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(erstellt: Januar 2015)

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1. Begriff

Kritik/kritisch leiten sich ab von griechisch krinein: (unter-)scheiden, trennen, prüfen.

Der Begriff wird seit dem 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart durch diverse Differenzierungen aufgefächert. Unter religionspädagogischen Aspekten ( Religionspädagogik) sind folgende wichtig: philosophische Kritik (Religionskritik), theologische Kritik, Bibelkritik, Kritik des Religionsunterrichts ( Religionsunterricht, evangelisch; Religionsunterricht, katholisch).

Bei allen unterschiedlichen Aspekten und Positionen, die den Begriff im Laufe von Jahrhunderten kennzeichnen, steht Kritik heute dafür, dass

  • Wirklichkeit und Erfahrungswelt in ihrer Autorität und Anerkennung fordernden Erscheinung hinterfragt bzw. beurteilt werden,
  • Aussagen und Argumente auf ihre Sachbezogenheit/Sachlogik hin geprüft werden,
  • das Wesen der Kritik in einer skeptischen Grundhaltung des Fragers zu Welt und Leben wurzelt (mit der Frage: warum),
  • sie nicht per se negativ oder zerstörend angelegt ist (in Kritik schwingt die Sehnsucht nach einer Verbesserung des Gegebenen mit; sie beinhaltet ein prinzipiell aufbauendes, utopisches Element),
  • Kritik, die nur der eigenen Profilierung dient und nicht von der Sache her argumentiert, als kritizistisch bezeichnet wird. Solche Kritik verhindert den klärenden Anspruch. Dieses Verständnis von Kritizismus darf nicht mit der „Kritizismus“-Theorie des Philosophen Immanuel Kant verwechselt werden.

2. Kritik als philosophische Kategorie

2.1. Kritik und Vernunft

Schon in der Antike zielt das Wort Kritik auf (unter-)scheidende Bewertungen in der Literatur. Im Humanismus wird dieses Verständnis aufgenommen und auf Ästhetik und Kunst ausgeweitet (Baum, 1990). Der Philosoph Voltaire erhebt die Kritik zur zehnten Muse, „die allen Unsinn aus der Welt schaffe“ (zitiert nach Geyer, 1988, 694). Als Werkzeug der Kritik dient ihm die Vernunft. Vernunft und Verstand werden dann auch zum Signum eines ganzen Zeitalters, nämlich dem der Aufklärung. Dessen bedeutendster Protagonist ist der Königsberger Philosoph Immanuel Kant. Der Mensch hat für Kant so zu handeln, dass die „Maxime seines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (Kategorischer Imperativ, Kant, 1995a, 310). Gott kann vor diesem Hintergrund zwar als höchstes sittliches Ideal gesehen werden, aber religiöse Rituale der Anbetung oder Unterwerfung lehnt Kant als „bloße Götzendienerei“ ab. Die „Religionslehre“ soll von allem befreit werden, was nicht direkt zum sittlichen Handeln des Menschen anleite (Kant, 1995b).

Dass die Vernunft als Kriterium der Kritik in sich ambivalent ist, benennt Goethe in seinem Faust-Drama. Er lässt Mephistopheles zweierlei sagen. Zum einen, mit Blick auf die Gräuel der Französischen Revolution: „Er (der Mensch, Anm. des Verfassers) nennt's Vernunft und braucht's allein, nur tierischer als jedes Tier zu sein“ (Goethe, 1999, Vers 285, 26). Zum anderen gilt ihm die Vernunft als „allerhöchste Kraft“, denn nur sie sei in der Lage, den Menschen vor den „Blend- und Zauberwerken“ des „Lügengeistes“ zu bewahren (Goethe, 1999, Vers 1851f., 81).

Die über den Vernunftbegriff philosophisch motivierte Gotteskritik weitet sich im 19. und 20. Jahrhundert zu einer radikalen Religionskritik aus.

2.2. Kritik der Religion (Religionskritik)

Unter Religionskritik versteht man in der Regel die Kritik an Religion von einem außerhalb ihrer liegenden Standpunkt aus. So kann sowohl der Sinn von Religion grundsätzlich bestritten werden, samt Existenz Gottes, oder es werden bestimmte magisch-mythische Inhalte hinterfragt (vgl. Baum, 1990; vgl. Körtner, 2014). Wesentliche Impulse bezieht die Religionskritik aus dem Widerspruch religiöser Aussagen zu empirischen Erfahrungen (naturwissenschaftlichen Erkenntnissen), ebenso aber auch von als repressiv angesehenen oder erfahrenen religiösen Institutionen (z.B. von den Kirchen). Im Kern ist die Religionskritik mit der Frage verbunden, warum Gott oder die Götter angesichts ihrer Allmacht dem Unheil, der Zerstörung, dem Bösen in der Welt Raum geben (Theodizee). Solche und ähnliche Fragen finden sich schon in der griechischen Antike (Epikur) genauso wie in der Bibel ( Ijob/Hiob, bibeldidaktisch, Grundschule; Ijob/Hiob, bibeldidaktisch, Sekundarstufe).

Als Kind der Aufklärung und des 19. Jahrhunderts hat sich die Religionskritik, u.a. ausgehend von der Bibelkritik, im Wesentlichen mit Christentum und Kirche auseinander gesetzt (vgl. Deschner, 1986-2013).

Die gedanklichen Linien der Aufklärung, „Vernunft“ (ratio) und „empirische Analyse“, die den Religionskritiken des 19. Jahrhunderts (Ludwig Feuerbach, Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud) zugrunde liegen, verlieren auch im 20. Jahrhundert nicht ihre Bedeutung. Gleichwohl wird im 20. Jahrhundert neben der Vernunft-Kritik an der Religion eine zweite Linie kritischer Einschätzung deutlich, eine Linie, die der Religion eine „eigen-sinnige“ Relevanz zuspricht.

Max Horkheimer, der Begründer der sogenannten „Kritischen Theorie der Frankfurter Schule“, warnt zwar vor „dem Dogma“, sieht aber doch in der Religion eine individuelle wie kollektive „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“ und des in ihr aufgehobenen Versprechens, dass das Unrecht nicht das letzte Wort sein möge (Horkheimer, 1970, 45).

Durch den Philosophen Jürgen Habermas erfährt die schon bei Horkheimer angelegte (neue) Relevanz der Religion eine besondere Akzentuierung (vgl. Habermas, 2012). Die Religionen gehören für ihn, angesichts einer „irrtumsanfälligen“ säkularen Vernunft, zu den sinngebenden Ressourcen der Menschen: Die gegenwärtig großen Herausforderungen einer „weltgesellschaftlichen Neuorientierung“ (z.B. Globalisierung, bioethische Vergewisserung und religiöser Fundamentalismus) verlangen nach einer Religionskritik, die in der Lage ist, Inhalte der Religionen (religiöse Deutungsmuster) in gesellschaftlichen und politischen Diskursen kommunikativ zu nutzen. Diese säkulare Nutzung, z.B. hinsichtlich Gerechtigkeit, Menschenrechten ( Grundrechte/Menschenrechte) und Würde des Einzelnen, führt Habermas aber nicht zur Anerkennung „mythisch-jenseitiger Mächte“ in der Religion.

Gegenüber Habermas konzentriert der Philosoph Herbert Schnädelbach seine Kritik auf das Christentum (vgl. Schnädelbach, 2000). Er listet sieben Geburtsfehler auf (z.B. die Erbsünde). Bei Analyse und Überwindung dieser Fehler bleibt für ihn vom Christentum nicht mehr als seine jüdischen Wurzeln übrig. Zwar stellen sich auch Schnädelbach religiöse Fragen (z.B. nach Endlichkeit, Schuld), diese aber lassen sich nicht mehr mit der Formel „Gott“ bewältigen. Religion hat, wegen ihrer prägenden Kraft auf die Kultur, für Schnädelbach „nur noch“ Bildungsqualität.

Eine Variante der Religionskritik ist die dezidierte Gotteskritik durch die sogenannten Neuen Atheisten, wie sie zum Teil aggressiv in Großbritannien (Dawkins, 2007; kritisch dazu Langthaler/Appel, 2010) in populären Medien (Fernsehen, Plakatierung, Internet) präsentiert wird; in den USA z.B. durch den Neurowissenschaftler Sam Harris (Harris, 2007). Letzterer plädiert, ähnlich wie Schnädelbach, für eine wissenschaftlich begründete Moral, die sich als „vernünftig“ erweist und keiner göttlichen Legitimation mehr bedarf.

3. Theologische Kritik (Kritik aus Glauben)

Neben der von außen auf die Religionen zukommenden Kritik gibt es wichtige kritische Anwürfe innerhalb der Religionen. Sie entspringen theologischen Reflexionen über die Authentizität des Glaubens, oft ausgelöst durch die Kritik am Verhalten religiöser Institutionen (z.B. die mittelalterlichen Armutsbewegungen, Franziskaner, Waldenser oder die Reformation (→ Martin Luther [Reformation]; Katholische Reform/Gegenreformation; II. Vatikanum). Kritik aus der Religion heraus findet sich nicht nur im Christentum, sondern auch in anderen Religionen; in der Regel als Reformbewegung, z.B. bei den Propheten im Judentum. Seit einigen Jahren deuten sich auch für den Islam innere Formen der Kritik an (Khorchide, 2012).

Während theologisch-liberale Kritik von der Zeitgebundenheit biblischer Texte ausgeht und diese interpretierend auf die Gegenwart bezieht, gibt es Strömungen konservativer Kritik, die ein wörtliches Verstehen biblischer Aussagen einfordern. Evangelikale Gruppen werfen z.B. den evangelischen Landeskirchen einen zu liberalen Umgang mit der Bibel vor, besonders hinsichtlich einer vermeintlichen Erschwerung des persönlichen Glaubens durch Relativierung biblischer Aussagen und Geschichten (z.B. Aussagen zur Sexualethik oder zu den Wundergeschichten in der Bibel).

Extrem-konservative theologische Kritiken stellen oftmals die Gesellschaften liberaler Verfassungsstaaten insgesamt in Frage, bis hin zu historischen Relativierungen (Verzerrungen) oder zur Durchführung von terroristischen Aktionen (z.B. Piusbrüder, Salafisten).

Von klassisch religiös-existenziellen Themen wie Geschöpflichkeit, Sehnsucht nach umfassender Gerechtigkeit, Frieden ( Krieg und Frieden), Wahrheit und letztlich Erlösung her, bieten Religionen bis in die Gegenwart hinein vielfältige Kritik am individuellen und gesellschaftlichen Leben. Die Kritiken der Religionen am Ungenügen des Lebens und der Gesellschaft werden oft in wirkmächtigen Bildern vor die Augen gestellt: Exodus im Judentum, Reich-Gottes-Rede Jesu in den Gleichnissen ( Gleichnisse, bibeldidaktisch), fünf Säulen im Islam. Diese Kritiken zielen auf Um- und Neugestaltung des Lebens und wirken mit ihren Grundimpulsen bis in die Gegenwart (z.B. Diakonie [ Caritas – Diakonie], katholische Soziallehre, Befreiungstheologie).

Christlich-theologische Kritik fordert in der Regel eine deutliche Rückkehr zu Geist und Intention der Bibel; in unterschiedlicher Weise z.B. bei Karl Barth, Dietrich Bonhoeffer oder Paul Tillich.

Eine der populärsten theologischen Kritiken nach dem Zweiten Weltkrieg bietet die Germanistin und Theologin Dorothee Sölle mit ihrem „Politischen Nachtgebet“ (einer Konfrontation von politisch-aktuellem Geschehen und biblischem Text, Ende der 1960er Jahre). Ihr Einsatz für Frauen und gegen die Konsumhaltung in der Kirche, ihr Engagement gegen Unterdrückung und Ausbeutung in Ländern Lateinamerikas, wird zu einer der wichtigsten theologie- und kirchenkritischen Stimmen. Eine grundsätzliche Kritik an der Theologie formuliert sie in ihrer These, dass „nach Auschwitz“ (Adorno) nicht mehr von der „Allmacht Gottes“ geredet werden könne. Sie regt deshalb (in Abwandlung Nietzsches) eine „Theologie nach dem Tode Gottes“ an (Sölle, 1968).

Theologische Kritik wendet sich, unter dem Eindruck einer Aktualisierung der biblischen Quellen, oft gegen Erstarrungen innerhalb der eigenen kirchlichen Institutionen. Auf katholischer Seite ist hier der Theologe Hans Küng zu nennen, z.B. mit seiner Kritik am „mittelalterlichen Weltbild“, an der katholischen Sexualethik oder an der Rolle der Frau in der Kirche (Küng, 2011). In jüngster Zeit wird von päpstlicher Seite her fundamentale Kritik an sogenannter westlicher Kultur und Ökonomie geübt. So kritisiert Papst Franziskus in seinem Lehrschreiben „Evangelii Gaudium" die „Vergötterung des Geldes und des Marktes“ samt seiner „Wegwerfmentalität“, die sich auch auf den Menschen selbst beziehe (Evangelii Gaudium, 2013).

4. Bibelkritik

Die Bibelkritik hinterfragt zum einen den Autoritäts- und Wahrheitsanspruch der Bibel. Zum anderen ist sie eine Methode zur Erschließung der Bibel nach wissenschaftlichen und/oder positionellen Kriterien. Von positionellen Kriterien her wird sie z.B. aus gesellschaftlicher oder psychologischer Perspektive analysiert bzw. übersetzt (z.B. feministische Exegese, tiefenpsychologische Exegese, materialistische Exegese, strukturale Exegese, synchron/diachron; Berg, 1991).

Die Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts ist mit der Bibelkritik eng verbunden (Spinoza, Reimarus, Lessing). Der sogenannte „Fragmentenstreit“ (1774) über die historische Wahrheit der biblischen Geschichten (z.B. Durchzug durchs Rote Meer oder Auferstehung Jesu) führt in der öffentlichen Diskussion bis heute zu Grundpositionen, nämlich

  • zur Pointierung von Vernunft und Toleranz in Sachen Religion (Lessing: Nathan der Weise),
  • zur Unterscheidung zwischen historischer Wahrheit und Glaubenswahrheit und
  • (als ein später Ausfluss im 19. Jahrhundert) zur Analyse der Bibel mit wissenschaftlichen Methoden, zur sogenannten historisch-kritischen Methode. Die historisch-kritische Methode versteht sich als kritisch, weil sie sachlich unangemessene Einsprüche kirchlicher Autorität zurückweist und die Ergebnisse außertheologischer Wissenschaften, die für die Erforschung der Bibel Bedeutung haben (z.B. die Geschichts-, Sprach- und Kulturwissenschaften) berücksichtigt. In unterschiedlichen methodischen Zugängen (Textkritik, Literarkritik, Formgeschichte u.a.) geben im 19. und 20. Jahrhundert Forscher (z.B. Hermann Gunkel für das Alte Testament, Wilhelm Bousset, Rudolf Bultmann für das Neue Testament) einen wissenschaftlich fundierten Einblick in Entstehung, Sinn und Bedeutung biblischer Texte. Die Bibelkritik des 19. Jahrhunderts wird im Wesentlichen von protestantischen Theologen und Exegeten vorangetrieben (z.B. David Friedrich Strauß), wenn auch unter argwöhnischer Beobachtung durch die evangelischen Kirchen bis ins 20. Jahrhundert hinein (z.B. bei Bultmanns „Entmythologisierungsprogramm“). Auf katholischer Seite setzt als Reaktion auf die Aufklärung (bis auf wenige Stimmen, z.B. J. M. Sailer) eine Abwendung von der Bibelkritik ein. Erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts kann sie nach dem II. Vatikanum (dogmatische Konstitution Dei Verbum; Rahner/Vorgrimler, 2006, Nr. 12) überwunden werden. Das Grundproblem der wissenschaftlichen Bibelkritik liegt für viele Menschen darin, ob nicht durch solche Analysen (die in den letzten Jahrzehnten zu immer diffizileren Fragestellungen und Methoden geführt haben), die existenzielle Ansprache und Intention der Bibel verloren geht; einfach gesagt: Tötet die wissenschaftliche Analyse den Glauben? Seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts wird immer häufiger versucht, diesen Konflikt durch eine an der Erfahrung von Menschen orientierte, symbolisch-interaktionelle Betrachtung und Interpretation biblischer Texte zu mildern. Zwar steht auch hier die historisch-kritische-Methode im Hintergrund, ohne dabei aber die existenzielle Tiefe und personale Ansprache der Texte auszublenden (z.B. → Bibliodrama, religionspädagogisch: → Symboldidaktik, → performativer Religionsunterricht; Lachmann u.a., 2001; Theißen, 2003). Gegenbewegungen zur historisch-kritischen Arbeit an der Bibel gibt es seit der Aufklärung. Es können hier der Pietismus, aber auch spezifische Gruppierungen genannt werden, die sich dezidiert für die buchstäblich verstandene Autorität der Bibel aussprechen; im evangelischen Kontext etwa evangelikale Gruppierungen. In neuester Zeit melden sich Naturwissenschaftler mit vergleichbaren Kritiken zu Wort, z.B. unter den Stichworten „Kreationismus“ oder „Intelligent Design“. Sowohl in der universitären Ausbildung für schulische und kirchliche Theologen (Religionspädagogen, Pfarrer) als auch in der Unterrichtspraxis ist die historisch-kritische Methode Standardmethode (Finsterbusch/Tilly, 2010). Gleichwohl dient nach katholisch-kirchlichem Verständnis die exegetische Arbeit an der Bibel der „Reifung“ des Urteils der Kirche, dem „auch die Art der Schrifterklärung“ untersteht (Katechismus der Katholischen Kirche, 1993, Artikel 119). Die Relativierung der Kirche im Protestantismus (z.B. durch das Prinzip des „Priestertums aller Gläubigen“) führt auf evangelischer Seite zu einem Vertrauen in die „geistgewirkte“ rechte Interpretation der Bibel („testimonium spiritus sancti internum"), also durch das innere Zeugnis des Heiligen Geistes, ohne einem kirchlichen Lehramt unterworfen zu sein.

5. Kritik am Religionsunterricht

Evangelischer, katholischer, jüdischer und islamischer Religionsunterricht verstehen sich in Deutschland als von den Religionsgemeinschaften und vom Staat gemeinsam zu verantwortender, bekenntnisorientierter schulischer Unterricht („res mixta" – Art. 7,3 Grundgesetz). Die Letztverantwortung der Religionsgemeinschaften für dieses Unterrichtsfach ( Curricula, vocatio, missio canonica u.a.) wird zum Teil hart kritisiert.

Kritik am Religionsunterricht kann bildungstheoretisch(-politisch), (religions-)pädagogisch/schulisch oder theologisch/philosophisch motiviert und begründet sein:

  • Überwindung der bekenntnisorientierten Unterrichtsfächer (für den Unterricht in der öffentlichen Schule insistiert sie dann auf ein Verstehen der Vielfalt religiöser Phänomene in einem allgemeinen Religionsunterricht, so wie sie sich in Lebensgeschichte, Gesellschaft und Kultur präsentieren)
  • ökumenischer Religionsunterricht (evangelisch – katholisch, im Sinne eines teilweise oder ganz gemeinsam verantworteten Religionsunterrichts; Konfessionelle Kooperation)
  • konzeptionelle oder didaktische Neuorientierung zur Verbesserung der Unterrichtsqualität

5.1. Kritische Einwände und Alternativen zum bekenntnisorientierten Religionsunterricht

Vorläufer einer Kritik des Religionsunterrichts finden sich seit dem 18. Jahrhundert, z.B. in dem Aufklärungstheologen (Neologen) Christian Gotthilf Salzmann, dem Pädagogen Adolph Wilhelm Diesterweg oder mit der Bremer Lehrerschaft, die 1905 in einer Denkschrift zur Überwindung konfessioneller Streitigkeiten die Abschaffung des Religionsunterrichts fordert.

Pädagogische und theologische Kritik an einem kirchlich gebundenen Religionsunterricht wird vor und nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich formuliert, so etwa von dem Theologen Paul Tillich (Tillich, 1975) von dem Pädagogen Erich Weniger (Weniger, 1952) und von dem Theologen Rudolf Bultmann (Bultmann, 1985). Aus unterschiedlichen Perspektiven fordern sie eine existenziell-religiöse Bildung als Beitrag zum Verstehen abendländischer Religionen in der öffentlichen Schule. Diese Kritik bleibt in den Nachkriegsjahren aber relativ ungehört und unerörtert.

Schul- und bildungstheoretische Kritik kommt in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts aus den Reihen der Religionspädagogen selbst. So stellt z.B. der evangelische Religionspädagoge Gert Otto die kirchlichen Lehrerlaubnisse in Frage. Der konfessionelle Religionsunterricht ist ihm ein „Relikt einer historischen Epoche“ (Otto, 1969). Siegfried Vierzig plädiert später für einen ideologiekritischen Religionsunterricht (keine Verkündigung von Wahrheiten, sondern Religionsunterricht als religions- und gesellschaftskritischer Unterricht; Vierzig, 1975). Auf katholischer Seite spricht sich Hubertus Halbfas für eine Entklerikalisierung des Religionsunterrichts und für eine religions- und kulturhermeneutische Erweiterung des Faches aus (Halbfas, 1968). Seine Vorstellungen führen zum Entzug der kirchlichen Lehrerlaubnis.

In den 90er Jahren spielt die bis zum Bundesverfassungsgericht führende Auseinandersetzung um ein verpflichtendes Religions- bzw. Ethikfach in Brandenburg eine besondere Rolle. In dieser Debatte wird die Monopolstellung der Kirchen für religiös-ethische Unterrichtsinhalte (angesichts einer religiös kaum sozialisierten Bevölkerung) in Frage gestellt. Der Unterricht in Brandenburg/Berlin mit der Bezeichnung „Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde“ (LER; Edelstein/Grözinger/Grühn/Hillerich/Kirsch/Leschinsky/Lott/Oser, 2001) und der religionswissenschaftlich orientierte Religionsunterricht in Bremen (BGU) stellen aufgrund einer verfassungsrechtlichen Sonderregelung (Art. 141 Grundgesetz) die einzigen bisherigen Alternativen zum herkömmlichen Religionsunterricht dar. Das sogenannte Hamburger Modell, das als dialogisches Unterrichtsfach Schüler diverser Religionen anspricht und damit bildungs-, gesellschafts- und religionspolitische Kritiken gegen einen bekenntnisorientierten Unterricht aufnimmt, hat letztlich einen evangelischen Bezugspunkt (Weiße, 2014).

In Deutschland kann sich die Forderung nach einem nicht-konfessionellen allgemeinen Religionsunterricht (Kunz, 2005; vgl. neuere Entwürfe in der Schweiz, Schmid, 2011) nicht durchsetzen. Nicht zuletzt wollen kirchliche Positionen, trotz höchst unterschiedlicher religiöser Sozialisationsverläufe von Kindern und Jugendlichen, die verfassungsmäßige Verankerung des Religionsunterrichts in seiner bisherigen Form nicht aufgeben. Auch die Ablehnung einer sogenannten „Religionskunde“ gehört in diesen Zusammenhang (Heumann, 2011; 2012).

5.2. Ökumenischer Religionsunterricht

Aus der Schul- und Unterrichtspraxis wird seit langem ein (evangelisch-katholischer) ökumenischer Religionsunterricht gefordert. Die Argumente sind sowohl theologischer (konziliarer Prozess, gemeinsame Bewahrung von Schöpfung, Frieden, Gerechtigkeit) als auch unterrichtspraktisch-pädagogischer Art (vereinfachte Unterrichtsorganisation, gemeinsames Lernen, dialogische Unterrichtskultur; Bröking-Bortfeldt, 1994). Während in der Unterrichtspraxis viele Schulen ökumenisch arbeiten (es gibt länderspezifische Regelungen für bestimmte Jahrgänge, z.B. in Niedersachsen), lässt sich ein durchgängiger ökumenischer Religionsunterricht aufgrund der unterschiedlichen Kirchenverständnisse bisher nicht realisieren (Link-Wieczorek, 2014).

5.3. Kritik als didaktisch-konzeptionelle Reform

Die konzeptionellen Debatten und Vorschläge für den evangelischen und den katholischen Religionsunterricht können seit der Nachkriegszeit als Ausweis einer kritischen Kultur in beiden Fächern angesehen werden. Gesellschaftliche und bildungspolitische Entwicklungen und Ansprüche erzwingen für die Didaktik und Methodik des Religionsunterrichts immer neue Positionierungen und Justierungen (Problemorientierung, Symboldidaktik, performativer Religionsunterricht, konstruktivistischer Religionsunterricht, alteritätstheoretische Religionsdidaktik; Überblicke finden sich in diversen „Einführungen in die Religionspädagogik“). Oft enthalten diese Justierungen deutliche ideologiekritische Impulse ( Methoden der Ideologiekritik), auch zur Reflexion über die eigene Herkunftsreligion, ohne allerdings die Bekenntnisbindung des Religionsunterrichts zu problematisieren bzw. in Frage zu stellen.

Gleichwohl bieten die konzeptionellen Justierungen unerlässliche Kriterien für die kritische Planung, Durchführung und Reflexion für die Didaktik und Methodik des Religionsunterrichts. Ob die Konzepte mit ihrer impliziten Kritik aber auch über ausreichendes Innovationspotenzial gegenüber den bildungspolitisch verordneten Standardisierungs- und Kompetenzansprüchen ( Kompetenzorientierter Religionsunterricht) verfügen, ist bis heute nicht entschieden.

5.4. Zusammenfassung

Zusammenfassend lassen sich Kritikpunkte am bekenntnisorientierten Religionsunterricht, neben den immer wieder genannten schulischen Organisationsproblemen (getrennte Religionsfächer), wie folgt auflisten:

  • fehlende wissenschaftliche Nachweise dafür, dass religiöse Entwicklung und Sozialisation nur durch Einsozialisierung in die eigene Religion gelingen kann und deshalb eigene Unterrichtsfächer (evangelisch, katholisch, islamisch, jüdisch) in der öffentlichen Schule benötigt werden
  • Ignoranz gegenüber nicht religiös geprägten Menschen (z.B. Neue Bundesländer), die mangelnde religiöse Erfahrungen und „Beheimatungen“ nicht als Defiziterfahrungen akzeptieren
  • fehlende Priorisierung von Religion und Religionen als prinzipiell ambivalenten Phänomenen; Religion, Religionen können Menschsein und Leben unterstützen und fördern, aber auch beschädigen und vernichten
  • die Dominanz der Theologie als zentrale Bezugwissenschaft vernachlässigt eine schulpädagogische Einordnung des Phänomens Religion von anderen relevanten Disziplinen her (erziehungswissenschaftlich [ Pädagogik], religionsphilosophisch, religionspsychologisch [ Religionspsychologie], religionssoziologisch [ Religionssoziologie])
  • Verweigerung einer religiösen Grundbildung für alle Schüler aller Schularten

Literaturverzeichnis

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