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Kolonialgeschichte, kirchengeschichtsdidaktisch

(erstellt: März 2023)

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1. Lebensweltliche Verortung

Mitten in Bremen, ganz in der Nähe des Hauptbahnhofs, steht ein riesiger gemauerter Elefant – ein Denkmal, das Fragen aufwirft. 2013 arbeitete Jan Böhmermann in einem 15-minütigen Video auf satirische Weise die Bedeutung eines angeblich mit Blutdiamanten gefüllten Elefanten für die finanzielle Absicherung seiner Heimatstadt Bremen heraus. Hinter der unterhaltsam-absurden Fiktion steckt jedoch die Einsicht, dass koloniale Erinnerung und Ausbeutung sich bis heute auf das Leben in Deutschland auswirken – und die kritische Auseinandersetzung damit unverzichtbar ist (Klooß, 2019).

Das Beispiel verdeutlicht, dass die deutsche Kolonialgeschichte zunehmend gesellschaftlich präsenter wird und nicht nur im wissenschaftlichen Diskurs, sondern auch im Alltag immer noch und immer wieder begegnet.

An Auseinandersetzungen um Anti-Kolonialdenkmäler, wie den von Böhmermann aufgerufenen Elefanten in Bremen, lässt sich die Diskussion um reflektierte Erinnerungskultur ganz konkret entdecken

In diesem Zusammenhang stehen auch die Umbenennung von Straßen und öffentlichen Plätzen, die Persönlichkeiten der Kolonialzeit gewidmet waren oder sind, wie beispielsweise die Lüderitzstraße im Afrikanischen Viertel in Berlin-Wedding, die in Cornelius-Fredericks-Straße umbenannt werden soll (Land Berlin, Bezirksamt Mitte). Fredericks war ein Widerstandskämpfer gegen die deutsche Kolonialmacht im heutigen Namibia. Der Völkermord an den Herero und Nama zwischen 1904 und 1908, gegen den er aufbegehrte, wurde auf politischer Ebene erst 2021 von der deutschen Bundesregierung offiziell als solcher anerkannt; trotz eines finanziellen Hilfsprogramms bleibt die Frage nach Entschädigung bis heute ungeklärt (Bundeszentrale für politische Bildung, 2021).

Auch in ökonomischer Perspektive besteht Handlungsbedarf, sind betroffene deutsche Firmen gegenwärtig zur Aufarbeitung ihrer Vergangenheit herausgefordert, um wirtschaftliche Verflechtungen und anhaltende Profite aus kolonialen Unternehmungen offenzulegen (Samnick, 2021).

Ferner wird die Thematik auch literarisch rezipiert: Der Literaturnobelpreisträger von 2021 Abdulrazak Gurnah, ein gebürtiger Tansanier, arbeitet in seinen Werken die englische und zuletzt auch die deutsche Kolonialvergangenheit in seinem Heimatland auf (Gurnah, 2020).

So ausschnitthaft die Begegnungsfelder gewählt sind, so weisen sie doch auf vielfältige Beschäftigung mit der deutschen Kolonialvergangenheit hin. Die Gründe für dieses verstärkte Interesse sind vielfältig.

Im Zuge der Dekolonialisierungsprozesse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte die wissenschaftliche Aufarbeitung etwa durch den Postcolonial Turn und dessen poststrukturalistische Ansätze ein, die den kritischen Blick auf das koloniale Handeln der Vergangenheit und der Gegenwart schärfen. Seit Beginn des 21. Jahrhundert rücken hierbei auch die rassismuskritischen Perspektiven im Zusammenhang mit den Critical Whiteness Studies für den deutschen Kontext in den Blick (Wollrad, 2005), zuletzt auch im pragmatischen Ratgeberformat (Ogette, 2021).

Zudem fordern Globalisierung, Diversifizierung und Digitalisierung im Sinne eines Aneinanderrückens der Erdteile zu einer Steigerung der Verwobenheit der Welt und eines intensivierten Austauschs ihrer Geschichte(n) und Prägungen (vgl. Reiter 2022).

Dabei wird auch die Rolle der Kirchen und ihrer Missionsbemühungen im Zuge des kolonialen Handelns mit zunehmendem wissenschaftlichem Interesse reflektiert (Habermas/Hölzl, 2013). Tillman Prüfer hat hierzu ein familienbiografisches Sachbuch für ein breiteres Publikum vorgelegt, in dem er selbst auf den Spuren seines Urgroßvaters Bruno Gutmann wandelt, einem der bekanntesten protestantischen Missionare im damaligen Deutsch-Ostafrika um 1900 (Prüfer, 2015). Zuletzt hat Katharina Döbler in ihrem Roman „Dein ist das Reich“ der Verstrickung von Kolonialismus und Mission in Papua-Neuguinea literarisch nachgespürt (Döbler, 2021).

Letztlich erfährt Kolonialgeschichte auch in der Schule gegenwärtig mehr Raum und Interesse etwa im Geschichts- oder Englischunterricht des Landes Niedersachsen, vor allem in der Sekundarstufe II (Nds. Kultusministerium, Oberstufe Geschichte, 2017; Nds. Kultusministerium, Oberstufe Englisch, 2017) – bisher jedoch kaum im Religionsunterricht. Wie kann und soll Kolonialgeschichte dort eine Rolle spielen? Welche Grundlagen sind sowohl historisch als auch didaktisch dafür zu berücksichtigen? Diesen Fragen geht dieser Artikel nach.

2. Kirchengeschichtliche Klärungen

Wie die kaleidoskopische Detailfülle nahelegt, kann dieser Lexikonartikel keinen vollständigen Überblick über Kolonialgeschichte bieten, zumal diese zusätzlich untrennbar mit Missionsgeschichte verwoben ist. Ganz konkret rückt das Thema aus deutscher Perspektive in den Blick. Zuvor sind allerdings einige Grundlagen festzuhalten.

2.1. Kolonial- und Missionsgeschichte

„‘Kolonisation‘ bezeichnet einen Prozess der Landnahme und Aneignung, ‚Kolonie‘ eine besondere Art von politisch-gesellschaftlichem Personenverband, ‚Kolonialismus‘ ein Herrschaftsverhältnis. Das Fundament aller drei Begriffe ist die Vorstellung von der Expansion einer Gesellschaft über ihren angestammten Lebensraum hinaus“ (Osterhammel/Jansen, 2017, 8).

„[Kolonialismus] ist eine Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonialisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen und tatsächlich durchgesetzt werden. Damit verbinden sich in der Neuzeit in der Regel sendungsideologische Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen“ (Osterhammel/Jansen, 2017, 20).

In der Neuzeit ab etwa 1500 geht ein derart bestimmter Kolonialismus verstärkt von Europa aus und wirkt sich durch die Kolonisation in ganz Amerika, ganz Afrika, in großen Teilen Ozeaniens und einigen Gebieten Asiens durch die Entstehung diverser Kolonien aus (Osterhammel/Jansen, 2017, 8). Diese koloniale Expansion erfährt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine besondere Intensität, vor allem in der arbiträren Aufteilung des afrikanischen Kontinents unter den europäischen Großmächten. Im sogenannten Kolonialzeitalter richtet daher auch das Deutsche Reich im heutigen Kamerun, in Togo, Namibia und Tansania, in Teilen Chinas sowie auf einigen Inseln in Ozeanien eigene Kolonien ein. Bei diesen kolonialen Bestrebungen spielen diverse komplexe Faktoren eine Rolle, unter anderem politische, wirtschaftliche und kulturelle (Gründer, 2018; Conrad, 2019; Osterhammel/Jansen, 2017, 38-41).

Während die Deutschen in der Folge des Ersten Weltkriegs ihre Kolonien offiziell abtreten, bleibt formale koloniale Herrschaft bis ins späte 20. Jahrhundert bestehen. Das Aufdecken kolonialer Strukturen ist darüber hinaus auch nach der Dekolonisation weiterhin ein anhaltender Prozess (Jansen/Osterhammel, 2013).

Eng verbunden mit dem deutschen Kolonialismus waren die christlichen Missionsbemühungen (→ Mission, christliche; Koschorke, 2022, 175-220). Natürlich gilt es zum Beispiel hinsichtlich der Botschaften, der Motivation, Absichten und Mittel der beiden Formen menschlicher Begegnung kritisch zu differenzieren; Kolonialismus und Mission sind nicht per se voneinander anhängig. Zudem ist der aktuelle Missionsbegriff vielfach interkulturell und interreligiös reflektiert und begreift Mission als ein im Austausch positiv zugewandtes Bei- und Miteinander. Doch im späten 19. Jahrhundert wurde Mission oftmals als Teil des kulturellen Beitrags angesehen, den das koloniale Handeln zu leisten vorgab. So überrascht es nicht, dass im Zusammenhang mit der damaligen politischen und wirtschaftlichen Kolonialisierung Orden oder Missionsgesellschaften römisch-katholischer und protestantischer Konfessionen auf der ganzen Welt und vor allem auf dem afrikanischen Kontinent tätig waren (Sievernich, 2018, 5f.). Das Kolonialzeitalter war auch ein Missionszeitalter.

Wie sich dies konkret darstellte, lässt sich beispielhaft anhand des damaligen Deutsch-Ostafrika aufzeigen, dem heutigen Tansania. Denn auch aus religiöser Sicht ist der Fokus auf Tansania lohnend, ist das Land durch muslimischen, christlichen und indigenen Glauben vielfältig geprägt und beheimatet zum Beispiel mit der Evangelical Lutheran Church of Tanzania (ELCT), die knapp acht Millionen Mitglieder hat, eine der größten lutherischen Kirchen weltweit (Lutherischer Weltbund, 2022).

2.2. Deutsche Kolonial- und Missionsgeschichte in Deutsch-Ostafrika/Tansania

Zunächst der Einrichtung deutscher Kolonien unwillig gegenüberstehend, ließ sich Reichskanzler Otto von Bismarck letztlich u.a. durch konkrete Unternehmungen des kolonialbegeisterten Carl Peters und seiner „Gesellschaft für Deutsche Kolonisation“ auf dem afrikanischem Kontinent umstimmen, sodass 1885 der Schutzbrief für das Gebiet in Ostafrika ausgestellt wurde. Nach territorialen Ausweitungen wurde das Areal des heutigen Tansanias – ohne Sansibar – sowie Burundi, Ruandas und Teilen Mosambiks am 1. Januar 1891 endgültig politisch zur Kolonie des Deutschen Reiches. Dies blieb unter dem Namen Deutsch-Ostafrika kriegerisch verteidigt bis zum 25. November 1918, kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs (Iliffe, 1979, 88-98;240-255;269). Wenngleich Deutsch-Ostafrika als Aushängeschild deutscher Kolonialbemühungen ausgegeben wurde (Grill, 2019, 29-50), blieben die tatsächlichen Erfolge überschaubar. Kriegerische Auseinandersetzung mit der Bevölkerung zeugten von Wut und Widerstand; am prominentesten der blutige Maji-Maji-Aufstand von 1905-1907. Der Aufbau politischer Verwaltung verlief schleppend und deckte nur Teile des riesigen Gebiets ab. Die europäische Einwanderung in die Kolonie, der Ausbau der Infrastruktur wie der Eisenbahn und nicht zuletzt die wirtschaftliche Situation erlebten um die Jahrhundertwende zwar einen Aufschwung vor Ort, von dem allerdings hauptsächlich einzelne deutsche Handelsunternehmen profitierten. Die Lebensrealität der afrikanischen Bevölkerung verbesserte dies kaum; sie war vielmehr häufig traumatischen Erfahrungen wie Entwurzelung, Zwangsarbeit oder Hunger ausgesetzt (Gründer, 2018, 281-284; Iliffe, 1979, 98-202).

Ab 1922 wurde das Tanganyika Territory als Völkerbundmandat von Großbritannien verwaltet, bevor es sich 1961 unabhängig erklärte und 1964 mit Sansibar gemeinsam als Vereinigte Republik Tansania unter Julius Nyerere ein eigenständiger Staat wurde (Schicho, 2004, 314-326).

Ab den späten 1840er Jahre kamen erste christliche Missionare wie Johann Ludwig Krapf von der anglikanischen Church Missionary Society (CMS) nach Ostafrika und trafen dort auf die, durch jahrhundertelang bestehenden arabischen Einflüsse, muslimisch geprägte Swahiliküste sowie auf eine Vielfalt an afrikanischen Religionen. Römisch-katholische Orden wie die Heilig-Geist-Väter oder die britische Universities‘ Mission to Central Africa (UMCA) errichteten bereits vor der deutschen Präsenz Missionsstationen (Apelt, 2018, 66). Bis um 1890 warteten die meisten deutschen Missionsgesellschaften die Festigung der politischen Lage ab, bevor in den Folgejahren zahlreiche protestantische Missionswerke (zum Beispiel die Berliner Mission, Herrnhuter Brüdergemeinde, Leipziger Mission oder die Evangelische Missionsgesellschaft für Deutsch-Ostafrika, später als Bethel-Mission aktiv) und die Benediktiner von St. Ottilien auf römisch-katholischer Seite in Deutsch-Ostafrika ihren Dienst aufnahmen. Wirksamstes Mittel der Missionsarbeit wurde schnell der Auf- und Ausbau eines Schulsystems, denn zur Gründung jeder Missionsstation gehörte fast unweigerlich auch die Einrichtung einer Schule, die neben der Literarisierung und religiösen Bildung auch der eurozentrischen Zivilisierungsideologie Genüge tun sollte (Menzel, 1986, 9f.;82; Sundkler/Steed, 2000, 517-552). Tatsächlich wurde das Schulsystem Deutsch-Ostafrikas großenteils durch Missionsschulen getragen; die wenigen staatlichen Schulen bildeten Personal für die Verwaltung der Kolonie aus (Buchert, 1994, 15f.).

Mit ihrer Arbeit trugen die Missionen einerseits zum gesellschaftlichen Umbruch bei, etwa indem sie durch Gemeinden und Schulen in Konkurrenz zu bestehenden Ordnung traten und Menschen aus ihren Strukturen herausrissen. Zugleich schafften sie Orientierung und Chancen in der kolonialen Welt, weshalb gerade Schulen durchaus Anklang fanden. So wirkten Missionen mit an der Entstehung der Kirchen vor Ort, aber auch am Aufbau der kolonialen Gesellschaft (Gründer, 2018, 183; Eggert, 1970, 273-275).

Mit dem Ende der deutschen Kolonialzeit in Deutsch-Ostafrika endeten vorerst auch die deutschen Missionsbemühungen vor Ort. Die Missionare wurden ausgewiesen; einige Missionen kehrten ab 1925 zurück. Bestehende Gemeinden übernahmen selbst Verantwortung, erste afrikanische Pastoren wurden ordiniert und Missionswerke aus den USA und Schweden führten die Arbeit fort (Shauri, 1976, 119f.). Die Gemeinden wuchsen weiter, vereinigten sich und gründeten 1963 die Evangelical Lutheran Church of Tanzania (ELCT), während in der römisch-katholischen Kirche mit Laurian Rugambwa bereits seit 1952 ein erster tansanischer Bischof tätig war (Apelt, 2018, 69). Die Kirche hatte auch im Prozess der Unabhängigkeit und im anschließenden tansanischen Sozialismus der 1970er Jahre eine tragende Rolle inne und arbeitete eng mit dem Staat zusammen (Ludwig, 1995). Aktuell sehen sich die Mainline-Kirchen insbesondere durch die religiöse und konfessionelle Vielfalt herausgefordert, zum Beispiel durch das Wachstum des charismatischen Christentums vor Ort (Sendoro, 2018).

Der historische Überblick zeigt die Bedeutung der Kolonial- und Missionsgeschichte auch für religiöse Bildung in Deutschland. Aus dem historischen Zusammenspiel von Kolonialismus und Mission sind Kirchen entstanden und eigenständig geworden. Beziehungen auf gemeindlicher, schulischer oder universitärer Ebene sowie organisatorischer Art im Lutherischen Weltbund oder Ökumenischen Rat der Kirchen bestehen auch gegenwärtig. Zudem lassen sich auch auf theologischer Theorieebene konzeptionelle Eigenständigkeiten bei gleichzeitigen Schnittmengen feststellen, etwa in der Religionspädagogik (Steinbeck, 2019). Diese Spannungsfelder der Nähe und Distanz, Gemeinsamkeit und Verschiedenheit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterstreichen die bereits eingangs festgestellte Relevanz und das Potential der Auseinandersetzung mit der Thematik.

3. Religionsdidaktisch-praktische Überlegungen

Aber wie ist mit der Kolonial- und Missionsgeschichte religionsdidaktisch bzw. kirchengeschichtsdidaktisch umzugehen? Wo bestehen curriculare Anknüpfungspunkte? Und wie lässt sich die Thematik in Lehr- und Lernprozessen für das Unterrichtsgeschehen konkretisieren?

3.1. Kirchengeschichtsdidaktische Grundlagen

In den vergangenen 100 Jahren hat sich der Fokus kirchengeschichtsdidaktischer Bemühungen (→ Kirchengeschichtsdidaktik) im Religionsunterricht verschoben, jedoch können die drei hervorgebrachten Kernanliegen im aktuellen kompetenzorientierten Unterricht nebeneinander bestehen und eine grundlegende Orientierung bieten. Dabei gilt es erstens überblicksartig oder ausschnitthaft 2000 Jahre Kirchengeschichte mit zentralen Ereignissen und Persönlichkeiten als kulturprägend und wandlungsfähig wahrzunehmen. Zudem sind zweitens und drittens exemplarische Tiefenbohrungen für die gegenwärtige Orientierung fruchtbar zu machen: Einerseits kann die Auseinandersetzung mit prägenden Persönlichkeiten samt ihrer jeweiligen christlichen Lebensführung stattfinden, andererseits sind Antworten auf aktuelle und existenzielle Fragen und Probleme anhand der Geschichte überprüfbar. Auf diese Weise können kirchengeschichtliche Aspekte zur Erschließung gesellschaftlicher Traditionen, der eigenen Identität bzw. Biografie und aktuellen Herausforderungen befähigen (Dam, 2016, 121-127; umfassend zum Thema: Dam, 2022).

Zu diesen drei didaktischen Konzepten lässt sich mit dem anamnetischen Lernen oder Erinnerungslernen noch ein weiteres hinzufügen, das sich insbesondere in gelebter und praktisch gestalteter Erinnerung in Form von Gedenktagen oder ähnlichem zeigen kann (→ Erinnerung/Erinnerungslernen; Schröder, 2021, 448f.).

Methodische Zugänge zur sperrigen Thematik der Kolonialgeschichte lassen sich über diverse Materialien und Medien, aber auch über den Klassenraum hinaus finden. Zu nennen sind hier etwa unterschiedliche Formen der Quellenarbeit (→ Quellenarbeit, kirchengeschichtsdidaktisch), Arbeit mit Biografien (→ biografisches Lernen), Oral History und Befragung von Zeitzeugen (→ Zeitzeugenbefragung), lokale Lernorte (→ Orte, historische) wie Denkmäler, Friedhöfe, Museen, Archive und Kirchen verbunden mit der Auseinandersetzung mit „local heroes“ und Regionalgeschichte (→ Regionalgeschichte, kirchengeschichtsdidaktisch). Hinzu kommen Wege durch Kunst (→ Kunst, kirchengeschichtsdidaktisch), Literatur (→ Kirchengeschichte, Literatur als didaktischer Zugang), Musik (→ Musik, kirchengeschichtsdidaktisch) oder Film (→ Film, kirchengeschichtsdidaktisch).

Aufgrund der lebensweltlichen Relevanz (vgl. Konz 2022), scheint vor allem die Auseinandersetzung mit der lokalen Perspektive auf die Thematik und die Einbindung der sich vor Ort befindlichen Quellen und Einrichtungen ertragreich. Bestehende Städtepartnerschaften, Kirchengemeindeaustausche sowie Vereinsbeziehungen können Anknüpfungspunkte über den schulischen Rahmen hinaus bieten.

Als Ziel aller kirchengeschichtlicher Arbeit im Religionsunterricht und an anderen Lernorten ist somit, dass verstehbar wird: „(Christliche) Religion hat Tradition, prägt Geschichte, erinnert und gewinnt daraus Impulse, nicht Fesseln für die Gegenwart des Christentums und junger Menschen“ (Schröder, 2021, 451).

3.2. Curriculare Grundlagen und Einbindungsmöglichkeiten

Bei allem Potential, das kirchen- und damit auch kolonialgeschichtlichem Arbeiten im Religionsunterricht zukommt, ist jedoch anzuerkennen, dass diese Bereiche bisher eine Randnotiz im Religionsunterricht darstellen. Dies liegt auch daran, dass sie entwicklungspsychologisch voraussetzungsreich und inhaltlich anspruchsvoll sind. Dennoch stellt sich die Beschäftigung damit aus im vorigen Kapitel angeführten Gründen als notwendig dar, zumal das Thema Schnittmengen mit anderen Schulfächern aufweist und somit zur interdisziplinären Zusammenarbeit des Fachs evangelische Religion mit Geschichte, Politik, Deutsch oder den Fremdsprachen beitragen kann (Schröder, 2021, 444; Dam, 2016, 117f.).

Curricular lässt sich die kleine Rolle der Kolonialgeschichte im Religionsunterricht etwa anhand der niedersächsischen Kerncurricula für die Fächer evangelische und katholische Religion belegen. Für den Bereich der Primarstufe bleibt die Thematik aufgrund der Komplexität gänzlich außen vor (→ Kirchengeschichte im Religionsunterricht der Primarstufe). In der Sekundarstufe I und II lässt sich das Thema vor allem in den inhaltsbezogenen Kompetenzbereichen „Kirche und Kirchen“ und „Ethik“ verorten; explizit benannt wird es jedoch kaum.

Im Fach Geschichte dagegen ist die Thematisierung des deutschen Kolonialismus und der Dekolonisierung in der Sekundarstufe I und II curricular wiederholt verankert. Darüber hinaus wird Kolonialgeschichte in der Sekundarstufe II auch mit Blick auf Spanien, England und die USA beleuchtet. Chancen der interdisziplinären Verschränkung mit dem Fach Religion sind hier klar erkennbar.

Die aktuellen Religionsschulbücher und Materialien spiegeln die Randständigkeit der Thematik entsprechend wider und bieten ihr kein bis wenig Raum – am ehesten noch im Zusammenhang mit Albert Schweitzers Wirken (Dam, 2017, 90-92).

Trotz curricularer Einschränkungen eignet sich die Kolonialgeschichte im Verbund mit der Missionsgeschichte dennoch als ein Lerngegenstand, der hinsichtlich der vier didaktischen Perspektiven und mithilfe der medialen und methodischen Vielfalt in produktiven Lehr- und Lernprozessen gestaltet werden kann (Schröder, 2021, 450). Für eine mehrere Unterrichtsstunden umfassende Unterrichtssequenz zur Thematik entweder in der Sekundarstufe I oder II ist folgendes Vorgehen denkbar und je nach Jahrgang sachlich, didaktisch und methodisch anzupassen sowie curricular anzubinden.

Mögliche Anforderungssituationen zum Einstieg können durch lokale Biografien einer (historische) Missionarsfamilie, eine vor Ort bestehende Städte- oder Gemeindepartnerschaft oder durch Denkmäler, Straßennamen oder Ähnliches angestoßen werden. Vorwissen und Fragen sind zunächst auszuloten und die lebensweltliche Relevanz ist hervorzuheben. Lässt sich vor Ort keinerlei Bezug herstellen, können zum Beispiel entweder eine entsprechende Exkursion oder Missionarsautobiografien (etwa der Bethelmissionare Wohlrab, 1915 oder Johanssen, 1933) sowie literarische Werke (Prüfer, 2015; Döbler, 2022) authentische Begegnungen schaffen.

In einer ersten Erarbeitung können historische Grundlagen zur Kontextualisierung herangezogen werden, sodass die Handlungen vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund des Kolonialismus und ihrer aktuellen Bedeutung erklärbar und überprüfbar werden. Somit werden die eigene Tradition bzw. die kulturprägenden, kirchengeschichtlichen Facetten entfaltet. Als überblicksartige Materialien können etwa das schulisch eingeführte Geschichtslehrwerk oder konkrete Themenhefte dienen (z.B. Schaper, 2019; Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage, 2022).

Eine darauf aufbauende Erarbeitung greift das biografische Lernen auf, in der die Auseinandersetzung mit konkreten Personen aus Vergangenheit oder Gegenwart und ihrer (christlichen) Lebensführung erfolgt. Nach sorgfältiger Ausarbeitung des Gegenübers ist das eigene Handeln dazu in Beziehung zu setzen und zu hinterfragen. Methodisch lässt sich dies etwa durch Quellenarbeit in Archiven und Museen, durch Zeitzeugengespräche oder durch die Analyse der eingangs vorgeschlagenen biografischen Werke umsetzen. In diesem Abschnitt der Unterrichtssequenz ergibt sich dann ein fließender Übergang zum Umgang mit existenziellen und aktuellen Problemen und Fragen. Historische Handlungs- und Deutungsoptionen können herausgearbeitet, verglichen und bewertet werden. Fragen, die sowohl damals als auch heute relevant sind, betreffen etwa den Umgang miteinander über kulturelle Differenzen hinweg, das Einstehen für persönliche Überzeugungen, das Leben in der Nachfolge Jesu, das Verhältnis von Kirche und Politik etc. Der Schwerpunkt ist dabei alters- und interessengemäß zu setzen; der Rückbezug zur Erhellung der eingangs gestellten Anforderungssituation ist sicherzustellen.

Die Ergebnissicherung kann in Produktform stattfinden, zum Beispiel als Portfolio, Plakate, Comics, Filme oder auf Social Media Plattformen, etwa in Form eines Instagramaccounts, wie beim Sophie Scholl Projekt des SWR und BR (Südwestrundfunk, 2022).

In einer abschließenden Vertiefung können die Lernenden ihre Ergebnisse letztlich im Rahmen des Erinnerungslernens durch die Gestaltung einer Ausstellung, eines Gedenktages oder eines Partnerschaftsfests wirksam umsetzen. Je nach Lernsituation kann dies im digitalen oder analogen Raum geschehen.

Vielversprechend wäre es in jedem dieser skizzierten Sequenzabschnitte einerseits interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Fächern innerhalb der Schule zu koordinieren. Andererseits könnte sogar über online-Plattformen mit gleichaltrigen Lernenden aus anderen Ländern zusammengearbeitet werden, um der Spannung der Thematik zwischen lokalen und globalen Bezügen Rechenschaft zu tragen.

Das inhaltliche Lernziel der kritischen Auseinandersetzung mit kolonial- und missionsgeschichtlichen Facetten in Vergangenheit und Gegenwart mit Blick auf die Zukunft fördert dabei sämtliche prozessbezogene Kompetenzen. Die so gestalteten religiösen Lehr- und Lernprozesse befähigen somit zur Teilhabe an der globalen Welt.

4. Ausblick

Auch wenn bisher noch wenig präsent, scheint es letztlich nicht nur praktikabel, sondern durchaus erstrebenswert, den Lerngegenstand stärker in den Religionsunterricht einzubeziehen. Die Beschäftigung mit kolonial- und missionsgeschichtlichen Themen bietet dem Religionsunterricht die Chance, seine fachliche Relevanz und schulische Tragfähigkeit verschiedentlich neu unter Beweis zu stellen: Der Religionsunterricht leistet seinen bildungstheoretischen Beitrag, indem er sich erstens als interdisziplinär (im Sinne der Schulfächerkooperation), zweitens als (selbst-)kritisch (im Sinne des Hinterfragens kirchlich-religiösen Handelns in Geschichte und Gegenwart) und drittens als allgemeinbildend (im Sinne des Beitrags der religiös reflektierten Perspektive auf ein aktuelles gesellschaftliches und kulturelles Thema) auszeichnet.

Die Aufbereitung geeigneter Materialien und die explizite curriculare Verankerung bleiben dabei zunächst Desiderate, die eine verstärkte praktische Umsetzung erleichtern können.

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