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Menschenrechte, kirchengeschichtsdidaktisch

(erstellt: März 2023)

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1. Lebensgeschichtliche Einordnungen

Ein paar Blitzlichter auf die jüngste Vergangenheit: Menschen und Menschenrechtsgruppierungen wehren sich gegen die Aufhebung des nationalen Abtreibungsrechts durch den Supreme Court mit dem Argument, dies sei ein Angriff auf die Frauenrechte (Tagesschau, 25.6.2022). Nach dem Fund von Kinder-Massengräbern in der Nähe früherer katholischer Schulen in Kanada rufen „UNO-Menschenrechtler“ die katholische Kirche zur Untersuchung und Versöhnungsarbeit auf (Spiegel, 5.6.2021). Die OSZE mahnt an, die Gefahren und Potentiale für Religionsfreiheit im digitalen Raum wahr und ernst zu nehmen (OSZE, 2020).

Der Begriff → Menschenrechte findet in der Öffentlichkeit eine starke Verwendung: in überstaatlicher Politik, bei Aufrufen von NGOs, in Printmedien ebenso wie auf Social Media Kanälen. Meist ist er dabei mit verschiedensten Emotionen verknüpft, die sowohl im jeweils zur Disposition stehenden Sachverhalt wie auch in der Situation der jeweils betroffenen Personen und Gruppierungen begründet liegen. Verletzungen der Menschenrechte werden aktuell in unterschiedlichsten Zusammenhängen angemahnt: Krieg (→ Krieg und Frieden) in der Ukraine und in weiteren Staaten, Flüchtlingskrisen, LGBTQ, woke Bewegungen und mehr machen systemisch und macht-strukturell bedingte Menschenrechtsverletzungen zum Thema. Auch angesichts der zunehmenden → Digitalisierung des Alltags, medizinischer (Impf-)Debatten oder der Klimakrise (→ Klimawandel) lässt sich konstatieren, dass Menschenrechte ein Thema von ungebrochener Relevanz sind – wie etwa jüngst der Bestsellerautor Ferdinand von Schirach publikumswirksam betonte (von Schirach, 2021). Für den spezifisch religiösen und im weiteren Sinne kirchengeschichtsdidaktischen (→ Kirchengeschichtsdidaktik) Zusammenhang stellen schließlich die in den letzten Jahren aufgedeckten Missbrauchsskandale eine Herausforderung für die konstruktive Arbeit am Verständnis des Menschenrechtsbegriffs dar.

Ein einheitliches Verständnis der Menschenrechte existiert nicht. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich tendenziell ein Menschenrechtsverständnis durchgesetzt, nach dem Menschenrechte zu verstehen sind als dasjenige rechtliche System, das über staatliche und kulturelle Grenzen hinaus jene Rechte und Werte zu fördern und bewahren sucht, die für → Gerechtigkeit und Frieden fundamental sind (Haspel, 2011). Sie sind damit gewissermaßen das Freiheitsethos der modernen Gesellschaft und formulieren dieses politisch-rechtlich in einer der Tendenz nach universalen Form.

Faktisch werden die Menschenrechte in unterschiedlichsten Kontexten ins Feld geführt. Sie werden dabei nicht selten politisch funktionalisiert, zuweilen gar von politischen Opponenten auf beiden Seiten aufgerufen. Umstritten ist nicht zuletzt ihre Kulturabhängigkeit – und in der Folge die Intention und Möglichkeit der Universalität der Menschenrechte (Pollmann, 2022). In Frage gestellt wird schließlich, inwiefern und wie Menschenrechte gelehrt werden können.

In all diesen Kontexten spielen religiöse und interreligiöse Fragestellungen im Menschenrechtsdiskurs eine zentrale Rolle. Eine die menschenrechtliche Komplexität ernst- und wahrnehmende theologische Arbeit und entsprechende kirchengeschichtsdidaktische Reflexion sowie Bildungsverantwortung (→ Bildungsverantwortung, staatliche, kirchliche) bringen hier verschiedene Herausforderungen mit sich.

2. Kirchengeschichtliche Klärungen

Die Vorstellung und Institutionalisierung von Menschenrechten ist das Ergebnis vielfältiger historischer Entwicklungsprozesse (Bielefeldt, 1998, 85).

2.1. Biblische Anknüpfungspunkte

Im Blick auf jüdische und christliche Traditionen, die den Menschenrechtsgedanken mit geprägt haben bzw. nach wie vor zu fördern fähig sind, gilt der Fokus besonders der schöpfungstheologisch begründeten Betonung der Gottebenbildlichkeit und der damit im Zusammenhang stehenden Relationalität des Menschen: „Das Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder echten Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt gründet im christlichen Verständnis des Menschen als Gottes Ebenbild (imago dei). Auf dem Schöpfungsgedanken beruht die Unverfügbarkeit der Person, die Gleichheit aller Menschen vor Gott, die Respektierung der Würde, Verantwortung und Freiheit des Menschen“ (Honecker, 1978, 70). Weitere biblische Anknüpfungspunkte finden sich im Dekalog und dessen Betonung des Schutzes Machtloser und Armer (Hilpert, 2005; Hilpert, 1991, 191-194). Eine nochmals andere Akzentuierung des Menschenrechtegedankens findet sich in der prophetischen Literatur des Alten Testaments (Varga, 2019). Neutestamentlich lassen sich die überlieferten Worte und Handlungen Jesu, in denen die unbedingte Zuwendung und Anerkennung einzelner schutzbedürftiger Menschen und der Aufruf zu Brüderlichkeit deutlich werden, implizit als Begründungsfiguren für die Menschenrechte lesen (Bedford-Strohm, 1993). Bei Paulus kommt die Vorstellung der → Gleichheit aller Gläubigen vor Gott deutlich zum Ausdruck (z.B. Gal 3,28f.; Röm 8,29).

2.2. Ursprünge in der abendländischen Antike

Die Juristin Sybille Tönnies nennt drei Entwicklungslinien des Menschenrechtsdenkens: eine (jüdisch-)christliche, eine griechische, eine römische (Tönnies, 2011). Menschenrechte als grundlegende Rechte gab es in der griechisch-römischen Antike nicht. Der Ausdruck „Menschenrecht“ (ius humanum) ist allerdings antike Tradition (Steiner/Cancik/Leppin/Wielandt/Mokrosch, 1965). Mit der Frühaufklärung und unter dem Einfluss idealistischer Philosophie und Ethik entwickelt sich das Verständnis von Würde zur Bezeichnung eines inneren, absoluten Wertes des Menschen.

Die Idee der Menschenrechte ist dabei auch grundlegend im Zusammenhang mit der Entwicklung der Religionsfreiheit zu betrachten: Diese ist als Vor- und Teilgeschichte der Menschenrechtserklärungen des 18. Jahrhunderts zu verstehen (Joas, 2011, 23-62; Schuster/Gäckle, 2017). Zu einem umfassenden philosophischen Konzept ausformuliert wurden die Menschenrechte im Zuge der europäischen → Aufklärung im 17./18. Jahrhundert. Im Jahr 1789 erklärte die Französische Revolution, durch die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die Proklamation der Virginia Bill of Rights von 1776 geprägt, die Rechte des Menschen und des Bürgers (Stahl, 2021).

2.3. Kirchengeschichtliche Entwicklungen

An die unter 2.1 genannten alt- und neutestamentlichen Traditionen knüpften die christlichen Theologen der Patristik an, entwickelten sie in der Begegnung mit den Ansätzen der antiken Philosophie, in der Sprache der philosophischen Theoriebildung, weiter und konnten dabei Gedanken eines universalen Ethos erkennen (Aune, 2010). So war der den Menschenrechten zugrundeliegende Gedanke einer Menschenwürde als Folge der Gottebenbildlichkeit schon Augustin vertraut (Steiner/Cancik/Leppin/Wielandt/Mokrosch, 1965). Die Theologen des Mittelalters griffen diese Ansätze auf und bauten sie zu Theorien des Naturrechts und des Gewissens aus. Paradigmatisch begegnet diese Theorie in der Lehre des Thomas von Aquin vom „natürlichen Gesetz“ (lex naturalis) und vom „Gewissen“ (conscientia) (von Aquin, 2012, 90-108). Diese Lehren entwickeln sich in der mittelalterlichen und späten Scholastik weiter (Hilpert, 1991).

Entgegen der Erkenntnis solcher ideengeschichtlicher Anhaltspunkte traten die christlichen Kirchen in Europa – anders in Nordamerika – bis weit ins 20. Jahrhundert hinein häufig als Skeptikerinnen gegenüber der Idee der Menschenrechte hervor (Huber, 1989, 82; Kunter, 2010). Für diesen Widerstand gibt es historische wie sachliche Gründe. Primär entscheidend ist, dass Kirchgemeinschaften, gleichsam als Garanten eines göttlich sanktionierten Rechts sozialer Ungleichheit, zwangsläufig in den Widerstreit mit der Idee allgemeiner Freiheitsrechte geraten mussten (Noormann, 2013).

Bereits 1775 verurteilte Papst Pius VI. Ideen in dieser Richtung als „ansteckende Pest, die durch die Verdorbenheit unserer Zeit hervorgebracht wird“ (Menschenrechtskommission, 1986, 30). 1864 veröffentlichte Papst Pius IX. den „Syllabus errorum“, der die Religions- und Meinungsfreiheit als der Lehre der katholischen Kirche widersprechend apostrophierte (Hilpert, 2010; van der Ven, 2010). Was die katholische Kirche des 18./19. Jahrhunderts dabei ablehnte, waren nicht zwingend die Menschenrechte per se, sondern die Ideologie, in deren Kontext sie im Zusammenhang mit der Französischen Revolution entstanden sind, und insbesondere die → Religionsfreiheit, die von der Kirche als Freibrief für die Verfolgung von Religion und Kirche erlebt wurden (Hilpert, 1991, 138-173). Die mit der Industrialisierung im späten 19. Jahrhundert wachsenden sozialen Ungerechtigkeiten führten dazu, dass sich die katholische Kirche unter Papst Leo XIII. der Idee der Menschenrechte öffnete. Später sind es die Erfahrungen der faschistischen und kommunistischen Regime, die Papst Pius XII. sich den Ideen von → Demokratie und Rechtsstaat öffnen lassen (Hidalgo, 2010). Die lehramtlich verbindliche Wende in der Einstellung der katholischen Kirche zum Menschenrechtsgedanken im Allgemeinen und der Religionsfreiheit im Besonderen vollzog sich mit der Enzyklika „Pacem in terris“ (Papst Johannes XXIII., 1963; Hidalgo, 2010). Die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) „Gaudium et spes“ betont, dass sich Gott in Jesus Christus mit jedem Menschen vereinigt habe (Simon, 2010, 114-117; Hehir, 2010).

Auch auf Seite der evangelischen Kirche führte die Französische Revolution zunächst zu einer Abwehrhaltung gegenüber dem Gedanken allgemeiner Menschenrechte. Vorrangiger Grund für die Ablehnung der Menschenrechte war auch die optimistische → Anthropologie der Aufklärung: Nach Ansicht der reformatorischen Tradition basiert die Würde des Menschen auf der zuvorkommenden Gnade Gottes (→ Gott), die in der Vorstellung der bedingungslosen Rechtfertigung ihre pointierte Form erfährt. Die christliche Anthropologie richtet sich also nicht an einer allgemeinen Idee des Menschen aus, sondern am leidenden und gekreuzigten Christus (→ Christus/Christologie; Lochmann/Moltmann, 1976). Eine konstruktive Bezugnahme einer christlich-theologischen Sicht auf die Menschenrechtsidee zeigt sich dennoch schon früh in der reformatorischen Theologie (Lohmann, 2010; Witte, 2010).

Maßgeblich hat die durch die Konfessionalisierung sich verstärkende → Pluralisierung und die Forderung nach Trennung von Staat und Kirche (→ Kirche – Staat) zur Entwicklung der Menschenrechte beigetragen. Entscheidend ist die Menschenrechtsdebatte vom Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) vorangetrieben worden (Vögele, 2000). Spätestens seit der ersten Weltkonferenz der Religionen für den Frieden im Jahr 1970 zählen die Menschenrechte zu den Themen evangelischer wie katholischer → Theologie und Kirchen. Christliche Theologien und Akteure gelten inzwischen als weltweit operierende Anwälte der Menschenrechte (Shortall, 2018; Köbel, 2016, 225-228).

Die „Menschenrechte sind nicht nur als Ideengeschichte zu rekonstruieren“, sondern grundlegend Ergebnis des politischen und philosophischen Denkens der Neuzeit und hier wesentlich Antwort auf die unmenschlichen Unrechtserfahrungen und Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts (Bobbio, 2000, 21). Neben der Verknüpfung der Menschenrechte mit der Kontingenz menschlicher Geschichte lässt sich ein weiteres historisches Moment der Menschenrechte festhalten: die Notwendigkeit, dass sich Inhalte des Menschenrechtskanons weiter entwickeln müssen. Bielefeldt spricht deshalb von einem zweifachen historischen Aspekt der Menschenrechte (Bielefeldt, 1998, 85).

3. Religionsdidaktisch-praktische Überlegungen

3.1. Öffentlich-theologische Einordnungen

Wertorientierungen zählen zu den zentralen Bezugspunkten zwischen Theologie, Pädagogik und Gesellschaft (Höffe, 2015). Angesichts der global interagierenden Öffentlichkeiten mit je divergierenden Ethosformen bedarf es eines übergeordneten Normensystems, das für die Vielzahl der Kulturen als verbindlich anerkannt werden kann (Pemsel-Maier/Schambeck, 2017). Hierfür ist kein anderer Wertekanon so verbreitet wie die Menschenrechte.

Aus Perspektive der öffentlichen Theologie können und sollten Menschenrechte zum Thema werden (Stackhouse, 1999; Suhner, 2021): Im öffentlichen Raum tragen Religionen zwangsweise zur Förderung oder Verletzung der Menschenrechte bei. Umgekehrt bestimmen und begrenzen die Menschenrechte die öffentliche Handlungs- und Kommunikationspraxis der Religionen (Noormann, 2013; Suhner, 2021).

Die Ansicht, dass die Menschenrechte religiöse Anknüpfungspunkte haben, wird nicht nur im Christentum laut. Auch Vertreterinnen und Vertreter zahlreicher weiterer Religionstraditionen entdecken in ihrer Religion Grundlagen für die Menschenrechte (Johannsen, 2013; Schreiner, 2015).

3.2. Bildungsrechtliche Einordnungen

Menschenrechtsbildung ist fundamentaler Bestandteil der Menschenrechte (Krappmann, 2016, 137). Für den pädagogischen Kontext ist das primäre Menschenrecht jenes auf Bildung in der AEMR (UN-Generalversammlung, 1948; vgl. Lenhart, 2006, 89; Kunze, 2009, 147). In diesem Zusammenhang lässt sich auch das Recht des Kindes auf religiöse Bildung nennen (Schweitzer, 2005).

Für den deutschen Kontext besteht, im normativen Horizont des Grundgesetzes, ein enger Verweiszusammenhang von Art. 1 GG zur Religionsfreiheit (Art. 4 GG) und der Positionierung des verfassungsmäßig garantierten Religionsunterrichts (Art. 7 Abs. 3 GG) im Rahmen des Grundrechtskatalogs (Schlag, 2019).

3.3. Kirchengeschichtsdidaktische Einordnungen

Mit an Menschenrechten orientierter Bildung sind grundsätzlich die Ziele einer auf Freiheit und Gleichheit, Mündigkeit und → Menschenwürde hin ausgerichteten → Bildung genannt. Ihrer Bildungsabsicht nach ist Menschenrechtsbildung eine Querschnittsthematik, die in verschiedenen Fachbereichen thematisiert werden muss (Krappmann, 2016, 145), sowie eine Verbundwissenschaft, also ein multidisziplinäres Forschungsfeld (→ Menschenrechtspädagogik) (Bahr, 2018; Fritzsche/Kirchschläger/Kirchschläger, 2017).

In kirchengeschichtsdidaktischer Hinsicht ergeben sich spezifische Möglichkeiten und Aufgaben:

  1. 1.In formaler Hinsicht wichtig ist die Erfassung der Menschenrechtsgemäßheit vergangener und aktueller kirchlich-pädagogischer Systeme, Haltungen, Handlungen: Wie positionieren sich Kirche und Theologie im Blick auf menschenrechtsbezogene (Bildungs-)Strukturen und Blickrichtung (Morsink, 2017)? Was heißt es, im jeweiligen historischen und im gegenwärtigen Kontext, menschenrechtsgemäß Religion(en) zu lehren? Welche historischen Pfadabhängigkeiten prägen welche Vorstellungen davon, was es heißt, menschenwürdig zu glauben (Hehl, 2019)?
  2. 2.Die materiale und reflexive Aufgabe einer Kirchengeschichtsdidaktik legt das Augenmerk auf das Lehren kirchengeschichtlicher Entwicklungen im Blick auf Menschenrechte und Menschenpflichten (Assmann, 2018), auf substantielle biblische und kirchengeschichtliche Anknüpfungspunkte für Menschenrechte, auf entsprechende historische Verantwortung, Versöhnungsaufgaben (→ Versöhnung) oder Zukunftsherausforderungen. Zu denken ist hier etwa an → Erinnerungslernen (Boschki, 2010); an Lernen anhand einzelner Biographien kirchengeschichtsrelevanter Personen (→ biografisches Lernen); an kritisches Denken und Wahrnehmen – auch im Sinne einer lernenden Organisation – im Blick auf die eigene historische Verantwortung; an menschenrechtsrelevante Theologoumena (→ Freiheit, → Gleichheit, Schöpfungsverantwortung [→ Schöpfung] u.a.). Im weiteren Sinne sind an dieser Stelle auch pädagogische Debatten um Inklusion (→ Dis/ability History, kirchengeschichtsdidaktisch), Bildungsgerechtigkeit, humane Bildung, → Bildung für nachhaltige Entwicklung, menschenwürdige digitale Bildung etc. zu nennen.All diese genannten materialen Zugänge können auf unterschiedlichen Ebenen zum Thema werden, je nachdem, ob das Individuum, die Kirche als Institution und Organisation, oder die weltweite Gemeinschaft im Blick ist.
  3. 3.In normativer Hinsicht ist zu reflektieren, welche kirchengeschichtsdidaktischen Inhalte und welche Methoden die Lernenden dazu motivieren können, menschenrechtsgemäß zu handeln.Gerade auf der motivationalen Ebene kommen weltanschauliche und religiöse Perspektiven ins Spiel. Das Feld der Motivation lässt sich in verschiedene Ebenen von Lernprozessen ausdifferenzieren: in eine individuell-motivationale, eine öffentlich-dialogische und eine zeitliche bzw. intergenerationelle (Suhner, 2021, 352-354). Bei allen kommen auch Ansätze eines partizipativen und empowerment-orientierten Lernen verstärkt zum Zug (Domsgen, 2019).
  4. 4.Die anwendungsbezogene Aufgabe muss die Erkenntnisse in die unterschiedlichen praktischen pädagogischen Zusammenhänge stellen. Hierzu zählen nicht nur klassische Bildungssettings, sondern im weiteren Sinne auch praktisch-theologische Handlungsfelder wie Seelsorge, Liturgie (→ Bildung, liturgische), Homiletik. Grundsätzlich geht es darum, sich im Kontext einer verantwortungsvollen Kirchengeschichtsdidaktik selbst als wichtige Einflussgröße inmitten der gegenwärtigen gesellschaftlichen Friktions- und Exklusionsdynamiken zu verstehen.

4. Schluss, Ausblick, Desiderata

Die Wahrnehmung kirchengeschichtsdidaktischer Verantwortung im Blick auf Menschenrechte impliziert stets einen (selbst-)kritischen Aspekt, insofern der programmatische Bezug auf Menschenrechte das Selbstverständnis und die Aufgabe theologischer Religionspädagogik und kirchlich mitverantworteter Bildung zu einer kritischen Selbstprüfung auffordert. Die kirchengeschichtsdidaktisch verantwortete Förderung des Menschenrechtsbewusstseins (Suhner, 2022) ordnet sich nicht zuletzt ein in die jüngere religionspädagogische Debatte über die politische Dimension religiöser Bildung (Grümme, 2009; → Politische Religionspädagogik) und in das Programm öffentlicher Theologie. So werden in jüngerer Zeit vermehrt Bezugsfelder von Religionspädagogik und Menschenrechtspädagogik thematisiert (Schweitzer, 2017, 122; Suhner, 2022). Hier ist es im Sinne des Knowledge-Transfers wünschenswert, über systematische und differenzierte Erkenntnisse darüber zu verfügen, in welcher spezifischen Art welcher religionsdidaktische Ansatz, etwa ein spezifisch kirchengeschichtsdidaktischer, zu Menschenrechtsbildung beiträgt.

Dies wird umso notwendiger, als Menschenrechte zunehmend von postkolonialen Kritikerinnen und Kritikern (z.B. Antony Anghie, Makau Mutua) oder von Philosophinnen und Philosophen (z.B. Slavoj Žižek, Alain Badiou) kritisiert werden: Sind Menschenrechte einfach „nicht genug“ im globalen Kapitalismus (Moyn, 2018)? Der Aufruf, Menschenrechte gegen autoritäre Abwehr, im digitalen Raum und „auch gegen akademisch-intellektuelle Nekrologe“ (Pollmann, 2022) zu verteidigen, führt zur Notwendigkeit vernetzten, interdisziplinären Arbeitens und Lernens – mit Blick zurück, auf die Gegenwart und in die Zukunft.

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