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Mutter Teresa (1910-1997)

(erstellt: Februar 2018)

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1. Lebensweltliche Verortungen

Zuletzt führte die Heiligsprechung für die 1997 gestorbene Mutter Teresa am 4. September 2016 zu einer großen publizistischen Aufmerksamkeit. Die mediale Berichterstattung war durchaus ausgewogen; wahrzunehmen waren würdigende sowie kritische Stimmen und eine Auseinandersetzung mit ihren Zweifeln, die 2007 durch die Veröffentlichung von Briefen und Tagebuchauszügen publik geworden waren. Das öffentliche Interesse an ihrer Person ist also nach wie vor groß und spiegelt die hohe Popularität zu ihren Lebzeiten wider, die mit erheblicher medialer Präsenz und zahlreichen Auszeichnungen einherging.

Die Aussage „Ich bin nicht (wie) Mutter Teresa“ ist bereits sprichwörtlich geworden – und damit auch für Angehörige jüngerer Generationen bekannt. Mit diesem Topos nutzen Menschen Mutter Teresa als Vergleichspunkt. Sie gilt dabei als Inbegriff für einen besonders hohen Grad an Selbstlosigkeit, zu dem man sich selbst in Beziehung setzt und ausdrücken will, dass das eigene Handeln nicht völlig aufopferungsvoll, selbstlos und uneigennützig ist, sondern durchaus auch im eigenen Interesse geschieht.

Mutter Teresa

Sehr bekannt ist (Abb. 1) ein Bild von Mutter Teresa, das durch seine mediale Präsenz, Farbgebung und Dynamik zur Bildikone geworden ist. Es zeigt sie als lachende, alte Frau, im weißen, blauumrandeten Sari, dem „Markenzeichen“ der Missionaries of Charity. Das Bild wird vielfach in verschiedenen Kontexten rezipiert, auch verfremdet, bleibt aber dennoch erkennbar.

Die lebensweltlichen Beobachtungen zeigen, dass Mutter Teresa in der Erinnerungskultur nach wie vor präsent ist und sie als die Personifizierung einer selbstlosen und liebevollen Zuwendung zu ihren Mitmenschen gilt. Erinnerungskultur kristallisiert sich an immateriellen wie konkreten Erinnerungsorten. Das zeigt sich auch bei den nach Mutter Teresa benannten Orten und Einrichtungen, Kindergärten, Senioren- und Pflegeheimen, verschiedenen Straßen sowie z.B. einem Kinderhilfswerk, das allerdings vom DZI kritisch bewertet und als nicht zu fördernd eingeschätzt wird (DZI). Mit ihrem Namen verbindet sich also scheinbar ein Programm und – sieht man vom unseriös wirkenden Kinderhilfswerk ab – auch eine Selbstverpflichtung für das eigene Handeln, wenn verschiedene soziale und diakonische Einrichtungen sich auf sie beziehen.

Auch direkt mit Mutter Teresa verbundene Erinnerungsorte sind präsent. Das Mutterhaus der Missionaries of Charity zieht als Ausflugsziel Backpacker an, wie die überwiegend sehr positiven 1119 Bewertungen bei Trip Advisor mit 4,5 von 5 möglichen Punkten anzeigen (Trip Advisor). Auch für Freiwilligendienste scheint der Orden Jüngere und Ältere anzusprechen und Menschen fühlen sich immer wieder herausgefordert, zumindest auf Zeit, sich für die „Ärmsten der Armen“ zu engagieren und meinen, es Mutter Teresa gleichzutun. Laut Sieg (2011) sind es allein in den vier Häusern in Kolkata 5.000 Freiwillige pro Jahr, mehrheitlich aus westlichen Ländern.

Angesichts der skizzierten lebensweltlichen Verortungen wird die These vertreten, dass die Person Mutter Teresa hinter der wirkmächtigen Ikone der Erinnerungskultur verschwindet, dass die Bilder die historische Person eher verklären und stereotype Vorstellungen vorherrschen. Um diese These zu stützen, sollen im zweiten Schritt kirchengeschichtliche Klärungen vorgenommen werden.

2. Kirchengeschichtliche Klärungen

Um eine kirchenhistorische Einordnung vorzunehmen, soll (1) die Quellenlage betrachtet werden, denn dies ist die Grundlage für die (2) Rekonstruktion der Biographie. Dann sollen (3) Mutter Teresas Intentionen dargelegt und eine kritische Würdigung vorgenommen werden.

2.1. Quellenlage

Obwohl Mutter Teresa zu den berühmtesten Frauen des 20. Jahrhunderts gehört, ist die Quellengrundlage einseitig, da vor allem hagiographisches Schrifttum vorliegt. Mutter Teresa lehnte biographische Studien über ihre Person ab. Selbst die von ihr autorisierten Biographien, die ihr Wirken permanent begleiteten und publik machten, enthalten Fehler und Widersprüche und laden zur Mythenbildung ein.

Für die Rekonstruktion der Biographie kann auf die veröffentlichten Selbstzeugnisse zurückgegriffen werden, die zum zehnten Todestag vom Mother Teresa of Calcutta Center, welches die Heiligsprechung verfolgte, veröffentlicht wurden. Diese Sammlung stellt keine historisch-kritische Quellenedition dar, da nicht offengelegt wurde, welche Briefe zur Veröffentlichung ausgewählt wurden und welche nicht. Weitere Akten über Mutter Teresa sind zudem nicht frei zugänglich. Sie selbst wollte nie, dass die Unterlagen überhaupt veröffentlicht werden (Mutter Teresa, 2007, 14-15). Immer wieder erscheinen zudem Sammlungen von Texten, die ihr zugeschrieben werden, sowie Fragmente öffentlicher Reden, bei denen sie als Autorin genannt wird (z.B. Mutter Teresa, 2011).

Von Mutter Teresa liegen zahlreiche Biographien vor, die sich an ein breites Publikum richten und wovon der größte Teil dem Genre der Erbauungsliteratur zugeordnet werden kann (z.B. Chawla, 1993; Haepp, 2016; Feldmann, 2007; Spink, 1997). Zu diesen gehören auch Biographien, die von Wegbegleitern Mutter Teresas verfasst wurden (z.B. Vazhakala, 2011). Zudem gibt es wiederum einige Biographien, die sich sehr kritisch, teils polemisch mit ihr (vor allem Hitchens, 1994; kritisch Chaterjee, 2003) und einige, die sich um ein ausgewogenes Urteil bemüht mit ihr auseinandersetzen (Göttler, 2010). Wissenschaftlich befasst sich vor allem Sammer mit ihr (Sammer, 2011;2003;2006).

2.2. Biographie

Im Folgenden sollen biographische Stationen skizziert werden (Witten, 2014, 272-322).

Im Jahr 1910 wurde Agnes Gonxha Bojaxhiu in Üsküp [Skopje], das damals zum Osmanischen Reich gehörte, geboren. Sie wuchs in einem durch Bildung, Kultur und katholische Frömmigkeit geprägten sowie finanziell abgesicherten und gesellschaftlich anerkannten Umfeld auf. Ihr religiöses Vorbild – nach dem sie sich auch benannte – war Therese von Lisieux (1873-1897), eine „Modeheilige“ in ihrer Jugend.

Im Alter von 18 Jahren stand für sie fest, dass sie Missionarin im Loreto-Orden werden wollte; ein Orden mit einer jesuitisch geprägten Frömmigkeit, der vor allem Aufgaben im Bildungsbereich wahrnahm. Nach ihrem Aufenthalt im Ordenshaus in Irland kam sie 1929 nach Bengalen. Dort arbeitete sie als Lehrerin und unterrichtete „höhere Töchter“. Gott gegenüber legte sie im April 1942 ihr Privatgelübde ab, „ihm nichts zu verweigern“ (Mutter Teresa, 2007, 42), was für sie zur zentralen Motivation wurde. Im sogenannten Zugerlebnis empfing sie „Kundgebungen der Gedanken Gottes“ und Jesus offenbarte ihr im Dialog: „Komm, komm [doch], trag mich in die Löcher der Armen. Komm, sei Mein Licht“ (Mutter Teresa, 2007, 58). Um diesem Auftrag gerecht zu werden, fasste sie den Entschluss, einen neuen Missionsorden zu gründen.

Fast zwei Jahre, bis zum Januar 1948, musste sie auf Zustimmungen und Genehmigungen warten, bevor sie realisieren konnte, was ihr aufgetragen war. Ihre Arbeit begann sie mit dem, was ihr vertraut war: Sie gründete eine Schule und baute Strukturen auf, die zur Gründung der Missionarinnen der Nächstenliebe führten. Der Orden umfasst vielfältige Gruppen und Arbeitsfelder. Mutter Teresas Frömmigkeit entsprechend wurde im Januar 1953 die Gemeinschaft der kranken und leidenden Mit-Arbeiter gegründet. Menschen, die auf Grund ihrer Krankheit scheinbar nichts für ihren Nächsten tun können, unterstützen den Orden, indem sie beten und durch ihr Leiden an der Passion Christi Anteil haben. Ein besonderes Problem stellte für Mutter Teresa die Situation armer und einsamer Sterbender dar. Sie gründete dafür ein Sterbehaus, das heutige Mutterhaus, in dem sie auch begraben ist. Sie sah in den vernachlässigten, abgewiesenen, unerwünschten Menschen „Christus in erschütternder Gestalt“ (Mutter Teresa, 2007, 172). Die Motivation für ihr Handeln an den Sterbenden benannte sie im Gespräch: „Jedes Mal, wenn jemand in meinen Armen stirbt, ist es, als würde Jesus dort sterben. Ich stehe ihm bei mit der Liebe, die ich Gott entgegenbringe“ (Allegri, 2003, 109). Sie gründete auch Kinderheime, die sie als gute Alternative zu Schwangerschaftsabbruch und Empfängnisverhütung sah.

Ein weiteres wichtiges Anliegen war ihr die Versorgung Leprakranker. Wie bereits der Name „Aussatz“ anzeigt, stellt Lepra eine Krankheit dar, die mit sozialer Ausgrenzung einhergeht. Der Orden richtete Zentren ein, in denen Erkrankte sich weitgehend selbstständig versorgen konnten. Parallel zu den Leprakranken in Indien sah sie im Westen das Schicksal der Menschen, die mit HIV infiziert waren. Auch in den Industrieländern gründete der Orden Niederlassungen, um sich der „Armut des Westens“ – dem Verlassensein – zu widmen (Mutter Teresa, 1977, 33-34). Ohne Vorurteile und Verurteilungen nahm sie sich in den 1980er Jahren AIDS-Kranken an.

Mit der zunehmenden Popularität Mutter Teresas – von Anfang an begleitet von großem medialem Interesse – nahm auch die Verbreitung des Ordens zu. Sie reiste um die Welt, erhielt viele internationale Auszeichnungen, darunter den Friedensnobelpreis. Die westliche Welt war beeindruckt von ihrer Gestalt, die sich so stark von dem sonst üblichen unterschied. Mit zunehmendem Alter wurden ihr Gesundheitszustand und ihre geistige Verfassung schlechter. Am 5. September 1997 verstarb Mutter Teresa. Das Begräbnis fand unter Beteiligung einer großen Öffentlichkeit statt. Am 19. Oktober 2003 wurde sie selig, am 4. September 2016 heiliggesprochen (→ Heilige).

2.3. Ziele und Intentionen

Ziel des Ordens ist es, sich den Armen, Kranken, Verlassenen und Sterbenden zu widmen. Der Grund der Arbeit besteht im Glauben an den Gekreuzigten und es gilt, seinen „Durst nach Seelen“ zu stillen. Programmatisch steht dafür der am Kreuz leidende Christus mit der Inschrift „I thirst“ (Joh 19,28), der z.B. im Mutterhaus zu sehen ist. Menschen sollen zu Christus gebracht werden. Der Orden verfolgt eine missionarische Zielstellung und ist primär nicht auf Entwicklungshilfe, Sozialarbeit, Hilfe zur Selbsthilfe oder Engagement für Menschen mit Unterstützungsbedarf ausgelegt.

Mutter Teresa sagte: „Weil wir Ordensleute sind, liegt unsere eigentliche Berufung nicht darin, für die Aussätzigen zu sorgen, sondern Jesus anzugehören. Weil ich ihm angehöre, ist die Arbeit für mich ein Mittel, meine Liebe zu Jesus in die Tat umzusetzen“ (Mutter Teresa, 1995, 91).

Der Umgang mit dem leidenden Nächsten ermöglicht die direkte Gottesbegegnung. Das ist eine nahezu wörtliche Interpretation von Mt 25,40. Mutter Teresa handelt nicht zuerst für ihren Nächsten, sondern für Christus.

Zum Konzept des bedingungslosen Vertrauens auf Gott sowie zur Vorstellung, für den Körper Christi zu sorgen, gehört z.B. das Verbot, Handschuhe zu tragen. Schmerzmittel werden abgelehnt, denn Schmerz ermöglicht die Begegnung mit dem leidenden Christus. Die Schwestern durften keinen Abstand von den infizierten Körpern halten. Es gibt viele Freiwillige, die entsetzt die bewusste Missachtung hygienischer Standards anmahnen.

Mutter Teresas Ziel war es, Seelen zu Christus zu führen. Zwar achtete sie andere Religionen, aber sie ging davon aus, dass das Heil allein in Christus zu finden ist. Daher nahm sie Nottaufen am Lebensende vor, auch aus der Überzeugung heraus, dass Taufe die beste Medizin sei.

2.4. Kritische Würdigung

Mutter Teresas Wirken ist starker Kritik ausgesetzt. Im Folgenden sollen Hauptkritikpunkte genannt werden, was eine religionsdidaktische Würdigung einschließt.

Kritik erfuhren immer wieder die Ausstattung, die mangelhafte Versorgung und die hygienischen Standards in den Einrichtungen. Kritisiert wurden ebenso die mediale Omnipräsenz, ein rigider Führungsstil, die Ablehnung von Verhütungsmitteln und Abtreibung, ein intransparenter Umgang mit Spendengeldern und ihr unkritischer Umgang mit politischen Machthabern, die sich gern mit ihr präsentierten (Witten, 2014, 327-336). Zudem wird kritisiert, dass durch die Berichterstattung ein auf Defizite gerichteter, westlicher Blick auf Indien erzeugt wurde oder sich verfestigt hat, der mit der Realität nicht übereinstimmt (Chatterjee, 2003).

Diese Kritikpunkte sollen nicht revidiert werden. Doch für eine angemessene Bewertung ist es unerlässlich, Mutter Teresa an ihren eigenen Zielen und Maßstäben zu messen, um zu überlegen, was positiv eingeschätzt werden kann. Weil Mutter Teresa im leidenden Menschen Christus sah, wandte sie sich ihnen bedingungslos zu. Das galt für die auf Grund der Lepra-Erkrankung vom sozialen Leben Ausgeschlossenen ebenso wie für die AIDS-Kranken, bei denen in den 1980er Jahren Panik vor Ansteckung sowie Vorurteile vorherrschten. Aber auf der anderen Seite derselben Medaille sind die ebenso in ihrer Frömmigkeit wurzelnde Verehrung des Leidens und die Formulierung von Lebensaufgaben wie Demut, Gehorsam und Selbstaufgabe sowie ihr missionarisches Anliegen zu finden. Dazu gehört, dass Leiden vorrangig mit Liebe gelindert werden soll statt durch Medikation.

Ebenfalls durch ihre Frömmigkeit geprägt ist ihr tiefes Vertrauen auf Gott, dass sich alles gut fügen wird, was sich in ihrem Wunsch, nichts zu lange vorauszuplanen und in ihrer anpackenden Hartnäckigkeit zeigt, was auch die Einheit zwischen praktischem Handeln und spirituellen Bezügen widerspiegelt.

3. Religionsdidaktisch-praktische Überlegungen

Die Auseinandersetzung mit der Erinnerungskultur und den kirchengeschichtlichen Klärungen zeigt an, dass zwischen der historischen Person und dem entstandenen Mythos zu unterscheiden ist. Dazu wird (1) überlegt, wie kirchengeschichtsdidaktisch mit der Biographie gearbeitet werden kann und (2) welche weiterführenden Lernmöglichkeiten sich in Auseinandersetzung mit der Biographie ergeben.

3.1. Kirchengeschichtsdidaktisches Arbeiten mit der Biographie

Es gilt, die Biographie kritisch zu rekonstruieren, dabei ist kirchengeschichtsdidaktisch das Prinzip der Quellenorientierung (→ Quellenarbeit, kirchengeschichtsdidaktisch) zu berücksichtigen. Dafür ist sich zunächst über die vornehmlich hagiographisch geprägte Perspektive der Quellen und ihrer Überlieferung zu verständigen. Dabei sollten sich die Lernenden kritisch mit den Intentionen der hagiographischen Überlieferungen befassen. Dazu gehört die Einsicht, dass es zwar von und über Mutter Teresa Quellen gibt, aber weniger schon von ihren Schwestern, etwas mehr von Freiwilligen, aber meines Wissens so gut wie keine Quellen aus der Perspektive derer, denen das Handeln gilt.

Für die Rekonstruktion der Biographie sollten Selbstzeugnisse Mutter Teresas genutzt werden. Das bietet sich an, da es zum Nachdenken anregt und gegebenenfalls Widerspruch erzeugt. Das geschichtsdidaktische Prinzip der Kontroversität sollte auch für religionsdidaktische Kontexte gelten, d.h. kontroverse Einschätzungen sind nicht zu harmonisieren oder zu verschweigen, sondern didaktisch zu nutzen.

So vertritt z.B. Wilfred die These, dass Mutter Teresas Wirken in Indien angesichts des Leidens in Folge von Hunger, Krankheiten, der Unruhen und Massenmigration zwischen Indien und Pakistan dringend notwendig war und dass es beeindruckend ist, wie sie mittellos und ohne materielle Sicherheit sich den Armen und an den Rand gedrängten widmete (Wilfred, 2017, 108). Hingegen schätzt Sammer die Situation so sein, dass in den Slums schon Hilfsorganisationen hinreichend wirkten, hier also kein wirklicher Bedarf bestand (Sammer, 2006, 24). Angesichts der veröffentlichten Selbstzeugnisse (Mutter Theresa, 2007, 90-96), die eine langfristige und gute Vorbereitung auf die neuen Aufgaben dokumentieren, liegt es nahe, im kleinen und mittellosen Beginn eher einen Mythos, der z.B. an das Senfkorn-Gleichnis erinnert, zu sehen (Witten, 2014, 289-290).

Auf Grund der einseitigen Quellenüberlieferung ist eine umfassende Multiperspektivität nicht möglich. Auf diese Leerstelle ist hinzuweisen, und es kann ein Perspektivenwechsel zur Perspektive der Betroffenen zumindest versucht werden, wobei darauf geachtet werden muss, dass stereotype Wahrnehmungen der indischen Lebenswelt nicht reproduziert werden.

Die durch die kritische Aufarbeitung deutlich werdende Ambivalenz der Person Mutter Teresas ermöglicht erst, an ihr zu lernen.

3.2. Lernmöglichkeiten

Die Biographie Mutter Teresas eröffnet eine Vielzahl von Lernmöglichkeiten und lässt unterschiedliche didaktische Kontextualisierungen zu. In Unterrichtsmaterialien wurde sie häufig unter der Frage nach Vorbildern bzw. als Orientierungsangebot thematisiert (Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt, 2007, 9;10;14, vgl. Gärtner, 2015, 124). Das liegt sicherlich auch darin begründet, dass sie noch nach ihrem Tod lange Zeit zu den am meist genannten Vorbildern gehörte (Institut für Allensbach, 2013) und sich inzwischen als Heilige in das weite Feld an erinnernswerten Personen aus der Kirchengeschichte einreiht. Wobei fraglich ist, ob das gegenwärtig vor allem unter den jüngeren Generationen noch der Fall ist. Ob zudem ein allzu explizites Präsentieren von aneinandergereihten Biographien unter der Vorbildfrage didaktisch geschickt ist, wäre zu bezweifeln. Sinnvoller ist es, Orientierungsangebote in andere Themen einzubinden, um eine langfristigere Auseinandersetzung zu ermöglichen, sodass die Lernenden sich zu den Personen in Beziehung setzen können. Das bedeutet aber auch, nicht nur besonders herausragende Beispiele zur Auseinandersetzung anzubieten, sondern dies auch mit Personen aus dem eigenen Umfeld zu verbinden. Dies würde zusammen mit der kritischen Rekonstruktion der Biographie ermöglichen, dem Ansatz der kritisch gebrochenen Vorbilder (Rickers, 2008) und der Annäherung über Personen, die den Lernenden näherstehen als die erstarrten Ikonen (Mendl, 2015), gerecht zu werden. Hier liegt die Herausforderung darin, die Kritikpunkte zu benennen, aber nicht bei den durchaus Empörung hervorrufenden Kritikpunkten stehen zu bleiben, sondern sich auf Mutter Teresas Intentionen einzulassen und aus dieser Perspektive kritisch zu bewerten.

Eine weitere Lernmöglichkeit liegt im Bereich der Ethik. In der Ambivalenz von Handlungsintention und Wirkung liegt Potenzial, sich mit christlichen Grundsätzen und ihrer Umsetzung auseinanderzusetzen. Dies betrifft in besonderer Weise den Bereich diakonischen/caritativen und sozialen Handelns und der zu Grunde liegenden Lernprozesse (→ diakonisches Lernen; → Caritas – Diakonie). Essenziell ist es, Mutters Teresas Glauben und die damit einhergehende Motivation zu thematisieren. Dass sie außerhalb der katholisch geprägten Erinnerungskultur kaum als durch und durch religiös geprägte Person wahrgenommen wird, kann produktiv aufgegriffen werden. Aussagen zu ihrer Motivation lassen sich gut aus den Selbstzeugnissen rekonstruieren. Dabei sollten ihre Zweifel, ihre Dunkelheit und ihre Suche nach Gott in ihren eindrücklichen Worten zur Sprache kommen. Auf die Frage, was diakonisches oder caritatives Handeln ausmacht – auch im Unterschied zu sozialem Handeln – zeigt sich eine Antwort in der Biographie Mutter Teresas. Bei ihr ist eine besondere Einheit von praktischem Handeln und Glaube festzustellen, was sich in der Einrichtung der Gemeinschaft der kranken und leidenden Mit-Arbeiter zeigt, deren Wirken im Gebet als absolut gleichrangig zu anderen Arbeiten des Ordens gesehen wurde. Die religiöse Dimension von Hilfehandeln lässt sich an diesen Beispielen gut thematisieren.

Ebenso ist eine Verständigung über die Motivation von Freiwilligen, die heute in den Häusern des Ordens arbeiten, interessant. So sagt z.B. ein junger Werbekaufmann aus Frankreich, dass er mit seinem Leben sehr unzufrieden war, als er sich als Freiwilliger registrierte. Für den Dienst gibt es scheinbar keine Voraussetzung, man muss allerdings die Kosten für Essen und Unterkunft selbst tragen. Die Arbeit im Hospiz brachte ihm einen Perspektivwechsel, er betrachtet die Menschen seitdem mit mehr Liebe. Zweimal im Jahr arbeitet er für zehn Tage im Hospiz mit und sieht diese Arbeit „wie eine Therapie“; er „kann Dinge tun, zu denen ich in Paris nie in der Lage wäre“ (Sieg, 2011, 56).

Eine weitere Lernmöglichkeit ergibt sich bibeldidaktisch. Für Mutter Teresa zentrale Bibelstellen, wie z.B. Mt 25,40 oder Joh 19,28, sollten für die Lernenden in der für sie eigenen Bedeutung innerhalb ihrer Kontexte erschlossen und miteinander verglichen werden.

Ebenso ist angesichts eines globalen Christentums, Herausforderungen durch interkulturelle und kontextuelle Theologien Mutter Teresas Konzept von Mission zu bearbeiten. Nicht zuletzt ist die Auseinandersetzung mit der Medienheiligen Mutter Teresa eine Lernmöglichkeit für Medienkompetenz, z.B. hinsichtlich der Bildästhetik oder um zu analysieren, durch welche Überlieferungswege die Ikone Mutter Teresa entstanden ist und wie die Bilder von ihr weiterwirken.

3.3. Umsetzung

Mutter Teresa erscheint vordergründig vertraut, doch bei genauerer Betrachtung wirkt sie fremd. Sinnvoll ist daher, als Einstieg das Vertraute, das Allzubekannte zu wählen. Dafür bieten sich die allseits präsenten Bilder, Namensnennungen und die Sprichwörtlichkeit der Frau im Sari an. Es ist anzuregen, dass die Schülerinnen und Schüler sich selbst und in ihrem Umfeld danach fragen, was mit Mutter Teresa verbunden wird. Auf diese Weise ist zu erheben, welche Meinungen, Einstellungen, Klischees und Kenntnisse über sie verbreitet sind. Das Ziel eines solchen Einstiegs besteht darin, sich den Ikonenstatus vor Augen zu führen. So wird bereits die legendarische Überformung der Biographie erkennbar. Auf Grund dieses ersten Eindrucks kann danach gefragt werden, was hinter diesen Einschätzungen steht und was einen Bezug zur Biographie hat.

In der Erarbeitung ist es entscheidend, sich mit den konträren Darstellungen auseinanderzusetzen. Dazu sind die mediale Berichterstattung (z.B. Müller-Meiningen, 2016; Bucher, 2017) sowie die verschiedenen Überlieferungsgenres zu nutzen, die z.B. Filme oder ein Comic umfassen (→ Film, kirchengeschichtsdidaktisch) (z.B. Chardez, 2016; Koller, 2010). Die Auseinandersetzung kann auch über Freiwillige, die im Orden mitgearbeitet haben, erfolgen. Diese stehen den Lernenden durch ihr zeitlich begrenztes Engagement und ihrer Herkunft möglicherweise näher (Mendl, 2015).

Eine Positionierung ist einzufordern, indem man z.B. diskutiert, ob die Namensnennungen sinnvoll sind. Ausgehend von den Zielstellungen und Überzeugungen Mutter Teresas ist zu überlegen, was für Schülerinnen und Schüler heute die Zuwendung zum leidenden Mitmenschen ausmacht. Weiterwirkende Stereotype wie Demut und Leiden sind zu dekonstruieren und dabei deren theologische Bedeutung zu verstehen.

4. Schluss

Mit der Biographie Mutter Teresas steht ein vielschichtiges Thema für den Religionsunterricht bereit. Wie herausragende Personen aus der christlichen Tradition historisch-kritisch und in ihrer Ambivalenz für Lernprozesse, gerade auch in ökumenischer und interreligiöser Hinsicht, nach Verstehen und Verständigung suchend, ohne bei Klischees, einseitiger Zustimmung oder Ablehnung stehen zu bleiben, fruchtbar gemacht werden können, stellt eine spannende Herausforderung dar.

Literaturverzeichnis

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Abbildungsverzeichnis

  • Mutter Teresa von Kalkutta im Ordenshaus San Gregorio in Rom, 1985 © Foto: Manfredo Ferrari, Online unter: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mutter_Teresa_von_Kalkutta.jpg; abgerufen am 27.09.2017

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