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(erstellt: Februar 2018)

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1. Herkunft und Konzept

Planspiele wurden zunächst in größerem Umfang vom preußischen Militär eingesetzt, um Strategien und Taktiken im „Sandkasten“ durchzuspielen. Nach dem 2. Weltkrieg erwiesen sich Planspiele als geeignete Simulationen für ökonomische, politische und administrative Entscheidungsprozesse, wie sie in Unternehmen, Banken und Behörden, bei Militär, Polizei, Katastrophenschutz und Feuerwehr sowie in Politik und Wissenschaft erforderlich sind. Planspiele dienen in diesen Bereichen als Trainingsszenario, zur Strategieentwicklung und Entscheidungsfindung, aber auch zur Kompetenzüberprüfung von Bewerbern. Als Marketingstrategie und Imagepflege fungieren etwa die von verschiedenen Banken mit großem Erfolg angebotenen Börsenspiele. In den 1960er Jahren übernahm die politische Bildung die Planspielmethode, die in den Schulen in Fächern wie Politik, Sozialwissenschaften, Erdkunde, Gesellschaftslehre und in der beruflichen Bildung vielfältige Anwendung findet. Didaktisch sind Planspiele im Unterricht eingebunden in ein handlungstheoretisches und auf eigenverantwortliches Lernen zielendes Bildungskonzept (Klippert, 2016, 14-17).

Planspiele umfassen unterschiedliche Verfahren, bei denen verschiedene Medien, Spielszenarien und Regelwerke verwendet werden (Vgl. Bundeszentrale). Alle Varianten zeichnen sich aber durch vier konstitutive Faktoren aus:

  • Planspiele simulieren einen Wirklichkeitsausschnitt in einem vereinfachten Modell. Sie rekonstruieren oder antizipieren Realsituationen.
  • Zugrunde liegt immer ein möglichst genau definierter Konflikt, ein Problem oder eine Krise, die zum Handeln zwingen.
  • In Planspielrollen interagieren mehrere Gruppen mit unterschiedlich definierten Interessen und Sichtweisen. Sie repräsentieren reale Akteure und benötigen gewisse Handlungs- und Entscheidungsfreiräume, sind aber andererseits an klare Regeln gebunden, die vom Spielleiter gesetzt werden.
  • Planspiele sind auf eine Entscheidung angelegt, die zur Lösung des Konflikts bzw. des Problems oder der Krise führen soll.

Zum Rollenspiel ist das Planspiel durch komplexere Konflikte, gruppenbezogene Interaktionen, strengere Regeln, eingehendere Faktenanalyse und einen hohen Entscheidungsdruck abgegrenzt.

Planspiele im Unterricht sind daher eine Makromethode, mit der reale, komplexe Problemsituationen aus unterschiedlichen fachlichen Lernbereichen abgebildet werden und Lernende in einem Diskussions- und Entscheidungsprozess faktengestützt miteinander interagieren und sich auf eine Lösung zu verständigen suchen.

2. Stärken

Planspiele bieten eine außerordentliche Möglichkeit, lebensrelevante Situationen in den Unterricht zu integrieren und Chancen und Risiken von Lösungsstrategien zu erproben. In einem kompetenzorientierten Unterricht können Schülerinnen und Schüler daher zentrale Kompetenzen erwerben bzw. nachweisen, die ihnen helfen, Anforderungssituationen in ihrem künftigen Leben zu bewältigen (Klippert, 2016, 17-18). Da Planspiele essentiell auf selbstständig organisierten Gruppenprozessen basieren, werden vor allem sozial-kommunikative Kompetenzen, aber auch Wissen, Methodenbeherrschung, Fähigkeiten und Fertigkeiten in fachlichen Bezügen gefördert.

Im Religionsunterricht können Planspiele überall dort eine wichtige didaktische Funktion wahrnehmen, wo es um Handlungs- und Entscheidungsorientierung geht, also

  • in ethischen Grundfragen und Wertkonflikten,
  • bei Problemen im Zusammenhang von Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung (Beispiele für fächerverbindendes Lernen bei Klippert, 2016, 79-107;169-200),
  • in biblisch-theologischen Zentraltopoi wie Nächstenliebe und Feindesliebe, Schuld und Vergebung, Rache und Vergeltung, Vertrauen und Gewalt,
  • in kirchlichen Auseinandersetzungen und Interessenskonflikten,
  • im interreligiösen Diskurs,
  • in der Gestaltung einer gerechten und menschenwürdigen Gesellschaft,
  • im Umgang mit Flüchtlingen und Minderheiten (Beispiel bei Klippert, 2016, 64-79),
  • und auch in Perspektiven, wie und von welchen Maximen und Zielen aus das eigene Leben gestaltet werden soll (vgl. die ausführliche religionspädagogische Interpretation des „Fischerspiels“ bei Kliemann, 2003).

Neben den weiträumigen didaktischen Kontexten bieten Planspiele ein hohes Motivationspotential und stärken die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Nicht selten berichten Schülerinnen und Schüler noch nach Jahren von gelungenen Spielverläufen. Dazu tragen die vielfältigen Lernaktivitäten bei, die die Schülerinnen und Schüler herausfordern: „Im Planspiel wird gelesen, gerechnet, analysiert, prognostiziert, bewertet, geplant, taktiert, verhandelt und entschieden. Die freie Rede wird ebenso geübt wie das Verhalten in einer Diskussion. Mit einem hohen Maß an Selbststeuerung trainieren die Schüler hier Arbeitstechniken und Qualifikationen, die im außerschulischen Alltag von Bedeutung sind“ (Mattes, 2011, 164).

3. Grenzen

Planspiele sind mit einem relativ hohen Organisationsaufwand verbunden, sofern man nicht auf vorgefertigte Modelle oder Beispiele zurückgreifen kann (Vgl. Literatur). Ein plausibles, realistisches und fachlich relevantes Problem muss identifiziert und in ein spielfähiges Szenarium umgesetzt werden. Rollen müssen erdacht und mit entsprechenden Handlungsanweisungen ausgestattet werden. Grundlegende Informationen sind zu beschaffen und für die verschiedenen Gruppen aufzubereiten. Für Internetrecherchen brauchen die Gruppen Arbeitsplätze. Ein ausreichend großer Raum für die gruppenbezogenen Phasen muss bereit gestellt werden. Der Zeitbedarf übersteigt die üblichen Zeiteinheiten des Schulalltags, so dass gegebenenfalls besondere Spielgelegenheiten außerhalb des Stundenplans zu schaffen sind. Schließlich erfordert die Rolle des Spielleiters von den Lehrkräften eine gewisse Erfahrung, solide Sachkenntnis und moderative Fähigkeiten. All diese Rahmenbedingungen schränken die Einsatzfähigkeit von Planspielen ein und schrecken manche Lehrpersonen auch von der Nutzung von Planspielen ab.

4. Praxis

4.1. Vorbereitungen

Für das Gelingen eines Planspiels sind eine Reihe von vorbereitenden Schritten erforderlich. Empfehlenswert ist es besonders für noch wenig erfahrene Lehrkräfte, ein Planspiel im Team auszudenken und arbeitsteilig auszuarbeiten. Dabei kann auch eine fächerverbindende Anlage des Spiels in Betracht kommen.

Schritt 1: Ein Konflikt/ein Problem/eine Anforderungssituation wird definiert.

Unabdingbar ist die fachliche und lehrplanmäßige Einbindung des Grundkonflikts, der hinreichend komplex (aber nicht überkomplex!) und gewichtig sein muss. Zudem ist die Beteiligung unterschiedlicher Interessengruppen bzw. von Gruppen mit heterogenen Positionen konstitutiv. Die Platzierung des Planspiels im Kontext einer Reihe ist ebenfalls zu legitimieren.

Schritt 2: Die Rollen werden ausgearbeitet.

Die Zahl der Rollen liegt im Regelfall bei etwa fünf. Je mehr Rollen ins Spiel kommen, desto unübersichtlicher wird der Spielverlauf. Die Rollenbeschreibungen legen fest, von welchen Interessen bzw. Grundannahmen, Werten, Positionen eine Gruppe geleitet wird und welche Ziele sie verfolgt. Möglich ist, eine Gruppe durch einen Repräsentanten (Rollenträger) vertreten zu lassen, der durch die Gruppe beraten und instruiert wird. Mehrere Beobachter sollten mit konkreten Aufträgen den Spielverlauf verfolgen.

In die Rollenbeschreibungen können weitere Aufgaben für die Gruppen eingefügt werden, die sich auf das Verhalten und die Strategien beziehen, z.B. Wie soll die Gruppe arbeiten? Gibt es bestimmte Funktionen, die wahrzunehmen sind (z.B. Moderator, Schriftführer, Zeitwächter)? Wie geht die Gruppe mit anderen Gruppen um? Welche Strategien verfolgt sie, welche verwirft sie? Was wird die Gruppe auf keinen Fall tun?

Schritt 3: Eine Fallbeschreibung für den Einstieg wird vorbereitet.

Mit einer detaillierten Fallbeschreibung, die auch den Gruppen vorgelegt wird, wird eine für alle gemeinsame, verbindliche Basis geschaffen.

Schritt 4: Informationsmaterial wird bereit gestellt.

Dabei sollte darauf geachtet werden, die Fülle von Informationen zu begrenzen, so dass eine sinnvolle Informationsverarbeitung gewährleistet ist. Das gilt auch für die Nutzung des Internets (gegebenenfalls bestimmte Links angeben). Geeignetes Material (Zeitungsartikel, Umfragen, Lexikonartikel, Statistiken, prägnante Sachdarstellungen etc.) muss für die Gruppen in bearbeitbarer Form vorliegen. Wenn nötig, können auch Fachleute eingeladen werden, die im Verlauf des Spiels befragt werden.

Schritt 5: Der geplante Verlauf und die Regeln des Spiels werden festgelegt und schriftlich fixiert.

Schritt 6: Die Lerngruppe wird über das Planspiel, die Spielidee und das Szenario vorab informiert.

Schritt 7: Organisatorisch-technische Vorbereitungen werden getroffen.

4.2. Verlauf

Planspiele verlaufen nach einem Muster, das im konkreten Fall abgewandelt werden kann.

Phase 1: Einführung

Die Lehrkraft stellt zunächst den „Fall“, das Ziel des Spiels, die geplanten Rollen und die Regeln des Spiels vor und beantwortet Rückfragen. Je nach Lerngruppe können die Spielgruppen per Zufallsverfahren, nach Interessen oder nach persönlichen Präferenzen gebildet werden.

Phase 2: Erarbeitung

Die Gruppen befassen sich zunächst mit dem schriftlich vorliegenden Material (Fallbeschreibung, Rollenkarten, Regeln) und besprechen ihr weiteres Vorgehen. Anschließend sichten sie die Informationen, formulieren (gegebenenfalls: und visualisieren) ihre Argumente, erörtern mögliche Argumente der anderen Gruppen und legen ihre Strategie für die Phasen 3 und 4 fest.

Phase 3: Austausch/Interaktion

In dieser Phase nehmen die Gruppen untereinander mündlich oder schriftlich Kontakt auf, suchen Verbündete, loten die Argumente der anderen Gruppen aus, richten Anfragen an sie und verhandeln mit ihnen.

Phase 4: Konferenz/Sitzung/Versammlung/Kommission/Gremium

Diese Phase bildet den Schwerpunkt des Planspiels. Hier versucht jede Gruppe, ihre Standpunkte oder Interessen begründet und überzeugend vorzutragen und dafür zu werben, dass die Konferenz ihr zustimmt. In vielen Fällen werden die Verhandlungen auf einen für alle tragbaren Kompromiss hinauslaufen. Falls die Konferenz sich festläuft, kann der Spielleiter eine Auszeit anberaumen, um den Gruppen Zeit für interne Beratungen oder Kontakte zu anderen Gruppen zu geben. Am Ende der Verhandlungen muss eine Entscheidung stehen, die möglichst einvernehmlich, mindestens aber mit Mehrheit gefällt wird.

Variante: Statt einer Konferenz im Plenum kann der Beratungs- und Entscheidungsprozess auch mittels Briefen oder Mails erfolgen, die jeweils beim Spielleiter eingereicht bzw. über ihn zugeschickt werden. Dieses Verfahren hat den Vorteil, dass im Nachhinein der Prozess besser rekonstruierbar und verfolgbar ist.

Phase 5: Auswertung

In dieser Phase wird der Spielverlauf rekapituliert und bewertet, z.B.:

  • Wie sind die interaktiven Prozesse verlaufen? Welche Schwierigkeiten gab es? Wie ist das Ergebnis zustande gekommen?
  • Wie sind die Prozesse und das Ergebnis zu bewerten? Wie realistisch war das Planspiel?
  • Welche Erfahrungen haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gemacht? Waren die Vorbereitungen ausreichend? Welche Vorzüge, Schwächen, Planungsfehler hatte das Planspiel? Was hat das Planspiel an Lernergebnissen gebracht?

4.3. Regeln

Damit Planspiele nicht im chaotischen verbalen Schlagabtausch ausufern, sind klare Regeln erforderlich, die jeweils an die Situation angepasst werden können:

  • „Der Spielleiter ist allmächtig“ (Meyer, 2011, 369). Er ist in jeder Phase Herr des Verfahrens, kann das Spiel unterbrechen oder einfrieren und zusätzliche Regeln erlassen.
  • Der Spielleiter kann Fristen setzen, darf aber inhaltliche Entscheidungen nicht beeinflussen oder selber treffen.
  • Alle Gruppen halten sich an die vorgegebenen Rollenbeschreibungen und füllen sie aktiv und ernsthaft aus.
  • Jede Gruppe kann schriftliche Papiere verfassen, z.B. Thesenpapiere, Flugblätter, öffentliche Erklärungen, Visualisierungen, Mindmaps oder Ähnliches.

4.4. Ein Beispiel: „Soll Opa Steinmann noch ein neues Herz bekommen?“ (ausführlich Weißphal/Lenhard, 2016)

4.4.1. Problemfeldskizze

Im Zusammenhang mit dem Themenkomplex „Ethische Fragen im Religionsunterricht“ werden in einem Kurs der Oberstufe auch Probleme medizinischer Ethik erörtert. Dabei geht es nicht um abstrakte ethische Normen und Maximen, sondern aktuell um sozialpolitische Fragen nach dem Wert des menschlichen Lebens angesichts begrenzter Mittel und Ressourcen. „Um begrenzte finanzielle Mittel ‚sinnvoll‘ zu verteilen, wird versucht zu ermitteln, welcher volkswirtschaftliche ‚Mehrwert‘ erreicht werden kann. Überspitzt formuliert wird also berechnet, welche Personen oder Personengruppen für die Gesellschaft mehr wert sind und welche weniger“ (Klare, 2010, 151).

Die Ökonomisierung aller sozialer Beziehungen schlägt sich hier besonders deutlich nieder, da häufig Menschen unmittelbar betroffen sind. Deshalb erregte die Ansicht des damaligen, inzwischen verstorbenen Vorsitzenden der Jungen Union Philipp Mißfelder, alten Menschen sollten keine Hüft-Endoprothesen mehr eingesetzt werden, früher sei man ja auch an Krücken gegangen, ungeheures Aufsehen.

In Großbritannien werden bereits jetzt Menschen aufgrund gesetzlicher Regelungen von kostspieligen medizinischen Eingriffen ausgeschlossen. Dazu werden nach einem bestimmten Algorithmus Kosten-Nutzen-Berechnungen angestellt, wenn es um die Entscheidung über kostspielige Operationen oder Medikamente geht. Das investierte Geld wird dabei in ein Verhältnis gesetzt zu dem zu erwartenden QALY-Gewinn (Quality Adjusted Life Year), d.h. der prognostizierten „qualitätskorrigierten“ Restlebenszeit. Der dabei ermittelte Geldwert darf eine bestimmte festgelegte Summe nicht überschreiten.

Auch in Deutschland kann Patienten das gleiche Schicksal drohen, wenn z.B. eine Transplantation wegen Nieren- oder Herzversagen angezeigt ist, aber geeignete Organe wegen mangelnder Organspendebereitschaft nicht zur Verfügung stehen. Manch einer, der auf ein neues Herz oder eine neue Niere wartet, wartet vergebens. Er stirbt, bevor er operiert werden kann.

Die Organverteilung wird in Deutschland, Belgien, Kroatien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Ungarn und Slowenien durch EUROTRANSPLANT mit Sitz im holländischen Leiden nach einem präzisen Regelwerk vorgenommen.

4.4.2. Anforderungssituation

Die Anforderungssituation für das Planspiel provoziert: Sie kreist um die widersprüchlichen Diskussions- und Entscheidungsprozesse, die auf unterschiedlichen Ebenen bei einer teuren Organtransplantation ablaufen.

Unmittelbar betroffen sind die Schülerinnen und Schüler durch die Tatsache, dass im Mittelpunkt ein Familienmitglied – der Großvater – steht, mit dem sie aus eigener Anschauung eine bestimmte Person verbinden können. Auch das Familienszenario ermöglicht eine plausible Identifikation. Dieses Szenario ist bereits intern komplex angelegt – der Großvater denkt darüber nach, ob er sich überhaupt operieren lässt, die Familie muss in diesem Fall gegebenenfalls hohe Schulden auf sich nehmen. Zusätzlich kommen strittige Beratungs- und Entscheidungsprozesse in den beteiligten Institutionen hinzu, die sich auch im Ärzteteam zeigen. Es ist zu erwarten, dass es bei diesem Szenario keine glatten Lösungen gibt, dass aber ein Bewusstsein für die zugrunde liegende Problematik initiiert werden kann.

4.4.3. Der Fall

Damit hatte keiner gerechnet. Sein Leben lang war Werner Steinmann topfit gewesen. Nichtraucher, Alkohol nur in Maßen, Mitglied im Tennisverein, passionierter Mountainbikefahrer. Nein, seine 74 Jahre sah man ihm nicht an, so gutgelaunt, schlank und rank wie er auftrat! Nie war er ernstlich krank gewesen, bis auf die üblichen grippalen Infekte, die jeder mal bekam, und einer Krebserkrankung an der Prostata, die aber schon vor über fünf Jahren operiert worden war. Steinmann war schon im mittleren Alter nach Großbritannien umgezogen, weil er dort eine Filiale einer deutschen Maschinenbaufabrik leiten sollte. Mit 65 war er in Rente gegangen, aber sein Wohnsitz in London – er war inzwischen sogar britischer Staatsangehöriger – gefiel ihm so gut, dass er gemeinsam mit seiner Frau Gesine in Großbritannien blieb. Seine Kinder, zwei Töchter (Britta und Svenja) und ein Sohn (Thomas), waren indessen nach der Schule und Ausbildung wieder nach Deutschland gegangen, hatten dort Familien gegründet und waren inzwischen Eltern von vier Enkeln. Leider war eins der Kinder stark behindert und pflegebedürftig; die Eltern mussten jeden Monat einen erheblichen Teil ihres Familieneinkommens dafür aufwenden. Wie jedes Jahr war Werner Steinmann mit seiner Frau für vier Wochen nach Deutschland gekommen und hatte reihum die Kinder und Enkel besucht.

Und nun das! Jetzt lag Steinmann auf der Intensivstation des Herzzentrums und war an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Nur zögernd hatte der Stationsarzt der Familie mitgeteilt, dass ihr Vater und Großvater einen schweren Herzinfarkt erlitten habe. Zwar habe der Rettungswagen Werner Steinmann schnellstmöglich in das Zentrum transportiert und der Notarzt habe gute Arbeit geleistet, aber das Herz sei irreparabel geschädigt. Man könne ihm leider weder Bypässe legen, noch andere Unterstützungssysteme implantieren. Seine Tage seien gezählt – es sei denn, er werde als „high urgent“ auf eine Warteliste für ein passendes Spenderherz gesetzt. Aber ob das in seinem Alter noch möglich und sinnvoll sei, sei fraglich. Leider gebe es längst nicht genug Spenderherzen und zudem müssten die medizinischen Merkmale des Spenderorgans zu dem Kranken passen, sonst sei eine Transplantation von vornherein aussichtslos. Im Übrigen müsse man auf Angebote von Eurotransplant warten und das könne dauern.

Ob der Arzt denn ihren Vater und Großvater schon über seine Lage informiert habe? Nein, das habe er noch nicht, weil er nicht wisse, wie er darauf reagieren werde. „Ist Ihr Vater denn psychisch so stabil, dass er eine solche Nachricht verarbeiten kann?“ Die Geschwister schauten sich an. Thomas nickte: „Ich glaube schon. Wenn Sie es ihm vorsichtig erklären.“

Drei Tage später. Werner Steinmann hatte die Nachricht über seine Situation bemerkenswert gefasst aufgenommen. Zum ersten Mal in seinem Leben musste er dem Tod ins Auge sehen – aber es gab da noch das Fünkchen Hoffnung: eine Transplantation, wenn – ja wenn ein Herz zur Verfügung stände ... Er zweifelte, ob er alles auf eine Karte setzen sollte. War das besser als nichts? Oder musste er damit rechnen, nach der Operation seiner Familie über lange Zeit zur Last zu fallen, die harten Medikamente, die er immer nehmen musste, Nebenwirkungen, auf Hilfe angewiesen sein, wo doch seine Frau sich mit ihrem Rücken abplagte und die entfernt wohnenden Kinder genug um die Ohren hatten und sich kaum um ihren Vater kümmern konnten.

Von außen sah die Situation so aus: Vorsorglich hatte sich Thomas erkundigt, ob denn der englische National Health Service, von dem Steinmann kostenlose medizinische Versorgung erwarten konnte, bereit sei, die Kosten für eine Transplantation zu übernehmen. Die Antwort war negativ. 65 Jahre gelte im Regelfall als Altershöchstgrenze und die sei bei seinem Vater erheblich überschritten. Auch die Auslandskrankenversicherung, die Steinmann vorsorglich abgeschlossen hatte, hatte im Kleingedruckten Transplantationen ausdrücklich verweigert. Wer rechnete auch schon mit solch einem Schicksalsschlag? Blieb also nur die Möglichkeit, die Kosten selbst zu schultern. Aber 124.000 €? Dazu noch die Nachsorgekosten von jährlich etwa 10.000 €? Die Familien des Großvaters waren ratlos.

Und die Ärzte? Sollte man Werner Steinmann tatsächlich auf die high urgent-Liste setzen und an Eurotransplant melden? Im benachbarten Klinikum war gerade ein junger Mann eingeliefert worden, Motorradunfall, Gehirntod, die Körperfunktionen waren noch intakt, er war an lebenserhaltende Systeme angeschlossen worden – und er hatte einen Organspendeausweis bei sich. Die Labortests zeigten, dass sein Herz für Werner Steinmann passte – aber auch für einen alleinstehenden Mann von 48 Jahren, der schon auf der Warteliste stand. Leider war der nicht so gesund wie Werner Steinmann, er hatte deutliches Übergewicht und eine seiner Nieren war angeschlagen. Wie würde Eurotransplant entscheiden, wenn beide Patienten für eine Transplantation in Frage kämen?

Auch der Krankenhausseelsorger war informiert. Er hatte sich für Werner Steinmann besonders viel Zeit genommen. Schließlich war Steinmann früher einer der Kirchenvorsteher seiner lutherischen Kirchengemeinde gewesen. Aber was konnte er Steinmann raten? Und der Familie? Konnte ihm bei seinen Gesprächen die Bibel helfen? Vielleicht Verse aus den Psalmen wie Ps 88, 116 oder 23? Oder war sein Rat gar nicht gefragt?

4.4.4. Rollenbeschreibungen

Die Familie

Die Familie von Werner Steinmann sitzt zusammen. Alle sind äußerst besorgt. Eigentlich wollen alle, dass ihr Vater und Großvater ein neues Herz bekommt, allen voran seine Frau Gesine. Aber die Nachricht über die Kosten hat sie doch aufgeschreckt. Die Familie hat so gut wie keine Rücklagen, denn die Kinder Thomas, Britta und Svenja haben gerade erst Häuser gebaut und sich hoch verschuldet. Zudem ist ja auch noch das behinderte Kind von Thomas zu versorgen. Und Werner Steinmann hatte mit seinem Geld nie gespart, sondern alles mitgenommen, was das Leben lebenswert macht: Reisen durch die ganze Welt, Autos der Oberklasse, und natürlich sein Hobby Tennis – er war überall dabei, wo es etwas zu erleben gab. Sollte man angesichts der ungewissen Aussichten einer Transplantation so viel Geld investieren?

Die Krankenkasse

Das Leitungsteam der Krankenkasse tagt und diskutiert über zur Verfügung stehende Ressourcen. Auch wenn Werner Steinmann nicht zu den Versicherten gehört, lässt sich an seinem Fall die grundsätzliche Problematik erörtern. „Ein Glück, dass wir aus dem Schneider sind! 74 Jahre – das könnten wir vor unseren Beitragszahlern nicht verantworten“, meint ein junger aufstrebender Mitarbeiter. „Unsere Beiträge liegen schon jetzt im Minus. Wir können nicht schon wieder die Abgabenquote erhöhen, dann geht unsere Krankenkasse den Bach runter. Wir haben jetzt schon mit die höchsten Beiträge“, ergänzt der Finanzchef. „Aber gesetzt den Fall, ein altes Mitglied unserer Kasse würde eine Transplantation verlangen: Könnten wir es uns leisten, eine solche OP abzulehnen? Wenn das rauskommt. Die Medien werden sich auf uns stürzen“, wirft ein Regionalchef ein.

Das Ärzteteam

Das Transplantationsteam steht vor einer sehr schwierigen Entscheidung. Soll Werner Steinmann als „high urgent“ eingestuft werden? Er ist zwar medizinisch gesehen noch ganz fit – bis auf die überwundene Krebserkrankung –, aber die Statistik belegt, dass Menschen, je älter sie werden, immer geringere Überlebenszeiten bei Transplantationen haben. Sie sterben häufig an Infektionen oder an Nierenversagen. Und je länger Steinmann auf der Intensivstation liegt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass auch andere Organe geschädigt werden. „Gut, dass wir nicht entscheiden müssen, ob wir Steinmann oder den jüngeren Mann transplantieren, da nimmt uns Eurotransplant die Entscheidung ab“, sagte ein Assistenzarzt. „Aber unser Problem ist noch schwierig genug.“

Die Finanzabteilung des Herzzentrums

Der National Health Service hat auf Anfrage mitgeteilt, dass er die Kosten für die Transplantation nicht übernehmen werde. Die Familie muss für die hohen Kosten geradestehen. Aber kann sie das oder bleibt das Herzzentrum schließlich auf den Kosten sitzen? Der Geschäftsführer mischt sich zwar in der Regel nicht in Entscheidungen der Ärzte ein, aber er und sein Team sind dafür verantwortlich, dass das Zentrum profitabel arbeitet. Und da muss man einfach knallhart kalkulieren. Ausfälle kann man sich nicht erlauben. Auch wenn sich das hartherzig anhört. Das Zentrum ist schließlich ein ganz normaler Dienstleistungsbetrieb.

Der Krankenhauspfarrer und sein Seelsorgeteam

Pfarrer Kersten sorgt sich um sein früheres Gemeindeglied. Er merkt, wie sehr sich Werner Steinmann damit quält, eine Entscheidung zu treffen. Steinmann hat Vertrauen zu dem Pfarrer und er vertraut ihm an, was ihm durch den Kopf geht. Aber Pfarrer Kersten hat auch Kontakt zu der Familie, die er von klein auf kennt. Was soll er ihnen raten? Ob die alten Worte aus der Bibel helfen können? Er diskutiert den Fall mit seinen Kollegen, die in einer Supervisionsgruppe zusammenarbeiten.

Der Politiker mit seiner Arbeitsgruppe

Hermann Schäfer ist Gesundheitsexperte seiner Partei. Ihm macht die ständige Kostenexplosion im Gesundheitswesen zu schaffen. Vor allem die Kosten bei aufwändigen Operationen schießen ins Bodenlose. Und sie betreffen immer mehr die Senioren. Vor seiner Haustür liegt das bekannte Herzzentrum, in dem mit großem Erfolg und internationalem Ansehen Herzen repariert und – wenn nötig – auch transplantiert werden. Aber was das kostet! Alles auf dem Rücken der jungen Beitragszahler, die immer mehr für die Alten aufkommen müssen. Gerade erst wird er bedrängt von Leserbriefschreibern, endlich einmal was zu diesem Problem zu sagen. Aber was? In seiner Arbeitsgruppe will er eine grundsätzliche Stellungnahme verfassen.

Literaturverzeichnis

Beispiele mit Bezug zum Religionsunterricht:

Weltende

Bergpredigt

Flucht

Beispiel: Festung Europa

Anne Frank

Krise in Arunda

Das Fischerspiel

Computergestütztes Planspiel Ecopolicy

Hinweis:

SAGSAGA - Gesellschaft für Planspiele in Deutschland, Österreich und der Schweiz e. V.

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