein religiöses Gebot. Aus diesem Grunde wurde im rabbinischen Judentum Lehren und Lernen zum Kristallisationspunkt aller religiösen Aktivitäten, kam es bereits in der Antike vor der christlichen Zeitrechnung und umso mehr in der Zeit nach der Zerstörung des Zweiten Tempels 70 n.Chr. zur Ausbildung eines jüdischen Schulwesens und wurde die religiöse → Erziehung der Kinder ein Eckstein in der Bewahrung jüdischer Identität durch die Jahrhunderte (Langer, 2012; Crenshaw, 1998).

Neben dem Studium der Heiligen Schriften sind es vor allem die familiären Riten, die die jungen Menschen in das religiöse Leben einführen. Das Feiern des Schabbats (→ Sabbat – Sonntag – Freitag) und der Feste im Jahreskreis, die täglichen häuslichen Gebete, das Beachten der Speiseregeln, das Berühren der Mesusot an den Türpfosten – dies und vieles mehr von der Art und Weise „wie Juden leben“ (Lau, 2004) wird durch Erklären, Erzählen und Vorleben von der älteren zur jüngeren Generation tradiert. Der Tagesablauf, der wöchentliche und jährliche Kalender sind wesentliche Faktoren im Prozess religiöser Erziehung.

2. Biblische und rabbinische Bezüge

2.1. Grundtexte

Die biblischen Grundtexte zur jüdischen religiösen Erziehung sind in deuteronomistischer Zeit entstanden, wobei es das wichtigste Ziel der Verfasser war, die jüdische Identität gegen Fremdeinflüsse und Auflösung zu sichern: „Wenn dich morgen dein Sohn fragt: Warum achtet ihr auf die Satzungen, die Gesetze und Rechtsvorschriften, auf die der Herr, unser Gott, euch verpflichtet hat?, dann sollst du deinem Sohn antworten: Wir waren Sklaven des Pharao in Ägypten und der Herr hat uns mit starker Hand aus Ägypten geführt“ (Dtn 6,20f.).

Den Jüngeren wird die Leidens- und Befreiungsgeschichte der Vergangenheit erzählt (insbesondere am Seder-Abend am Pessachfest), damit sie sich selbst und die gegenwärtigen Ereignisse in der Perspektive der Geschichte Gottes mit dem Volk Israel deuten können. Letztlich geht es bei der Weitergabe der religiösen Überlieferung um einen Deutungsrahmen für das Verstehen von Welt und Wirklichkeit (Ego/Merkel, 2005).

Einen weiteren Grundtext stellt Dtn 6,4-12 dar, der neben dem Sch’ma Jisrael, dem „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, der Herr ist einzig“ auch Gebote zum täglichen Umgang mit der Tora enthält. Kaum ein anderer Text war und ist bis heute so sehr der Identifikationspol für das jüdische Volk wie dieser. Kein jüdischer Gottesdienst, keine privaten Gebete sind ohne dieses Sch’ma denkbar. Die dahinter stehende Pädagogik lautet: Die Tora (wörtlich Weisung) soll das ganze Leben, den gesamten Alltag der Menschen durchdringen, auf Herz und Seele geschrieben stehen. Sie soll bei den Morgen-, Mittags- und Abendgebeten rezitiert, symbolisch mit den Gebetsriemen (Tefillin) um Hand und Stirn gebunden werden, in der Mesusa, einem kleinen Schmuckkästchen mit winzigen Pergamentstreifen, auf denen sich Toratexte befinden, an die Türpfosten des Hauses genagelt werden (→ Beten, jüdische Perspektive). So erinnert sich der Gläubige beim Kommen und Gehen, beim Aufstehen und Schlafenlegen an die Tora – übrigens auch beim Zubereiten und Verzehren der Mahlzeiten, was durch Toravorschriften geregelt wird (kaschrut).

Ein Zweites ist im Zusammenhang mit Dtn 6,4-12 wichtig: Du sollst die Worte deinen Söhnen (Kindern) wiederholen, bedeutet die mündliche, persönliche Weitergabe der Überlieferung. Im Erinnern (→ Erinnern/Erinnerungslernen) und → Erzählen vergewissert sich Israel seiner selbst und erfolgt die Unterweisung der nächsten Generation. Die Überlieferung funktioniert demnach nicht ohne Lernen, ja Auswendiglernen, nicht ohne beträchtliche Wissensbestandteile. Hier sind Lernprozesse nötig, die von früh auf und über Jahre hinweg erfolgen. Bis heute weisen die jüdischen Jungen in der Feier der Bar Mizwah (Sohn des Gebots) und zum Teil die jüdischen Mädchen in der Feier der Bat Mizwah (Tochter des Gebots) in der Öffentlichkeit des Gemeindegottesdienstes gründliche Kenntnisse der Tora nach. Die zugrunde liegende religiöse „Bildungstheorie“ lautet demnach: → Religion durchdringt Leben und Alltag; sie benötigt eine solide Wissensgrundlage, um realisiert und tradiert werden zu können.

2.2. Ziel biblischer Erziehung

Biblisch gesehen ist das Ziel religiöser Erziehung, Israel „als ein Reich von Priestern und als ein heiliges Volk“ zu konstituieren (Ex 19,6) (vgl. hier und zum Folgenden: Demsky, 2007). „Die Furcht des Herrn ist der Anfang aller Weisheit“ (Ps 111,10), weshalb die biblische religiöse Erziehung vor allem zwei Grundlinien folgt: der Erkenntnis und Anerkennung des göttlichen Willens in Bund und Tora sowie der Kenntnis der Geschichte des Volkes Israel, die als Geschichte Gottes gelesen wird, der sich in seinen Taten in der menschlichen Geschichte offenbart. Das Studium der sich im Laufe biblischer Zeit verschriftlichenden Tora sowie die Weitergabe der mündlichen Tradition wurden zum Inbegriff jüdischer Erziehung und jüdischen Lernens. Da es weder in Bibel noch in Talmud und Midrasch systematische Erziehungs- und Bildungsreflexionen gibt, sind die Elemente erzieherischer Praxis und des Nachdenkens darüber verschiedenen Einzeläußerungen zu entnehmen. Neben der Institution Familie, der eine bedeutende Rolle in der Vermittlung überlieferter Traditionen zukommt, ist schon zu biblischer Zeit von einer Art öffentlichem Lernritual die Rede, nämlich die Verlesung der Bundesurkunde, also der Tora (Ex 24,7), die alle sieben Jahre zum Fest des Brachjahres vollständig „vor ganz Israel laut vorgetragen werden soll“ (Dtn 31,10f.).

2.3. Rabbinische Traditionen

Solche Rituale öffentlicher Lesung vor der versammelten Gemeinde mündeten in die Toralesungen der Synagogengottesdienste, die in der bereits existierenden Diaspora der letzten zwei bis drei Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung und vor allem in der Zeit 70 n.Chr. entstanden sind. Die → Synagoge war als Beit ha-Knesset, Haus der Versammlung, von Anfang an auch Beit ha-Midrasch, Ort des Studiums, des Lernens der Tora. Offensichtlich liegt hierin eine Antwort auf das Rätsel des Fortbestehens jüdischer Existenz trotz der Katastrophe der Zerstörung des Tempels und der Zerstreuung. Das intensive Studium der Tora füllte die Lücke, die durch den Verlust des zentralen Kults entstand. Die kleinen und großen rabbinischen Schulen, die Werke des babylonischen und alexandrinischen Talmud sowie der weiteren Kommentartradition sind gleichzeitig Ausdruck und Garant jüdischer Identität.

Jüdische Erziehung in talmudischer Zeit umgreift das Studium der Tora und das damit einhergehende Erlernen der Mitzwot das ganze Leben, ein Leben aus der Tora. Doch das Torastudium ist nicht auf ein bestimmtes Alter begrenzt. Jüdische Bildung war nie nur Bildung der Jugend allein, sondern immer auch religiöse → Erwachsenenbildung. Bei den Kindern begann die Einführung in das Lesen der biblischen Schriften bereits im Alter von sechs Jahren. Obwohl die Verpflichtung zur Bildung vor allem die Jungen und Männer betraf, gab es in rabbinischer Zeit immer wieder starke Versuche, auch Mädchen und Frauen zum Torastudium zu ermuntern und zuzulassen (Langer, 2012, 25-30). Die Kinder wurden in der Synagoge versammelt, die bis heute als Schul bezeichnet wird und auch als solche dient. Auswendiglernen und, in einem späteren Stadium, die Entwicklung von kreativen Gedanken, die Ermutigung zum Nach-Denken der Schrift, zum Debattieren und Disputieren, gehörten und gehören zu den Charakteristika jüdischen Lernens in Cheder (Toraschule) und Jeschiwa (Talmudschule). Dabei kommt dem Verhältnis von Lehrenden und Lernenden besondere Bedeutung zu (Langer, 2012, 74-89; Krochmalnik, 2009).

Die weitere Entwicklung jüdischer Pädagogik in den verschiedenen Ländern und Kontinenten verlief nicht einheitlich, hängt sie doch im extremen Maß von den regionalen, soziokulturellen und politischen Bedingungen ab, insbesondere aber auch von der Geschichte des Antijudaismus, der Ablehnung, Verfolgung, Vertreibung und der Pogrome, die die Perioden friedlicher Koexistenz jäh unterbrachen. Trotz divergenter regionaler Gegebenheiten zeigen sich Grundlinien jüdischer Pädagogik: Immer ging es um die Bewahrung der Tradition, Sicherung der Existenz, Restitution und Neubildung einer spezifisch jüdischen Identität mithilfe von Erziehung und Bildung in Auseinandersetzung mit der kulturellen und politischen Umwelt. Waren es in Spanien vor 1492 die arabischen Einflüsse und die Frage nach dem Stellenwert der Landessprache (des Arabischen) sowie der säkularen Fächer wie Logik, Rhetorik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik usw., die zusätzlich zur jüdischen Tradition gelehrt werden sollten – oder auch nicht –, die zum heftigen Streit der Gelehrten führten (bis hin zur gegenseitigen Exkommunikation!), so waren es in Zentraleuropa die großen Rabbinerschulen (u.a. in Troyes, Mainz, Speyer, Worms, Köln) – herausragend dabei: die Kommentare des Gelehrten Raschi (1040-1105) und seiner Schüler –, die die jüdische Erziehung in den Folgejahrhunderten maßgeblich beeinflussten. Die Rabbiner brachten ihre Tora- und Talmudgelehrsamkeit in die gemeindlichen Schulen mit, z.B. in den Cheder, ein Begriff, der ab dem 13. Jahrhundert aufkam und schlicht Raum bedeutet, was die Vermutung nahelegt, dass ein spezieller Raum der Synagoge für die Unterrichtung der Jugend in Gebrauch kam. Der religiösen Erziehung wurde zu jener Zeit höchste Aufmerksamkeit zuteil: „Even very small Jewish communities in many German towns managed to maintain schools, or at least a teacher“ (Demsky, 2007, 177). Allerdings ist zu beachten, dass die Entwicklung des Landjudentums und des Landschulwesens sich vom städtischen Schulwesen erheblich unterschieden – auch in der Zeit der anbrechenden Moderne (Kaufmann, 1997).

3. Lehren und Lernen seit der jüdischen Aufklärung

Etwa bis zur ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts lebten die Juden in Europa bildungspolitisch gesehen in relativer Abgeschiedenheit. Sie pflegten und hegten die Erziehung ihrer Jugend in eigener Regie aufgrund der Vorgaben der Tradition. Dies änderte sich in der aufkommenden Moderne, insbesondere ab dem Zeitalter der europäischen Aufklärung, grundlegend. Denn jüdische Denker, die sich das Programm der Aufklärung zu eigen machten und vor dem Hintergrund der jüdischen Überlieferung – in manchen Fällen auch gegen sie – eine eigene jüdische Aufklärung (Haskala) zu fordern begannen, sahen die Bedeutung einer völlig neu konzipierten jüdischen Erziehung in erster Linie als Weg und Mittel, den Anschluss an die Mehrheitsgesellschaft zu finden.

Fast alle jüdischen Aufklärer (Maskalim) waren auch Pädagogen, die die Ideen der Aufklärung in erzieherische Programme umzusetzen suchten. Sie waren von der Vorstellung der Verbesserungsfähigkeit des Judentums geleitet und von der Überzeugung getragen, das bisherige Erziehungswesen im Judentum sei rückwärtsgewandt und könne den Anforderungen der modernen Welt nicht mehr Stand halten (Krochmalnik, 2000). An erster Stelle stehe die allgemeine Bildung gemäß des Fächerkanons abendländischer humanistischer Bildung, erst an zweiter Stelle käme die jüdische religiöse Bildung. In den jüdischen Gemeinden wuchs die Zahl der aufklärerisch gesonnenen Eltern rasch, sodass sie immer weniger bereit waren, ihre Kinder in die als rückschrittlich empfundene klassische jüdische Tora- und Talmudschule zu geben. Stattdessen kam es zur Gründung einer Vielzahl von Lehranstalten und schließlich von Religionsschulen, die analog zu den konfessionellen Schulen christlicher Prägung aufgebaut waren. Sie hatten das Ziel, die Religiosität der Jugend von früh an zu fördern und zu entwickeln, jedoch die allgemeine Bildung in den Vordergrund zu stellen.

Entscheidend ist, die Haskala in ihrer Vielstimmigkeit zu verstehen. Es gibt nicht die jüdische Aufklärung ebenso wenig wie es die Orthodoxie gab (und gibt), die sich als Opponentin der Aufklärung ausweist. Verschiedenartige Strömungen und Richtungen bestimmen das vielfältige Bild jüdischer Erziehungspraxis und -reflexion in der Moderne. Entscheidende Namen dieser Epoche jüdischer Erziehung sind Moses Mendelsohn (1729-1786), David Friedländer (1750-1834) und weitere radikale jüdische Aufklärer wie Naftali Herz Wessely (1725-1805). Ein typischer Versuch, die Tradition in einem strikten, nicht verweltlichten Sinn zu bewahren und sich gleichzeitig für die Moderne zu öffnen, findet sich im Lebenswerk des Rabbiners Samson Raphael Hirsch (1808-1888).

Ein kurzer Hinweis sei noch auf die steigende Bedeutung der jüdischen Mädchenbildung im Gefolge der Aufklärung gegeben. Obwohl die ersten Schulgründungen im Geiste der jüdischen Aufklärung allein den Jungen vorbehalten waren, forderten Anhänger der Haskala rasch eine gleichwertige Bildung von Mädchen, weshalb es bereits 1798 zur ersten Gründung einer Schule für jüdische Mädchen in Hamburg kam. Weitere Mädchenschulen folgten im 19. Jahrhundert, schließlich erste koedukative Schulversuche. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts gab es im deutschsprachigen Raum kaum noch jüdische Mädchen ohne formale Bildung, da sie ab den 1830er-Jahren in fast allen jüdischen Schulen aufgenommen wurden und neben allgemeiner Bildung auch religiöse Bildung erhielten (Eliav, 2001).

In Folge der Aufklärung entwickelte sich die Vielgestaltigkeit jüdischer Lebensformen und damit auch Erziehungsstile, die bis heute im Judentum anzutreffen sind. Es gibt kein Einheitsjudentum ebenso wenig wie eine einförmige jüdisch-religiöse Erziehung, denn „das Judentum hat viele Gesichter“ (Rosenthal/Homolka, 2014).

4. Jüdisches Lernen vor und nach der Schoah

Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts versuchten Persönlichkeiten wie Martin Buber (1878-1965), Franz Rosenzweig (1886-1929) und Ernst Akiba Simon (1899-1988) die jüdische Erziehung auf eine neue Grundlage zu stellen, wobei sie vor allem Erwachsene vor Augen hatten (Woppowa, 2003). In ihren Ansätzen spiegelt sich auf paradigmatische Weise die Auseinandersetzung zwischen Tradition und Moderne, die als Leitmotiv jüdischer Erziehung seit der Aufklärung ausgemacht und die als Rekontextualisierung der Überlieferung in den je neuen Zeitkontext gedeutet werden kann. Beispielsweise entwickelte der „Laie“ Rosenzweig bewusst gegen das Monopol der professionellen Lehrer und Rabbiner ein konsistentes Erziehungs- und Bildungssystem von der Volksschule bis zum jüdischen Lehrhaus für Erwachsene. Dagegen steht das Lebenswerk des polnischen Kinderarztes und Pädagogen Janusz Korczak (1878-1942) singulär in der jüdischen Pädagogik (Ungermann, 2006). Korczak hat die jüdische Auseinandersetzung mit der Moderne für seine Pädagogik dadurch gelöst, dass er die immense Wertschätzung des Kindes und der Erziehung in der jüdischen religiösen und kulturellen Tradition als konsequente Pädagogik der Achtung für seine Zeit und seine sozio-ökonomischen Bedingungen rekontextualisierte.

Die Tragik der Neukonzeption von jüdischer Erziehung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war ihr definitives Ende durch die Schoah. Rosenzweig starb zuvor, Korczak im Holocaust, nur Buber konnte über Flucht und Exil hinweg das Erbe aufgreifen. Doch blieb in der jüdischen Welt nichts, wie es zuvor war. Erneut mussten und müssen sich jüdische Erziehung und Bildung in der spätmodernen Welt völlig neu konstituieren.

Strukturanalog zur Zeit der Aufklärung kommt es nach der Katastrophe der Schoah zu einer weiteren Pluralisierung jüdischer religiöser Erziehung. Verschiedenen Familien und verschiedene Strömungen im Judentum gehen auf unterschiedliche Weise mit der Herausforderung des Antisemitismus und der Bedrohung um. Es kommt zur Revitalisierung des jüdischen religiösen Erbes in manchen orthodoxen, neo-orthodoxen oder neo-chassidischen Bewegungen; andererseits werden die religiösen Traditionen in liberalen und reformorientierten bis hin zu staatlichen Institutionen in Israel (Schröder, 2000) stark den aktuellen Erfordernissen und Lebenswirklichkeiten angepasst.

Religiöse Erziehung im Judentum kann sich ebenso wie christliche oder anders religiöse Erziehung in der Spätmoderne keineswegs mehr auf Selbstverständlichkeiten verlassen oder sich ungefragt auf überlieferte Traditionen berufen. Sie muss sich völlig neu konstituieren (Saks/Handelman, 2003).

5. Perspektiven für den christlichen Religionsunterricht

Jüdische religiöse Erziehung wird heute im christlichen Religionsunterricht in der Schule und in anderen Bildungskontexten (Gemeinde, Erwachsenenbildung) nicht mehr idealisierend und harmonisierend dargestellt. Einseitige, vorurteilsgeladene Bilder von braven, frommen jüdischen Kindern in jüdischen religiösen Schulen oder in Familienkontexten, wie sie in so manchen Schulbüchern oder Unterrichtsmaterialien zu finden waren, sind zu dekonstruieren.

Die Pluralität der jüdischen Lebensformen (→ Lebenswelt) wahrzunehmen, ist ein wesentlicher Baustein zu einem vertieften Verständnis jüdischer Erziehung im Allgemeinen und jüdisch religiöser Erziehung im Speziellen, was eine Grundvoraussetzung für christlichen Religionsunterricht darstellt. Keinesfalls darf so unterrichtet werden, als würden die Juden den Schabbat oder die Feste so und so feiern, ihre Kinder auf eine bestimmte Weise erziehen oder die religiösen Traditionen in einheitlicher Form leben. Sowenig wie es das Judentum gibt, gibt es die religiöse Erziehung im Judentum.

Gleichwohl kann die Beschäftigung mit der Tradition und Gegenwart religiöser Erziehung im Judentum Impulse für christliches Erziehungsdenken und christliche Bildungspraxis bieten. Die Konzentration auf das Erzählen von Geschichten, die Menschen als Gotteserfahrung deuten, ist einer der bereichernden Horizonte. Ein anderer ist das Erlernen einer Lebenspraxis, die mit der ganzen Existenz von der Beziehung zu → Gott geprägt ist und deshalb identitätsstiftend (→ Identität, religiöse) wirkt. Nicht das Erlernen von Regeln, das Einhalten von Geboten oder Beachten von Verboten sind der springende Punkt jüdischer religiöser Erziehung, wie sie bisweilen verkürzt und einseitig dargestellt wird, sondern die Gestaltung des gesamten Lebens aus der Beziehung zu dem befreienden Gott, von dem die biblischen Texte erzählen.

Literaturverzeichnis

  • Crenshaw, James J., Education in ancient Israel. Across the deadening silence, New York 1998.
  • Demsky, Aaron/Moriel, Yehuda/Bortniker, Elijah/Skolnik, Fred/Kazdan, Chaim S./Graff, Gil, Art. Education. Jewish, in: Encyclopedia Judaica VI (2007), 162-214.
  • Ego, Beate/Merkel, Helmut (Hg.), Religiöses Lernen in der biblischen, frühjüdischen und frühchristlichen Überlieferung, Tübingen 2005.
  • Eliav, Modeachai, Jüdische Erziehung in Deutschland im Zeitalter der Aufklärung und Emanzipation. Aus dem Hebräischen übersetzt von Maike Strobel, Münster 2001.
  • Kaufmann, Uri R., Das jüdische Schulwesen auf dem Lande, in: Richarz, M./Rürup, R. (Hg.), Jüdisches Leben auf dem Lande, Tübingen 1997, 293-326.
  • Krochmalnik, Daniel, Der „Lerner“ und der Lehrer. Geschichte eines ungleichen Paares, in: Schröder, Bernd/Behr, Harry H./Krochmalnik, Daniel (Hg.), Was ist ein guter Religionslehrer? Antworten von Juden, Christen und Muslimen, Berlin 2009, 57-90.
  • Krochmalnik, Daniel, Deutschjudentum. Bildungskonzepte von Moses Mendelsohn bis Franz Rosenzweig, in: Erler, Hans/Ehrlich, Ernst L. (Hg.), Jüdisches Leben und jüdische Kultur in Deutschland. Geschichte, Zerstörung und schwieriger Neubeginn, Frankfurt a. M./New York 2000, 77-99.
  • Langer, Gerhard, Menschen-Bildung. Rabbinisches zu Lernen und Lehren jenseits von Pisa, Wien 2012.
  • Lau, Israel M., Wie Juden leben. Glaube – Alltag – Feste, Gütersloh 5. Aufl. 2004.
  • Rosenthal, Gilbert S./Homolka, Walter, Das Judentum hat viele Gesichter. Eine Einführung in die religiösen Strömungen der Gegenwart, Berlin 2014.
  • Saks, Jeffrey/Handelman, Susan (Hg.), Wisdom from All My Teachers. Challenges and Initiatives in Contemporary Torah Education, Jerusalem 2003.
  • Schröder, Bernd, Jüdische Erziehung im modernen Israel. Eine Studie zur Grundlegung vergleichender Religionspädagogik, Leipzig 2000.
  • Ungermann, Silvia, Die Pädagogik Janusz Korczaks. Theoretische Grundlegung und praktische Verwirklichung, Gütersloh 2006.
  • Woppowa, Jan, Religiöse Bildung bei Franz Rosenzweig, Martin Buber und Ernst Simon, in: Münchener theologische Zeitschrift 54 (2003) 1, 55-67.

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