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Narratologische Analyse; Erzähltextanalyse

(erstellt: Februar 2019)

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1. Der ‚Narrative Turn‘ in den Wissenschaften und der (Religions-)Pädagogik

Der Mensch ist ‚in Geschichten verstrickt‘ (Schapp, 2012). Wer wir sind, woher wir kommen, was wir tun und wohin wir streben, lässt sich kaum anders als durch Erzählungen zum Ausdruck bringen. Man spricht deshalb nicht ohne Grund vom Menschen als „Homo narrans“ (Koschorke, 2012, 9-12) oder „story telling animal“ (McIntyre, 1984, 216). Die Erzählung ist dabei eine Epochen und Kulturen übergreifende Universalie, ein „metacode“ (White, 1980, 6) in der Repräsentation, Kommunikation und Erschließung von Wirklichkeit. Es ist deshalb eher verwunderlich, warum die Wissenschaften erst zum ausgehenden 20. Jahrhundert von einem „narrative turn“ (Kreiswirth, 2005) erfasst wurden. Seither ist die Narrativität in allen möglichen sozialen bzw. kulturellen Feldern vermehrt ein Forschungsgegenstand in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen (vgl. den Überblick bei Martínez, 2017, Kapitel 20-31).

Innerhalb der → Pädagogik wird seit langem reflektiert, dass Erzählungen unterschiedlicher Art schon im Kleinkindalter für die Entwicklung der Individualität und sozialen Interaktion unerlässlich sind (Saupe/Leubner, 2017, 149). Bereits im Vorschulalter rezipieren Kinder über Alltagskommunikation, Hörbücher, Vorlesen oder narrative digitale Medien Erzählungen unterschiedlicher Art und können sich selbst im mündlichen Erzählen üben. Mit Erwerb der Lesefähigkeit werden dann vermehrt literarische Erzählungen rezipiert, was im Laufe des Heranwachsens je unterschiedliche Gattungen (von Tiergeschichten bis Fantasy) einschließt. Auch in der Schule spielen Erzählungen in der Literaturdidaktik, doch ebenso auch in Fächern wie Geschichte, Sozialkunde oder sogar in den Naturwissenschaften eine wichtige Rolle und sind in ihren unterschiedlichen Funktionen wie z.B. Motivation für Lerninhalte, Veranschaulichung, Konfliktthematisierungen beliebte Medien des Unterrichtens. Gegenüber früheren Vorbehalten, dass Erzählungen als Lernmethode nur den lehrerorientierten Unterricht begünstigen, hat die handlungs- und produktionsorientierte Didaktik gezeigt, dass z.B. durch kreative narrative Schreibprozesse sprachliche, hermeneutische und kognitive Kompetenzen explizit gefördert werden (Weinhold, 2005; Leubner/Saupe, 2012, 48-54; Zimmermann, 2018b).

Im Kontext der → Religionspädagogik sind sowohl biographische Erzählungen, z.B. die eigene Lebensgeschichte der Schülerinnen und Schüler, als auch Quellennarrative, z.B. Erzählungen der Bibel, bedeutsam, wobei die Lebensgeschichte einer Zeitzeugin der Kirchengeschichte wiederum die Überlappung von beiden anzeigt. Von eigenem Wert sind auch kollektive oder sogar kulturelle ‚Meistererzählungen‘, die im Identitätsstiftungsprozess der erzählenden Gemeinschaft von einer Jugendgruppe, über die Flüchtlingsfamilie bis hin zur religiösen Gemeinschaft eine zentrale Rolle spielen.

Erzählungen führen in markanter und verdichteter Weise sowohl Sichtweisen der Wirklichkeit vor Augen, die in einer Kultur etabliert sind, als auch können sie in visionärer oder utopischer Weise narrative Gegenwelten entwerfen (z.B. Gleichnisse), die für Kinder/Jugendliche neu und herausfordernd sind. Vielfach greifen in Prozessen der Prä-, Kon- und Refiguration (Ricoeur, 1988-91) beide Ebenen ineinander und stiften dabei „narrative Identität“ (Ricoeur, 2005).

Die narratologische Analysemethode lässt sich prinzipiell medienübergreifend auf alle Formen von Erzählungen anwenden und findet in verschiedenen Disziplinen auch unterschiedliche Ausformungen (z.B. Analyse von Augenzeugen’berichten‘ in der Kriminologie, Figurenanalyse in der Film- und Medienwissenschaft). Die differenzierteste Methodik wurde in der Literaturwissenschaft zur Analyse schriftlicher, in der Regel fiktionaler Texte entwickelt. An diese Methodik lehnt sich der folgende Artikel an und konkretisiert sie anhand biblischer Texte.

2. Narratologische Analyse, insbesondere von Bibeltexten

2.1. Definition

Narratologische Analyse ist die Untersuchung eines gegebenen Erzähltexts unter erzähltheoretischen Gesichtspunkten. Innerhalb der Erzählforschung unterscheidet man allgemein zwischen dem WAS der Erzählung (Analyse des Erzählinhalts, der Geschichte/der story) und dem WIE der Erzählung (Analyse der Erzählweise, der sprachlichen Repräsentation/des discours) (Martínez/Scheffel, 2016; Lahn/Meister, 2016), wobei beide Aspekte eng ineinandergreifen (z.B. in der Figurenanalyse Handlungsdimension und Charakterisierung). Darüber hinaus wird in einigen Theorien noch der Erzähler (Lahn/Meister, 2016, 69-110) oder der Erzählakt eigens untersucht, wobei hierbei der Akt der Kommunikation bzw. die Interaktion zwischen Erzähler/Text und Leserin bzw. Leser stärker im Blick ist.

2.2. Einzelne Aspekte einer narratologischen Analyse

Im Folgenden werden Einzelaspekte der Erzähltextanalyse herausgegriffen, die auch didaktisch fruchtbar gemacht werden können.

2.2.1. Analyse der Handlung bzw. des Handlungsverlaufs (story-Ebene)

Erzählungen bringen Ereignisse (Aktionen/actions bzw. Geschehnisse/happenings) zur Darstellung, die als ‚erzählwürdig‘ (tellable, tellability) angesehen werden. Hierbei kann offen bleiben, ob Ereignis im Sinne Goethes als „unerhörte Begebenheit“ (nach Schmid, 2013, 98), als geschichtswirksamer Vorfall (Hoelscher, 2002) oder auch als alltägliche Banalität, die exemplarischen Charakter aufweist, bestimmt wird. Aus analytischer Perspektive ist damit jedoch die Frage des Realitätsbezugs aufgeworfen. Simplifizierend kann man zwischen der Erzählung einer realen geschichtlichen Begebenheit der Vergangenheit (z.B. Jesu Geburt, Lk 2) und der eines fiktiven Ereignisses (z.B. das Endgericht, Mt 25) unterscheiden, wobei letzteres wiederum ‚realistisch‘ im Sinne eines allgemein akzeptierten Realitätssystems (‚possible world‘, z.B. Pharisäer und Zöllner im Tempel, vgl. Lk 18,10-14) oder ‚fantastisch‘ als bewusst realitätsdurchbrechend (z.B. das siebenköpfige Tier aus dem Meer, Apk 13,1) dargestellt werden kann. Entsprechend können die Erzählweisen als „faktuale Erzählung“ (Geschichte mit Bezug auf außersprachliche Wirklichkeit) oder als „fiktionale Erzählung“ (erfundene Geschichte) zugeordnet werden (Genette, 1990). So hilfreich derartige Klassifikationen auf den ersten Blick sind, so wenig werden sie den konkreten Texten gerecht. Hier hat in jüngster Zeit die Diskussion um „faktuale Erzählungen“ (Fludernik/Falkenhayner/Steiner, 2015; Zimmermann, 2017) gezeigt, dass der Wirklichkeitsbezug von Texten komplexer ist, denn auch erfundene Geschichten können Realität widerspiegeln, während der literarisch erzeugte Authentizitätsanspruch (z.B. ein Augenzeugenbericht, dazu Luther, 2018) teilweise zu Fehlschlüssen verleitet. Ein Lernfeld dieser komplexen Verweisstruktur sind z.B. neutestamentliche Wundererzählungen, die eine faktuale Erzählweise mit fiktiven Inhalten verknüpfen und somit als „fantastische Tatsachenberichte“ (Zimmermann, 2014; Zimmermann, 2017, 31-38) bezeichnet werden können.

Zu einer Geschichte werden Ereignisse erst, wenn sie zu Handlungssequenzen bzw. Episoden zusammengefügt werden, die wiederum Bausteine der Makro-Einheit einer Handlung als ganzer (plot, story) bilden. Diese Makro-Geschichte (z.B. die Jona-Erzählung) weist eine gewisse Geschlossenheit auf, die bereits auf der Ebene des Textes z.B. durch einen linearen Erzählverlauf (Einleitung, Hauptteil, Schluss) oder erst im Kopf der oder des Lesenden (z.B. bei postmodernen anachronistisch angeordneten Episoden) entsteht. Dies schließt nicht die bewusste Abweichung durch ein offenes Ende (z.B. beim verlorenen Sohn Lk 15) aus, sondern verschafft dieser Form der Darstellung erst die entsprechende Wirkung, indem diese Leerstellen durch die Lesenden gefüllt werden. Ebenso kann die Handlungslogik durch so genannte Pro- und Analepsen (Vor- und Rückblicke; vgl. der Verweis auf Jesu Tod und Auferstehung am Anfang des Evangeliums in Joh 2,22) oder „Metalepsen“, also logische Übertritte bzw. Inkonsistenzen der Erzählebenen (z.B. Mk 13,14: Die Erzählfigur Jesus spricht die Leserin oder den Leser an: „wer das jetzt liest, soll es begreifen“), durchbrochen werden (zu Metalepsen Eisen/Möllendorf, 2013).

Bei der Analyse des Handlungsverlaufs sind differenzierte Gliederungen des Makrotextes, wie auch einzelner Episoden (oder in der → Bibel „Perikopen“) unverzichtbar (z.B. Exposition, Nebenhandlung, „Krise“ z.B. des ‚verlorenen Sohns‘). Hierbei gibt es nicht nur eine mögliche Strukturierung einer Erzählung, allerdings sollte jeder Strukturierungsvorschlag durch textliche Merkmale (Auftritt neuer Figuren, Ortswechsel etc.) begründet sein. Ferner ist die Zuweisung zu Handlungstypen (z.B. tragische, komische Handlung) für ein Verständnis hilfreich.

2.2.2. Figurenanalyse

Die handelnden Figuren bilden das Grundgerüst jeder Erzählung. Da sie meist personalen Charakter haben (es gibt aber auch Tiere, Abstrakta, Gegenstände, die figural erzählt werden wie z.B. das „herabkommende himmlische Jerusalem“, Apk 21,2), bieten sie auch leicht Anknüpfungspunkte für Identifikations- und Abgrenzungsprozesse im unterrichtlichen Geschehen.

a) Figurenbestand und -konstellation

Zunächst gilt es, die unterschiedlichen Figuren und ihre Rolle im Geschehen wahrzunehmen. In Ergänzung zu den Hauptcharakteren werden oft handelnde Nebencharaktere (z.B. der Wirt im Samaritergleichnis, Lk 10,34f.), nur erwähnte (Hintergrund-)Figuren (z.B. der ‚andere Jünger‘ in Joh 1,40) oder Gruppencharaktere (die Jüngerinnen, Lk 8,2-3) übersehen, die durchaus für den Handlungsverlauf bedeutsam sein können. Die Figuren stehen in Beziehungen. Dabei können sie parallel (Martha und Maria bis in Wortlautübereinstimmungen in Joh 11,21.32) oder kontrastiv (kluge und dumme Jungfrauen, Mt 25,1-13), hierarchisch oder egalitär (Herr, Sklave, Mitsklave in Mt 18,23-35) aufeinander bezogen werden. Eine beliebte Konstellation ist auch das ‚dramaturgische Dreieck‘ (z.B. Hirte, verlorenes Schaf, Herde; Vater und zwei Söhne, Lk 15).

b) Charaktermerkmale

Eine Figur kann durch direkte (telling, z.B. Judas, der „Verräter“, Joh 18,2 oder „Dieb“, Joh 12,6) oder indirekte Charakterisierung (showing, durch ihr Reden, Tun oder Interaktion mit anderen, z.B. das Zweifeln des Thomas, Joh 20,25) beschrieben werden (zur Differenz Rimmon-Kenan, 2002, 60-67;282-291). Charaktermerkmale von Figuren werden hierbei durch Herkunfts- oder Beinamen, Gruppenzugehörigkeit, äußere Attribute, Gefühle, Wissen, Wünsche oder Verhaltensweisen bestimmt. Eder hat vier Merkmalsbereiche bei anthropomorphen Figuren unterschieden: 1) Körperlichkeit/äußere Attribute; 2) Psyche; 3) Sozialität und 4) Verhalten (Eder, 2008, 173-179), während Finnern sogar zwölf Analysekategorien differenziert und z.B. noch Erleben, Pflichten oder Intentionen eigens benennt (Finnern, 2010, 134-143).

c) Figurenkonzeption

Unterschiedliche Beobachtungen zu den Figuren werden schließlich in einer Figurenkonzeption zusammengeführt. Die bekannte Unterscheidung zwischen „flat“ und „round character“ (Forster, 1975, 73-81) greift hierbei sicher zu kurz. Stattdessen bemüht sich die moderne Erzähltheorie um eine präzisere Erfassung komplexer Figurenpräsentation z.B. anhand der polaren Dimensionen „statisch – dynamisch“, „eindimensional – komplex“, „typisch – individuell“ (Eder, 2008, 375-399). Bennema hat ein differenziertes Modell der Klassifikation entwickelt, wobei jede Figur anhand von drei Kontinua (complexity, development, penetration into inner life) und vier Graden (non, little, some, much) in vier Kategorien (agent, type/stock, personality, individual) eingeordnet wird (Bennema, 2014, 61;79), was zwar derart schematisch selten durchgeführt werden kann, aber zweifellos einen heuristischen Wert besitzt.

Klassisch ist das so genannte „Aktantenmodell“ von Greimas, dessen strukturelle Grundunterscheidung zwischen Protagonist (Held), Antagonist (Gegenspieler) und Adjuvant (Helfer) (Greimas, 1971, 159f.) von Eder in ein komplexes Handlungsrollenmodell (Eder, 2008, 492) ausgeweitet wurde.

2.2.3. Analyse von Zeit und Raum

a) Analyse der Zeit

Die erzählte Handlung vollzieht sich innerhalb der Zeit. Allerdings treten Erzählzeit und erzählte Zeit in ein je bestimmtes Verhältnis, indem z.B. im erzählten inneren Monolog die Erzählzeit über der erzählten Zeit liegt, bei kleinschrittig erzählten Handlungen kommt es zu einer Entsprechung (z.B. die Handlungen der Fußwaschung, Joh 13,4f.), während auch ein langer Zeitraum in einer kurzen rückblickenden Notiz zusammengefasst werden kann (z.B. 1 Sam 3,19: und der Junge wuchs heran). Die Zeitmodulation wird teilweise kunstvoll gestaltet, wie am JohEv verdeutlicht wird: Die erzählte Zeitspanne (ca. 2,5 Jahre vgl. die Erwähnung von drei Passafesten, Joh 2,13; 6,4; 13,1) wird in einem Prozess der Verlangsamung präsentiert: Während das erste Jahr innerhalb von zweieinhalb Kapiteln erzählt wird (2,13-3,21), erstreckt sich das zweite Jahr auf 5 Kapitel. Das Erzähltempo wird dann in Joh 12 noch weiter gebremst, so dass in den sieben Kapitel (Joh 13-17) eine erzählte Zeit von nur einer Nacht und einem Tag abgedeckt wird. Die Erzählzeit scheint sich auf die in Joh 12,23 als gekommen angekündigte Stunde des Kreuzestods hin zu verlangsamen ja geradezu zum Stillstand zu gelangen (Frey, 2014, 142). Die weiten Zeithorizonte (von Uranfang bis letztem Tag, vgl. Joh 1,1; 11,24) fallen in der Todesstunde zusammen (Joh 19,30: „Es ist vollbracht“), die offenbar im Akt der Neuschöpfung als Stunde Null der christlichen Gemeinschaft gesehen wird. Des Weiteren sind Ordnung, Dauer und Frequenz von erzählten Ereignissen zu analysieren. So wird z.B. von der „Stunde Jesu“ im JohEv immer wieder repetierend erzählt (vgl. Joh 2,4; 4,23; 7,30; 12,27), um somit ihre Bedeutung markant hervorzuheben.

b) Analyse des Raums

Jurj Lotman hat als einer der ersten Erzähltheoretiker auf die bedeutungstragende Funktion des Raumes für das Geschehen in literarischen Texten hingewiesen (Lotman, 1993, 311-313). Die „Semantisierung des Raumes“ erfolgt dadurch, dass bipolaren Raumgrößen (z.B. nah-fern) Bewertungen und Bedeutungen zugeschrieben werden (z.B. oben = gut, unten = schlecht). Erzähler des Neuen Testaments nutzen derartige Techniken, um z.B. die Jesusgeschichte im Markusevangelium in Überkreuzung einer geographischen Nord-Südrichtung (Galiläa > Jerusalem, Mk 1-10) und einer Ost-West-Ausrichtung der Passion (Jericho > Jerusalem, Mk 10-16) einzuzeichnen (Klumbies, 2009). Ebenso zeigt sich das Spiel mit den Semiosphären, wenn die Pilatusszene im JohEv im liminalen Grenzgebiet zwischen „außen/jüdisch/rein“ – „innen-heidnisch-unrein“ dargestellt wird (Joh 18,28-40) oder die soziale Erniedrigung des Kreuzes paradoxerweise als „Erhöhung“ bezeichnet wird (vgl. Joh 3,14; 8,28; 12,32.34). Bork hat theologische Raumkonzepte in der Logienquelle vom Haus, Orten gesellschaftlichen Lebens, topographischen Gegenwelten (Himmel und Ort der Verdammnis) bis hin zum Königreich Gottes herausgearbeitet (Bork, 2015).

2.2.4. Analyse der Erzählperspektive bzw. des Erzählakts

Seit Stanzel spricht man von einer „Trias der Erzählsituationen“, bei der zwischen einem Ich-Erzähler, einem auktorialen Erzähler in distanzierter Außenperspektive und einem personalen Erzähler aus dem Blickwinkel einer „Reflektorfigur“ (Stanzel, 1993, 17) unterschieden wird. Genette hat differenzierter von der Stimme bzw. narrativen Instanz und unterschiedlichen Erzählebenen in einem mehrstufigen Inklusionsschema (auch Schachtelungen der Ebenen) gesprochen und entsprechend zwischen homo-, hetero-, intra-, extra- und metadiegetischen Erzählern und verschiedenen Fokalisierungen unterschieden (Genette, 2010, 151-183; 269-278). Wenn der Erzähler nicht in der erzählten Welt erscheint, spricht man vom heterodiegetischen Erzähler (griech. heteros = verschieden, diegesis = Erzählung), ist er hingegen als eine Figur, die z.B. rückblickend erzählt, selbst Bestandteil der Geschichte, entsprechend vom homodiegetischen Erzähler. Diese ontologische Bestimmung des Erzählers zur erzählten Welt kann nun noch durch die repräsentationslogische Relation des Erzählers zur Erzählung präzisiert werden. Steht der Erzähler außerhalb der Gesamterzählung, spricht Genette vom primären oder extradiegetischen Erzähler; ist er selbst Gegenstand der Erzählung, vom sekundären (intradiegetischen), bzw. ist er Gegenstand einer erzählten Erzählung, vom tertiären (metadiegetischen) Erzähler. Auf die Geschichte selbst bezogen, kann man hier auch von inkludiertem Erzählen bzw. Binnen- und Rahmenerzählung(en) sprechen (so z.B. das Gleichnis als Binnenerzählung im Evangelium; Jesus als intradiegetischer Erzähler, der beim getöteten „geliebten Sohn“ im Gleichnis von den bösen Winzern sogar zum metadiegetischen Erzähler wird, vgl. Mk 12,6-8).

Genauerer Analyse bedarf auch die Perspektive (point of view) des Erzählers bzw. die Nähe oder Distanz, mit der der Erzähler zur Handlung steht und damit die Leserin/den Leser am Geschehen teilhaben lässt. Genette spricht hier von der „Fokalisierung“, bei der Möglichkeiten des Wahrnehmens und Wissens oder im weiteren Sinn auch der Wertungen und Überzeugungen des Erzählers eine Rolle spielen (z.B. Nullfokalisierung beim heterodiegetischen Erzähler besagt, dass der Erzähler eine Über- und Allsicht besitzt, entsprechend dem allwissenden, auktorialen Erzähler; die „interne Fokalisierung“ eröffnet dem Leser hingegen ‚nur‘ die Mitsicht einer Figur).

Hilfreich ist auch das an der Kommunikation orientierte Modell des Erzählaktes, bei dem zwischen einem realen Autor (z.B. dem historischen Evangelisten), dem impliziten Autor (z.B. dem Lieblingsjünger), dem impliziten Leser (z.B. dem idealen Leser der joh Gemeinde) und dem realen Leser (einer Theologiestudentin in Mainz) unterschieden wird (Chatman, 1993). Culpepper hat dieses Modell zur Analyse des JohEv herangezogen (Culpepper, 1987). Die komplexe Horizontverschmelzung der Zeiten und Erzählebenen z.B. der Abschiedsreden des vierten Evangeliums (Joh 13-16) lassen sich somit als mehrstufiges Erzählen und Kommunikation zwischen Jesus und seinen Jüngern, Erzählstimme und implizitem Leser, oder auch zwischen realem Autor und der johanneischen Gemeinde bzw. der oder dem aktuellen Lesenden beschreiben (Hoegen-Rohls, 1996).

3. Religionspädagogische Anknüpfungspunkte

Die narratologische Durchdringung von Erzähltexten ist eine fundamentale Basis für die didaktische und methodische Arbeit mit diesen Texten. Um den biblischen Text verantwortungsvoll unterrichtlich aufzunehmen, genügt es eben nicht, einen thematischen Aufhänger zu wählen und dann völlig freischwebend Geschichten zu erfinden. Selbst wenn Akzente bewusst verschoben, Perspektiven gewechselt oder auch Kontrast- und Fortschreibungstexte produziert werden, bedarf es zunächst einer narratologischen Erfassung des Primärtextes. Sowohl für Unterrichtsentwürfe als auch für die praktische Unterrichtsvorbereitung empfiehlt es sich, dass die Lehrkraft eine eigene Sachanalyse des Primärtextes durchführt. Die Chance der oben genannten Analyseschritte besteht darin, dass sie weitgehend eigenständig in Beschäftigung mit dem Text durchzuführen sind, ohne auf Sekundärwissen z.B. aus Kommentaren wie z.B. bei historisch-kritischen Methoden angewiesen zu sein.

3.1. Der primäre Erzähltext als Unterrichtsgegenstand

3.1.1. Analysieren von Erzähltexten

Die Methoden narratologischer Analyse sind relativ einfach zu erlernen, da sie jenseits der Fachterminologie als bestimmte Fragerichtungen bestimmt werden können. Dies ermöglicht, dass Schülerinnen und Schüler nach kurzer Einführung in erzähltheoretische Werkzeuge eigenständig in der Lage sind, z.B. die Figuren eines Textes oder die Erzählperspektive zu erfassen. Auf diese Weise ermöglicht eine narratologische Texterschließung in Mittel- und Oberstufe eigenständige Entdeckungen am Text sowie Brückenschläge zum Literaturunterricht anderer Fächer.

3.1.2. Nacherzählen

Bereits in der Primarstufe oder auch in gemeindlichen Kontexten (z.B. im Kindergottesdienst) wird die Präsentation einer biblischen Erzählung meist als Nacherzählung gestaltet. Die im Rahmen einer narratologischen Analyse erarbeiteten Aspekte sollten hier bewusst didaktisch und methodisch vom Erzählenden aufgenommen werden. So können Emotionslenkungen (z.B. die Wut der Langzeitarbeiter im Weinberg, Mt 20,1-16) oder Figurenkonstellationen (z.B. die Parallelität und Abweichung der beiden Söhne in der Parabel vom Verlorenen Sohn Lk 15,11-32) aufgenommen, ausgestaltet oder kontrastiert werden.

3.1.3. Themenschwerpunkte

Aspekte, die narratologisch erkannt wurden, können explizit aufgegriffen und thematisiert werden. Dies gilt sowohl hinsichtlich des Erzählinhalts als auch der davon kaum abzulösenden Erzählweise. So wird z.B. die Frage der Handlungsbegründung bzw. Anwendung des Liebesgebots bei der Parabel vom „Barmherzigen Samariter“ gerade durch die rasche Erzählzeit beim Vorübergehen von Priester und Levit als Leerstelle dramatisiert (vgl. Lk 10,31f.), die eine eigene Positionierung erfordert. Ebenso wird die Frage der Auferstehung bei der Geschichte vom leeren Grab (Mk 16,8) als Erzählung mit offenem Ende präsentiert, was unmittelbar didaktisch aufgenommen werden kann.

3.2. Der primäre Erzähltext als Unterrichtsmedium

3.2.1. Kreatives Schreiben

Erzählen regt zum Nach-, Um- und Forterzählen an. Dies kann besonders auch unterrichtlich aufgegriffen werden, indem Schülerinnen und Schüler im Sinne des handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts eigenständig Erzählungen verfassen. Präzise Aufgabenstellungen bzw. Anforderungssituationen helfen hierbei, zielorientierte Schreibprozesse anzuregen (z.B. den bewusst weggelassenen Schluss einer biblischen Erzählung neu schreiben lassen, z.B. die Parabel vom reichen Mann und armen Lazarus, dazu Zimmermann, 2017). In mimetischer Weise kann auch die spezifische Form der Primärerzählung aufgenommen werden: Dies ist bei der Verfassung von Miniatur-Erzählungen wie z.B. Gleichnissen, aber ebenso auch bei Makro-Erzählungen möglich. So wurden erfolgreiche Unterrichtsreihen entwickelt, bei denen Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I eigene Evangelientexte aus der Perspektive von Kindern verfassen (Zimmermann, 2012), oder Jugendliche anhand aktueller Leidszenarien neue und eigene Hiob-Erzählungen schreiben (Zimmermann, 2011).

3.2.2. Szenische Darstellungsformen

Insbesondere die Handlungs- und Figurenanalyse regt dazu an, die Erzählung in medial ausgeweiteter Weise umzusetzen. So können z.B. anhand der erarbeiteten Figurenkonstellation oder der Raumsemantik Standbilder geschaffen werden, kleine Theatersequenzen geschrieben, Comics (→ Comic) oder Filme (→ Film) produziert werden.

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  • Zimmermann, Mirjam, ,Hiob reloaded‘ – nach Gerechtigkeit fragen. Schülerinnen und Schüler schreiben moderne Hiob-Erzählungen, in: Religion 5-10 4 (2011), 28-33 (Materialheft 11-13).
  • Zimmermann, Ruben, Verschlungenheit und Verschiedenheit von Text und Geschichte. Eine hinführende Skizze, in: Landmesser, Christof/Zimmermann, Ruben (Hg.), Text und Geschichte. Geschichtswissenschaftliche und literaturwissenschaftliche Beiträge zum Faktizitäts-Fiktionalitäts-Geflecht in antiken Texten, Leipzig 2017, 9-51.
  • Zimmermann, Ruben, Phantastische Tatsachenberichte?! Wundererzählungen im Spannungsfeld zwischen Historiographie und Phantastik, in: Kollmann, Bernd/Zimmermann, Ruben (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen, Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 339, Tübingen 2014, 469-494.

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