Personalisierung
Andere Schreibweise: Personalisation; Personifizierung; Personifikation; engl. personalization
(erstellt: Februar 2022)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Personalisierung.201011
Im (religions)pädagogischen Kontext bezeichnet der Begriff Personalisierung (von lat. persōna: Charakter, Rolle; eigentlich Maske [des Schauspielers]) eine unterrichtliche Leitlinie. Dabei sind zwei Perspektiven zu unterscheiden: zum einen die Personalisierung eines Unterrichtsgegenstandes (1.) und zum anderen die Personalisierung des Lernens selbst (2.). Während mit ersterem das didaktische Prinzip benannt ist, Lerninhalte mittels einer Person, die im Unterrichtssetting unmittelbar anwesend ist oder medial repräsentiert wird, zugänglich und verständlich werden zu lassen, intendiert zweiteres eine Konzeption von Unterricht, in der das Subjekt sein Lernen selbst bestimmt.
1. Personalisierung des Unterrichtsgegenstandes: Personen als medialer Ankerpunkt
Bezogen auf bestimmte Inhaltsbereiche religiösen Lernens kommt das Prinzip der Personalisierung insbesondere in der → Kirchengeschichtsdidaktik
Personalisierung schafft über (exemplarische) Personen einen Zugang zum Bildungs- bzw. Unterrichtsgegenstand und ermöglicht in der Alteritätserfahrung (→ Erfahrung
1.1. Inhaltsbereich Christentumsgeschichte
In der Geschichtswissenschaft und -didaktik bezeichnet der Begriff der Personalisierung zunächst eine Kategorie der Weltwahrnehmung und -deutung, die im Alltag sowie in den öffentlichen Medien oftmals in Erscheinung tritt: (Geschichtliche) Ereignisse, Situationen und Konstellationen werden dem absichtlichen Handeln großer, übermächtiger Einzelpersonen – meist Männern – zugedacht und zugeschrieben (Bergmann, 1997, 298). „Personalisierung ist eine Form der Wirklichkeitserfassung, bei der die Wirklichkeit als Entscheidungsfeld und als Resultat des Handelns weniger Einzelpersonen begriffen wird. Die diesen Personen unterstellte Fähigkeit, die Wirklichkeit umstandslos zu ‚machen‘ oder unter Umständen erheblich zu gestalten, läßt die Einzelpersonen als ‚große Persönlichkeiten‘ erscheinen“ (Bergmann, 1997, 298). Dieses Alltagskonzept bzw. diese implizite Theorie findet sich oftmals in (Kirchen-) Geschichtsdarstellungen und auch die „Schülerinnen und Schüler scheinen in ihren eignen Geschichtsdeutungen zur Personalisierung zu neigen“ (Sauer, 2018, 85; siehe auch Günther-Arndt, 2008, 79-81).
Als leitendes Unterrichtskonzept wurde die Personalisierung in der Geschichtsdidaktik Ende der 1960er Jahre im Zuge der Emanzipationsfrage grundlegend – zum Teil vielleicht in überzogener Weise – kritisiert und dem entgegen ein strukturgeschichtlicher Zugang favorisiert (Lindner, 2007, 100-109). Insbesondere der Geschichtsdidaktiker Klaus Bergmann („Personalisierung im Geschichtsunterricht“, 1972) unterzog die personalisierende Geschichtsdarstellung als einer „Fehlform historischen und politischen Denkens“ (Bergmann, 1997, 299) der scharfen Kritik und stellte in den Raum, dass diese bei Schülerinnen und Schülern „politische Apathie“ und „autoritäre Einstellungen“ (Bergmann, 1997, 298) fördere, insofern die Präsentation übermächtiger Persönlichkeiten dazu verleite, gesellschaftliche Strukturen ebenso zu übersehen wie die (Leidens)geschichte der einfachen Menschen; zugleich werde der eigene Entscheidungs- und Handlung(spiel)raum dadurch unterschätzt. Initiiert von Bergmann selbst wurde das Prinzip der Personifizierung als eine mögliche Alternative in Betracht gezogen, welches „Geschichte an ‚namenlosen‘ handelnden und leidenden Personen“ (Bergmann, 1997, 299) darstellt, die in idealtypischer Weise gesellschaftliche Gruppierungen repräsentieren, wie beispielsweise die Fabrikarbeiterin, der Bauer oder die Auswanderin. Durch die Personifizierung bestimmter Gesellschaftsgruppen, -schichten und -klassen sollen der Alltag und die Erfahrungen, aber ebenso die Hoffnungen und Ängste der anonymen Mehrheit unterrichtlich fassbar werden. Dabei ist eine Personifizierung dem Prinzip der Multiperspektivität (→ Quellenarbeit, kirchengeschichtsdidaktisch
Die geschichtsdidaktische Personalisierungsdebatte und deren Autoritätskritik an den „großen Männern“, die scheinbar Geschichte machen, wurde in der Religionspädagogik zeitnah aufgenommen. Die personalisierte Kirchengeschichtsdarstellung als Lehr(er)-Erzählung, die entlang „großer“ Persönlichkeiten die zweitausendjährige Geschichte des Christentums als lineare Erfolgs- und Siegesgeschichte im Unterricht präsentiert, wurde ebenso einer kritischen Bestandsaufnahme unterzogen wie die didaktische Tradition der Lebensbilder „großer“ Christinnen und Christen (sogenannte exempla fidei; → Kirchengeschichtsschulbuch, evangelisch
1.2. Inhaltsbereich Religionen und Kulturen der Welt
Im Kontext des interreligiösen Lernens bezeichnet Personalisierung die exemplarische Auseinandersetzung mit einzelnen Personen, die gleichzeitig Repräsentantinnen bzw. Repräsentanten einer bestimmten Religion und Glaubenstradition sind (Meyer, 2019, 362). Über medial vermittelte Personen im Unterricht werden die gläubige Innenperspektive und die individuelle religiöse Praxis von Menschen, die sich einer bestimmten Religion, Konfession oder Denomination zugehörig fühlen, zugänglich. Ziel ist dabei einerseits das „identifikatorische Verstehen anders-religiöser Lebenswelten und Vollzüge“ (Lorenzen, 2021, 60) und andererseits das (existenzielle) Nachdenken über das Eigene im Wechselspiel von Nähe (Alter, Wohnort und Lebensumstände der dargestellten Person weisen eine gewisse Nähe zu den Schülerinnen und Schülern auf) und Distanz (Bekenntnis, religiöse Vorstellungswelt und religiöse Praxis).
Die religionswissenschaftliche Grundierung dieser didaktischen Leitlinie findet sich bei dem kanadischen Religionswissenschaftler Wilfred Cantwell Smith (1916-2000): Für Smith ist eine „Personalisierung der untersuchten Glaubensrichtungen“ (Smith, 1963, 79) insofern unverzichtbar, als Gegenstand religionswissenschaftlicher Forschung nicht bloß religiöse Systeme sind, die es distanziert von außen zu beobachten und zu beschreiben gilt, sondern gläubige bzw. religiöse Menschen mit einer inneren Haltung und Überzeugung, die „ihre“ Religion im Hier und Heute leben. Ausgehend von dieser Gegenstandsbestimmung gelangt Smith zu folgender Forderung bzw. zu folgendem Gütekriterium religionswissenschaftlicher Forschung: „wenn ihn [den Glauben] der Gläubige in der Darstellung des Wissenschaftlers nicht wiedererkennen kann, ist es nicht sein Glaube, der dargestellt wurde“ (Smith, 1963, 87) (zur Würdigung und Kritik des Personalisierungsbegriffs bei Smith siehe Tworuschka, 2011, 297-300).
Das Kriterium, das Angehörige einer Religion sich in der (wissenschaftlichen) Darstellung „ihres“ Glaubens wiedererkennen sollen, fand Eingang in die religionspädagogische Konzeption und Diskussion einer Didaktik der (Welt)Religionen (→ interreligiöses Lernen
Die mediale Vermittlung der subjektiven Aneignung einer bestimmten Religion, Konfession bzw. Denomination über exemplarische Repräsentanten und Repräsentantinnen kann mittels biographischer Erzählungen, Fotos, Filmen und Statements in Interview- oder Reportage-Form erfolgen. Neben diesen dokumentarischen Darstellungen finden sich in Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien aber ebenso fiktive (literarische) Personalisierungen in Erzähl-, Bild- oder Comicform, die im Sinne „idealtypischer“ Gestalten (Haußmann, 1992, 295) – sozusagen am Schreibtisch – auf der Grundlage verschiedener Quellen für unterrichtliche Zwecke entwickelt wurden.
Das Prinzip der Personalisierung schafft „zum einen eine Orientierung an den Glaubenserfahrungen der Andersgläubigen, zum anderen eine Orientierung an mit verschiedenen Sinnen erfahrbaren Ausdrucksformen von Religion […], damit eigene Erfahrungen gemacht werden können“ (Haußmann, 1992, 298). Es ermöglicht ein Probedenken und -handeln, insofern Schülerinnen und Schüler während des Unterrichts sowohl in die religiöse Handlungs- und Vorstellungswelt eines Anderen bzw. einer Anderen eintauchen als auch in einen fiktiven Dialog mit ihm oder ihr treten können (→ Erfahrung
Insofern bietet die Personalisierung „eine Alternative und […] Ergänzung zu unmittelbaren Begegnungen im Unterricht“ (Meyer, 2019, 370) (→ interreligiöses Begegnungslernen
Mittels Personalisierung werden Glaubensaussagen einer religiösen Tradition im Unterricht „nicht als ‚objektive Tatsachen‘ in den Raum gestellt, sondern mit einer Person verknüpft“ (Haußmann, 1992, 296) und so in ihrem Bekenntnischarakter zugänglich. Zugleich wird dadurch die individuelle Aneignung einer religiösen Tradition und damit die Vielfalt innerhalb einer nominellen Religion im Unterricht sichtbar. Darüber hinaus bindet die personalisierte Darstellung religiöse Artefakte (z.B. Chanukka-Leuchter, Ganesha-Statue), elementare Texte und Handlungsvollzüge einer Religion (beispielsweise das Schma Jisrael oder den Adhan; siehe dazu Meyer 2006; 2008) in einen (rituellen) Gebrauchskontext ein, insofern diese in konkreten, alltäglichen Handlungssituationen gezeigt und mit einer individuellen Bedeutung versehen werden (Meyer, 2019, 362).
Kritisiert wird am Prinzip der Personalisierung, dass die exemplarische Repräsentation zu einer unangemessenen Verallgemeinerung führen könne, also zu einem Fehlschluss vom gezeigten Einzelfall auf die Allgemeinheit einer Religionsgemeinschaft (Meyer, 2019, 396), zumal nicht davon auszugehen sei, dass Schülerinnen und Schüler automatisch die innere Vielfalt einer Religion erfassen und den einzelnen Gläubigen in einer bestimmten religiösen Tradition, Strömung oder Gruppierung verorten. Somit wäre es Aufgabe des konkreten Materials, den religiösen Kontext offenzulegen und eine Einordnung in die jeweilige religiöse Tradition zu leisten. Kritisch zu betrachten sind in unterrichtspraktischen Materialien sogenannte „Lexikon-Kinder“, also am Schreibtisch entworfene Figuren, die in erster Linie dazu dienen, religionskundliches Fachwissen über eine Religion enzyklopädisch zu referieren, und letztlich den informierenden Sachtext (→ Textarbeit
2. Personalisierung von Unterricht: im Mittelpunkt das lernende Subjekt
Personalisierung ist ein „vor allem im englischsprachigen Bildungsraum diskutierter Sammelbegriff“ (Pauli/Stebler/Reusser, 2017, 24) für eine Konzeption von Unterricht, in der die Schülerinnen und Schüler selbstbestimmt lernen. Personalisierung begegnet in den Bildungswissenschaften als weiter Begriff, dessen pädagogische wie didaktische Konsequenzen für die unterrichtliche Praxis noch wenig konkret erscheinen, und fungiert in öffentlichen Debatten als bildungspolitisches Schlagwort. Im OECD/CERI-Programm „Schooling for Tomorrow” (https://www.oecd.org/education/ceri/centreforeducationalresearchandinnovationceri-schoolingfortomorrow.htm
Eine erste Annäherung an das Konzept der Personalisierung ergibt sich durch die Abgrenzung zu verwandten Begriffen wie Differenzierung und Individualisierung, die für eine Anpassung des Lernangebots an die heterogenen Voraussetzungen (Lernstand, Vorwissen, Motivation) bzw. Bedürfnisse der Schüler stehen. Während aber dabei die Zuschreibung und Passung durch die Lehrkraft vorgenommen und gesteuert wird, indem sie die Lernenden diagnostisch in Untergruppen mit einem bestimmten Kenntnis- und Leistungsstand (z.B. leistungsstark/-schwach) etikettiert und im Anschluss maßgeschneiderte Lernangebote für separierte Gruppen bzw. Individuen bereitstellt (Lipowsky/Lotz, 2015, 157-160; Schratz/Westfall-Greiter, 2010, 20-25), sind Eigenbewegung, Selbstbestimmung und -verantwortung des lernenden Subjekts Mittelpunkt und Motor eines personalisierten Lernens. Der einzelne Schüler bzw. die einzelne Schülerin besitzt „Autonomiespielräume und Wahlmöglichkeiten bezüglich Themen, Lernwegen, Lernzeittaktung und Lernorten“ und verpflichtet sich selbst „zu Anstrengung und Übernahme von (Mit-)Verantwortung“ (Stebler/Pauli/Reusser, 2018, 165); diese von der Person des Lerners initiierten Prozesse werden von der Lehrkraft instruierend begleitet und unterstützt. Die Planung und Steuerung des Lernprozesses verschiebt sich dementsprechend von der Lehrperson hin zum Lernenden: „Personalisierung bedeutet […], dass die Lernenden Gelegenheiten erhalten, die Inhalte und Formen des Lernens selbst zu bestimmen und sich in die Planung und Durchführung des Unterrichts mit ihren persönlichen Vorlieben und Interessen, Lernpotentialen, Talenten und Lernwegen einzubringen“ (Rossa, 2015, 177). Schülerinnen und Schüler bestimmen folglich Lernorganisation, -inhalte, -wege, -kommunikation und -überprüfung in wesentlicher Weise mit. Auf der Prozessebene des Unterrichts verlangt ein personalisiertes Lernen kognitiv aktivierende Impulse und Aufgaben (→ kognitive Aktivierung
Die Konzeption eines personalisierten Lernens wird im deutschsprachigen Bildungsraum bislang nur vereinzelt thematisiert und diskutiert (Stebler/Pauli/Reusser, 2018, 163). Dies liegt zum einen wohl an der scheinbaren Nähe zu den gängigen wie breit rezipierten „Strategien im Umgang mit Heterogenität“ (Lipowsky/Lotz, 2015, 158, im Einzelnen: innere Differenzierung, Individualisierung, adaptives Unterrichten, offene Unterrichtsformen und entdeckendes Lernen), die empirischen Untersuchungen zufolge aber „per se nicht wirksamer“ sind „als traditioneller Unterricht, wenn es um die fachliche Leistungsentwicklung der Lernenden geht“ (Stebler/Pauli/Reusser, 2018, 164). Erklären lässt sich diese – für manche durchaus ernüchternde – Befundlage mit qualitativen Mängeln in der Tiefenstruktur (Mikroebene) des Unterrichts, insb. die niedrige → kognitive Aktivierung
In der deutschsprachigen Religionspädagogik scheint das pädagogische Programm eines personalisierten Lernens bis dato nicht eigens rezipiert zu sein (Suchanfragen in der RKE-Datenbank erzielen keine fachspezifischen Treffer). Gerade im Kontext bzw. unter der Maxime einer subjektorientierten Religionspädagogik (→ Subjekt
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