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Maria, im Christentum und Islam

Andere Schreibweise: Mirjam; Maryam

(erstellt: Februar 2019)

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1. Maria im Christentum

1.1. Maria im Neuen Testament

Im Markusevangelium wird Jesus als „der Sohn der Maria“ (Mk 6,3) bezeichnet, der älteste neutestamentliche Beleg für den Namen. Zuvor ist von „seiner Mutter und seinen Brüdern“ (Mk 3,20-21.31-35) die Rede, die ihn ergreifen wollen, weil sie ihn für verrückt halten. Maria hat in diesem frühesten Evangelium sonst noch keine Bedeutung – sie steht eher in Distanz zu Jesus –, was darauf hindeutet, dass die Marienverehrung eine spätere christliche Entwicklung ist, zumal auch Paulus Maria nicht namentlich erwähnt (indirekt Gal 4,4) und sie in seiner Theologie keine Rolle spielt.

Maria, die Mutter Jesu, begegnet in den Evangelien vor allem in den Kindheitsgeschichten. Bei Matthäus hat sie im Unterschied zu Josef eher eine passive Rolle: die Verlobte Josefs empfängt vom Heiligen Geist (→ Heiliger Geist) und gebiert Jesus in Betlehem in Judäa (Mt 1,16.18.20; 2,11). Sie flieht mit Josef und dem Neugeborenen vor Herodes nach Ägypten (Mt 2,13-15) und zieht dann nach Nazaret in Galiläa (Mt 2,19-23). Mathhäus sieht in dieser ‚Jungfrauengeburt‘ eine Erfüllung der Verheißung von Jes 7,14 nach der Septuaginta-Übersetzung, wo das bedeutungsoffene hebräische Wort für junge Frau mit Parthénos wiedergegeben wird, was dann erst im Griechischen spezifisch Jungfrau (im biologischen Sinn) heißt und in der christlichen Auslegung dann auch so verstanden wurde.

Bei Lk übernimmt Maria eine aktivere Rolle in der Verkündigungsszene (Lk 1,25-56), in der sie, nicht Josef, vom Engel angesprochen wird und sie explizit der Botschaft zustimmt (Lk 1,38). Mit der Benediktion durch Elisabeth („gesegnet bist du unter den Frauen“ Lk 1,42) und dem Magnificat („von nun an werden mich seligpreisen alle Geschlechter“ Lk 1,48) wird die beginnende Marienverehrung angedeutet, aber auch ihre prophetische Funktion ausgedrückt. Überhaupt bekommt Maria durch Lk klarere Konturen: sie ist Jungfrau (Lk 1,27.34), mit Josef verlobt, die Begnadete (Lk 1,28), vom Heiligen Geist überschattet und Mutter des Sohnes Gottes (Lk 1,35), „Magd des Herrn“ (Lk 1,38), die vorbildhaft Glaubende (Lk 1,45), Schmerzensmutter (Lk 2,35). Maria wird bei Lukas zum Vor- und Urbild des Glaubens, der Hingabe an Gott. Die Szene des zwölfjährigen Jesus mit seinen Eltern im Tempel zum jährlichen Pessachfest (Lk 2,41-52) verortet Maria eindeutig im Judentum (→ Judentum, als Thema christlich verantworteter Bildung) der damaligen Zeit: Sie ist jüdische Frau und Mutter, die ihren Sohn Jesus in die jüdische Tradition und Praxis der Zeit einführt.

Nach Apg 1,14 gehörte Maria zur christlichen Urgemeinde in Jerusalem. Das Johannesevangelium bringt – ohne Namensnennung – weiteres Material über die Mutter Jesu und rahmt damit das öffentliche Wirken Jesu: bei der Hochzeit zu Kanaa (Joh 2,1-11) wird sie als erste Glaubende vorgestellt, bei der Szene unter dem Kreuz (Joh 19,25-27) wird sie als Zeugin des Geschehens gleichsam zur Mutter der Kirche. An mehreren Stellen im NT ist von Brüdern und Schwestern Jesu die Rede, was nach heutiger wissenschaftlicher Auslegung wörtlich und nicht im übertragenen Sinn zu verstehen ist, sodass davon auszugehen ist, dass Maria, die Mutter Jesu, mehrere Kinder hatte.

1.2. Maria in den Apokryphen

Apokryphe Schriften, die nicht in den offiziellen Kanon der Kirche aufgenommen wurden, aber doch zum Teil sehr stark die christliche Volksfrömmigkeit und sogar die kirchliche Dogmatik beeinflusst haben, zeugen von der anwachsenden Verehrung Mariens in den ersten Jahrhunderten. Es entstanden zahlreiche Schriften in verschiedenen Sprachen über die Geburt, das Leben, Sterben und die Himmelfahrt Mariens. Auch über die Eltern Mariens, Joachim und Anna, kennen wir allein aus diesen Quellen Geschichten. Von besonderer Bedeutung ist dabei das Protoevangelium des Jakobus (2. Jahrhundert), das die Reinheit und Heiligkeit Mariens betont und später offenbar auch den Koran beeinflusst hat.

1.3. Maria in der kirchlichen Verehrung und Dogmatik

Die früheste kirchliche Marienverehrung ist durchweg christologisch ausgerichtet, das heißt Maria erhält ihre Bedeutung von Jesus Christus (→ Christus) und seinem Heilswirken her. Auch die Dogmatisierung von Maria als Gottesgebärerin durch das Konzil zu Ephesus 431, die Ost- und Westkirche gemeinsam ist, ist vom Mysterium der Inkarnation her zu verstehen: Maria hat Jesus Christus geboren, in dem Gottes Wort wahrer Mensch geworden ist. Dennoch kommt es vor allem in der Westkirche zu einer gewissen Verselbständigung der Marienverehrung, die sich auch in der Ikonographie ausdrückt.

In der Bibelauslegung und Theologie wird die Eva-Maria-Typologie ein wichtiges Motiv: Wie durch Eva die Sünde (→ Sünde/Schuld) in die Welt gekommen sei, so sei durch die Jungfrau Maria, die neue Eva, eine Neuschöpfung von Gott her möglich geworden. Die Jungfräulichkeit Mariens wird auf diese Weise zu einem zentralen Topos der Mariologie und immer mehr – so bereits im Protoevangelium des Jakobus – auf die Zeit nach der Geburt ausgedehnt: die „immerwährende Jungfräulichkeit“ Mariens wird auf dem 2. Konzil zu Konstantinopel 553 dogmatisiert. Auf der Basis historisch-kritischer Exegese wird die biblische Rede von der Jungfräulichkeit Mariens heute vielfach nicht mehr als biologische, sondern als theologische Aussage über den Neubeginn der Heilsgeschichte von Gott her verstanden.

Nichtbiblische Momente und Episoden (aus den Apokryphen und dem religiösen antiken Umfeld) bekamen in der kirchlichen Marienverehrung und Lehre zunehmend Bedeutung. Es entstanden spezielle Marienfeste wie das Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel am 15. August, das seit dem 5. Jahrhundert bekannt ist. Maria wurde immer mehr zum Urbild der Kirche und zur Fürsprecherin. Die liturgische Marienverehrung drückte sich seit dem Mittelalter und der Renaissance in lateinischen Gebeten (Ave Maria) und Mariengesängen wie den Marianischen Antiphonen (Wechselgesängen) oder Marien-Hymnen aus, die sich direkt an Maria richten und bis heute vor allem im Stundengebet als Schluss der Vesper oder Komplet gesungen werden (z.B. Salve Regina im Jahreskreis, Regina Caeli in der Osterzeit). Im 15. Jahrhundert kam das Rosenkranzgebet auf, das Marienfrömmigkeit und Christusverehrung miteinander verbindet. Dazu kamen ab dem 16. Jahrhundert Marien-Motetten, volkssprachliche Marienlieder und Vertonungen des Stabat mater, einem mittelalterlichen Gedicht, in dem Mariens Schmerzen unter dem Kreuz thematisiert werden.

Im Hochmittelalter entstand in der lateinischen Kirche die theologische Diskussion um die unbefleckte Empfängnis Mariens (Immaculata), also die Frage, ob Maria frei von der Ursünde gewesen sei. Im Gefolge der Gegenreformation wird die Mariologie zu einem eigenen Traktat der katholischen Dogmatik und die auftauchenden Begriffe Gnadenmittlerin und Miterlöserin in Bezug auf Maria sind als Ausdruck übersteigerter Marienfrömmigkeit zu werten. Den Höhepunkt der katholischen Mariologie bilden die beiden Mariendogmen, also verbindliche Glaubenslehren, von der Unbefleckten Empfängnis Mariens (1854), als katholisches Hochfest am 8. Dezember gefeiert, und der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel (1950) als Ausdruck der ewigen Treue Gottes. Die orthodoxen Kirchen lehnen den Glauben an die unbefleckte Empfängnis ab, kennen aber das liturgische Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel, während beide Dogmen von protestantischer Seite als unbiblisch abgelehnt werden.

Von zentraler Bedeutung für die kirchliche Marienverehrung wurden Marienwallfahrtsorte (z.B. Guadalupe, Lourdes, Fatima, Ephesus), die mit ihrem Leben oder mit Marienerscheinungen in Verbindung gebracht werden und an denen die Gläubigen die Fürsprache und Hilfe Mariens erbitten. Die theologisch wichtige Unterscheidung zwischen Verehrung, die Heiligen (→ Heilige) zukommt, und Anbetung (latria), die allein Gott zukommt, verwischt hier in der Praxis der Volksfrömmigkeit nicht selten. Die reformatorischen Kirchen drängten deshalb in Abgrenzung von der römisch-katholischen Kirche die Marienverehrung stark zurück, dennoch hat sie aufgrund des biblischen Zeugnisses auch im evangelischen Bereich einen besonderen Platz in der Heilsgeschichte und in der Gemeinschaft der Heiligen. Die gemeinsame Orientierung an der Rechtfertigungslehre (allein aus Gnade und allein aus dem Glauben werden wir gerecht vor Gott) macht Maria heute zu einem wichtigen Feld ökumenischer Theologie und Praxis (→ Ökumenische Bewegung).

Maria wurde nicht selten zur symbolisch be- oder gar überfrachteten Projektions- und Identifikationsfigur individueller und kirchlicher Frömmigkeit, die sehr emotional geprägt war und ist. Während die Feministische Theologie die klassische kirchliche Mariologie zunächst entweder ignorierte oder die darin implizierten traditionellen patriarchalen Rollenbilder kritisierte und ablehnte, werden heute mit Rückgriff auf die biblischen Zeugnisse auch ambivalente und emanzipatorische Aspekte des Marienbildes betont: Maria wird als neue Frau und Schwester im Glauben gesehen, die sich trotz aller Fragen und Zweifel auf den Weg des Glaubens, des Vertrauens, der Liebe eingelassen hat, sich heilsempfänglich von Gott in Dienst nehmen ließ und prophetische Kritik an ungerechten gesellschaftlichen Strukturen übte (vgl. Magnificat).

2. Maria (Maryam) im Islam

Das Zweite Vatikanische Konzil formuliert in der Erklärung Nostra aetate (Art. 3), dass die Muslime „die jungfräuliche Mutter Maria ehren, die sie bisweilen auch in Frömmigkeit anrufen“. Tatsächlich spielt die Mutter Jesu im Islam eine wichtige Rolle.

2.1. Maria im Koran

Im Koran ist Maria (arab. Maryam) die einzige Frau, die namentlich erwähnt wird. Eine Sure des Korans, Sure 19 (mittelmekkanisch), ist sogar nach ihr benannt und Sure 3 (medinensisch) nach ihrer Sippe ʽImrān. Als eine Delegation der Muslime nach Abessinien dem dortigen christlichen König und seinen Bischöfen einen Abschnitt aus der Sure „Maryam“ vortrugen, sollen diese zu Tränen gerührt gewesen sein und die Prophetenschaft Muhammads anerkannt haben. Maryam kommt sowohl in den frühen mekkanischen (610-622) wie auch in den späteren medinensischen Passagen (622-632) des Korans vor, meist im Zusammenhang mit Jesus, der mehrmals als „Sohn der Maryam“ (so z.B. in Sure 19,35 und 3,25) bezeichnet wird. Der Koran weiß sogar mehr zu berichten über Maria als das Neue Testament, weil er auch apokryphe, das heißt außerbiblische christliche Überlieferungen aufgenommen hat, wo das sogenannte Matronym Sohn der Maria ebenfalls häufig begegnet.

Sure 19,28 bezeichnet Maryam, die Mutter Jesu, als „Schwester Aarons“ und in Sure 3,35f wird Maryam als Tochter ʽImrāns bezeichnet. Da der Vater von Moses, Aaron und deren Schwester Miriam nach biblischer Tradition ähnlich hieß, nämlich Amram, gehen einige christliche Ausleger von einer koranischen Verwechslung der Mutter Jesu mit der Schwester von Mose und Aaron aus. Doch war die Bezeichnung Schwester Aarons als Ehrentitel für Frauen in der Zeit geläufig. Auch eine genealogische Zuordnung ist denkbar.

2.1.1. Die Geburt Mariens

So erzählt der Koran im Unterschied zur Bibel auch etwas über die Geburt und Kindheit Mariens (Sure 3,33-37). Demnach stammt Maryam aus der Sippe ʽImrāns. Den Namen der Mutter Mariens nennt der Koran nicht, aber er berichtet, dass sie das Kind Gott weiht und für sie und ihre Nachkommen den Schutz vor dem Satan, also der Sünde, erbittet. Auch, dass Maryam im Kindesalter Zacharias, dem Vater Johannes des Täufers, anvertraut wurde, im Tempel heranwuchs und dort von Gott wunderbar versorgt wurde, kennt die Bibel nicht.

Der Koran hat diese Überlieferungen aus außerbiblischen christlichen, (wahrscheinlich mündlichen) Quellen mit ähnlichen Aussagen wie etwa dem Protoevangelium des Jakobus (2. Jahrhundert) aufgenommen, die zur Zeit der Entstehung des Korans zumindest in der Volksreligiosität des orientalischen Christentums noch im Umlauf gewesen sein mussten (im Protoevangelium des Jakobus ist es allerdings Josef, der zur Betreuung Mariens durch Los bestimmt wird). Dem Koran kommt es bei dieser Erzählung darauf an, dass alles nach Gottes weisem Plan verläuft. Maryam wird in Sure 21,91 (auch 23,50) wie Jesus als „Zeichen (āyā) für die Weltenbewohner“ bezeichnet: āyā steht im Koran für die göttliche Offenbarung in Wort und Schöpfung. Maryam ist ein Zeichen Gottes, weil sie durch Gottes Schöpfungskraft, durch „Einhauchung“ des göttlichen Geistes (Sure 21,91; auch 66,12), wunderbar empfängt und jungfräulich gebiert.

2.1.2. Ankündigung der Geburt Jesu

Wie die Kindheitsgeschichte nach Lukas enthält der Koran einen Bericht von der Ankündigung der Geburt Jesu, einmal als Vision (Sure 19,16-21), einmal als Audition (Sure 3,42-48). Das wunderbare, allmächtige Handeln Gottes an Maryam steht dabei im Mittelpunkt: Ganz der christlichen Tradition entsprechend wird Maryam in Sure 3,42 von den Engeln als von Gott „vor allen Frauen der Welt“ Auserwählte und Reine bezeichnet. Keuschheit und demütige Ergebenheit in Gott zeichnet sie aus (Sure 66,12) und macht sie würdig und fähig für das, was Gott mit ihr vorhat – damit wird sie zum Vorbild für alle Gläubigen, zur wahren „Muslima“ im Sinne der völligen Gottergebenheit. Die Erzählung von den Losstäben, die entscheiden sollten, wer Maryam ab ihrer Geschlechtsreife betreuen sollte (Josef nämlich), geht wiederum auf apokryphe christliche Überlieferung zurück.

Wie im biblischen Bericht verkündet ein Bote des Herrn – nach islamischer Auslegung ist das auch der Engel Gabriel –, in einer Vision Maryam, dass sie einen Sohn empfangen werde, „dessen Name Christus Jesus, der Sohn Maryams“ (Sure 3,45) sein soll. Maryam fragt erstaunt zurück, wie sie einen Sohn gebären soll, hat sie doch kein sexuelles Verhältnis zu einem Mann gehabt. Die Antwort des Engels verweist auf die uneingeschränkte, unmittelbare Schöpferkraft Gottes: „Gott schafft, was Er will. Wenn Er eine Sache beschlossen hat, sagt Er zu ihr nur: Sei!, und sie ist“ (Sure 3,47). Wie in der biblischen Tradition, so wird auch im Koran wie in der späteren islamischen Tradition und Volksfrömmigkeit Maryam als Jungfrau angesehen, das heißt Jesus ist in diesem Verständnis – wie der erste Mensch – eine unmittelbare Schöpfung Gottes durch das Wort.

2.1.3. Die Geburt Jesu

Sure 19,22-34 schildert dann die Geburt Jesu, die dem Bibelleser allerdings befremdlich vorkommt, sind doch legendenhafte Züge noch einmal ganz eigen gegenüber der Bibel ausgestaltet. Nachdem Maryam schwanger wurde, zog sie sich an einen fernen Ort in der Wüste zurück, weg von den Menschen als Symbol für ihre Reinheit. Unter einer Palme mit reifen Datteln und einer Wasserquelle gebiert sie Jesus. Sie ist verzweifelt angesichts der zu befürchtenden Reaktion ihrer Umwelt, doch Jesus spricht ihr bereits im Mutterleib oder als Neugeborener Mut zu. Als sie nach dessen Geburt zu ihrem Volk zurückkehrt und mit Vorwürfen wegen des unehelichen Kindes konfrontiert wird (Sure 4,156), schweigt sie aufgrund eines Gelübdes. Stattdessen verteidigt der neugeborene Jesus seine Mutter und macht zugleich seine heilsgeschichtliche Rolle kund. Einen ähnlichen Bericht finden wir im apokryphen Pseudo-Matthäusevangelium (Kap. 20,1), das zwar erst aus dem 8./9. Jahrhundert, also der Zeit nach der Entstehung des Korans, stammt, aber sicher älteres Traditionsgut enthält, aus dem offenbar beide Quellen schöpfen: Die Palme mit ihren reifen Datteln und das Wasser am Fuße der Palme sind im orientalischen Kontext Bilder für Fruchtbarkeit und Leben: Gott, so will diese Perikope sagen, schenkt Maryam alles Lebensnotwendige in seiner barmherzigen Fürsorge und er wird jedem gegenüber so handeln, der sich auf ihn verlässt.

2.1.4. Maria als Göttin bei den Christen?

In Sure 5,116 wird den Christen indirekt vorgeworfen, sie würden neben Jesus auch Maria als Göttin verehren. Natürlich trifft dieser Vorwurf nicht das christliche Selbstverständnis, schon gar nicht die offizielle Lehre der Kirche. Die christliche Rede von Maria als „Gottesgebärerin“ oder „Gottesmutter“, aber auch eine übersteigerte Marienverehrung in der Volksfrömmigkeit oder in bestimmten christlichen Gruppierungen, die die Grenze zur Anbetung Mariens tatsächlich überschritten haben, mag den Koran zu dem Urteil geführt haben, die Christen würden neben Jesus auch Maria als Göttin annehmen.

2.2. Maryam in der islamischen Tradition

Die in Sure 33,36 erwähnte Bitte der Mutter Maryams, Gott möge sie vor dem Satan schützen, wird später in einer islamischen Tradition (Sunna), die unmittelbar auf den Propheten Muhammad zurückgeführt wird, aufgegriffen: „Jedes menschliche Kind wird bei seiner Geburt vom Satan berührt und da beginnt es zu schreien. Eine Ausnahme bilden Maria und ihr Sohn Jesus.“ (Zitiert nach Khoury, 2010, 151, Nr. 4611). Obwohl der Islam (→ Islam als Thema christlich verantworteter Bildung) jegliche Vorstellung einer Erbsünde ablehnt, hat er hier offenbar die christliche Glaubensüberzeugung von der unbefleckten Empfängnis Mariens übernommen. Nur Propheten sind nach islamischer Überzeugung von Gott her vor Sünde geschützt. Maryam wird von den islamischen Theologen in der Regel zwar nicht als Prophetin gesehen (außer etwa bei Ibn Hazm), hat aber offenbar doch eine ganz einzigartige Stellung inne und wird als Zeichen Gottes und vor allen Frauen der Welt ‚Auserwählte‘ zumindest in die Nähe der Propheten gerückt.

Auf jeden Fall gilt sie als Heilige (walīya) und zusammen mit Khadīdscha (erste Frau Muhammads und erste Muslima), Fātima (Tochter Muhammads) und Āsiya (Frau des Pharao) – nach anderen Traditionen ʼAischa (jüngste Frau Muhammads) – zählt sie zu den vier besten Frauen der Welt. Laut einer Heiligenbiographie des ʽAttar wird Maria gar vor allen anderen Menschen ins Paradies eintreten. In der islamischen Literatur der sogenannten Prophetenerzählungen werden die koranischen Auskünfte über Maria mit biblischen und apokryphen Überlieferungen weiter ausgeschmückt und angereichert, so etwa die Flucht nach Ägypten (Adil, Propheten, 668-678). Auch die islamischen Korankommentatoren und Historiker greifen auf biblische und apokryphe Traditionen zurück, „islamisieren“ diese jedoch, indem sie der koranischen Darstellung angeglichen werden.

2.3. Maryam in der islamischen Volksfrömmigkeit und Mystik

Maryam spielt auch in der islamischen Mystik, im Sufismus, eine bedeutende Rolle. Dabei hat die islamische Mystik sehr stark die islamische Volksfrömmigkeit in vielen Gegenden maßgeblich geprägt und prägt sie bis heute. Die Antwort Mariens auf die Frage des Zacharias, woher sie im Tempel versorgt werde, das komme „von Gott. Gott versorgt, wen er will, ohne zu rechnen“ (Sure 3,37), steht über vielen Gebetsnischen in den Moscheen der islamischen Welt. In Anspielung auf das Dattelwunder (Sure 19,25) schenkt man gebärenden Frauen in der islamischen Welt oft Datteln. Ist die Bezugnahme auf Maria oft eher unbewusst, so gibt es an manchen Orten der islamischen Welt christliche Marienwallfahrtsorte, die auch von unzähligen Muslimen seit Jahrhunderten mit Andacht und Gebet besucht werden wie etwa in Ephesus in der Türkei. Vor allem muslimische Frauen, die einen Kinderwunsch haben oder denen ein solcher erfüllt wurde, pilgern dorthin.

Die schönsten Zeugnisse mystischer Dichtung über Maryam finden wir bei dem großen persischen Mystiker Dschalāl ad-Dīn Rūmī (gestorben 1273) in seinem Mathnawī: Rūmī sieht in Maryam das Urbild eines Menschen, der seine Seele völlig frei macht von allen irdischen und egoistischen Verlangen und Sehnsüchten, um so Gott allein Raum in sich zu geben, ja ihn zu gebären (Rumi, Mathnawi, 85-87).

3. Fazit: Maria/Maryam als Dialogthema

Maria/Maryam kann für Christen und Muslime ein fruchtbares Dialogthema sein (→ Dialog der Religionen, evangelische Sicht; → Dialog der Religionen, katholische Sicht; → Dialog der Religionen, Entwicklung, Modelle, religionspädagogische Relevanz): In beiden Religionen gilt sie als Auserwählte Gottes, als Sündenfreie, als Gottergebene und damit als das Vorbild einer gläubigen Frau, ja Mutter der Glaubenden. Gemeinsam ist Bibel und Koran außerdem, dass die Bedeutung Mariens für den Glauben christologisch begründet ist. Gleichzeitig gibt es Differenzen zwischen christlichem und islamischem Verständnis Mariens, die mit der unterschiedlichen Sicht Jesu Christi zusammenhängen: Nach christlicher Überzeugung hat Maria nicht nur den Menschen Jesus, sondern auch den Sohn Gottes geboren, weshalb sie nach dem Konzil von Ephesus (431) „Gottesgebärerin“ genannt werden darf – ein Begriff, der für muslimische Ohren geradezu gotteslästerlich klingt (Sure 112) und ohne weitere Erklärung missverständlich ist. Missverständnisse zu überwinden und neben den Gemeinsamkeiten auch die Unterschiede anzuerkennen, ist ein wichtiger Lernprozess und ein wichtiges Lernziel im interreligiösen Dialog. Für das schulisches Lernen kann dies noch ausgebaut werden: Während das Thema mit seinen dialogischen Möglichkeiten in konfessionell-kooperativen Unterrichtsmodellen gern aufgenommen wird, ist es für das interreligiöse Lernen mit Schülerinnen und Schülern noch zu entdecken.

Literaturverzeichnis

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