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Kollegiale Fallberatung

(erstellt: Februar 2018)

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1. Begriff

„Kollegiale Beratung beschreibt ein Format personenorientierter Beratung, bei dem im Gruppenmodus wechselseitig berufsbezogene Fälle der Teilnehmenden systematisch und ergebnisorientiert reflektiert werden“ (Tietze, 2010, 24). Im schulischen Zusammenhang wird Kollegiale Fallberatung als semiprofessionelles Verfahren praktiziert, das Lehrkräfte bei der Lösung von praktischen Problemen ihres Berufsfeldes unterstützen, sie zur Reflexion des eigenen Handelns anleiten und insgesamt zu einer Verbesserung schulischer Arbeit beitragen kann. Es wurde ursprünglich in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts in der Sozialarbeit in den USA (Peer Group Supervision) entwickelt und dort zunächst in sozialpädagogischen Berufskontexten verwendet, in der Folge aber auch in weiteren, auch ökonomischen Bereichen rezipiert. Im Unterschied zu anderen Beratungsformen wie etwa Supervision oder Coaching setzt das Verfahren auf die berufliche Kompetenz von Kolleginnen und Kollegen, die gemeinsam in einem strukturierten Prozess zielgerichtet an der Lösung von konkreten „Fällen“ arbeiten, die von einzelnen Lehrkräften nicht oder nicht befriedigend geklärt werden konnten. Fälle können beruflich bedingte Konflikte, Probleme, unerwartete Ereignisse, deviantes Verhalten, bedrückende Erfahrungen und anderes mehr sein.

Seit den 70er Jahren fand die Kollegiale Beratung Eingang in Schulen in Deutschland. Beratung in Lehrerkollegien und Referendargruppen hat zum Ziel, die konstitutiven Aspekte eines Falles zu klären und das Handlungsrepertoire von Lehrpersonen so zu erweitern, dass sie in der Lage sind, sich in dem betreffenden Fall professionell zu verhalten.

Kollegiale Fallberatung wird inzwischen in unterschiedlichen Bereichen wie etwa in Pflegeberufen, in der Sozialarbeit, in der Familientherapie, in Betrieben, bei Polizeibeamten, in der öffentlichen Verwaltung oder in der Organisations- und Personalentwicklung eingesetzt (Übersicht bei Tietze, 2016, 36-39).

2. Konzept

Praktischer Hintergrund der Kollegialen Fallberatung ist die Erfahrung insbesondere von Berufsanfängerinnen und Berufsanfängern, im System Schule weitgehend allein gelassen zu sein. Der Sprung vom Vorbereitungsdienst in die eigene Berufspraxis mit hoher Verantwortlichkeit und noch gering ausgeprägten Routinen, enormer Belastung durch vielfältige pädagogische, organisatorische und administrative Aufgaben und ständiger Konfrontation mit neuen, unerwarteten Situationen und Konflikten überfordert tendenziell manche Novizen. Externe Hilfe durch Supervision und Coaching steht in aller Regel nicht zur Verfügung. Lehrkräfte arbeiten allerdings in einem Kollegium unterschiedlich erfahrener Lehrpersonen, das über reiche Ressourcen und professionelle Expertise verfügt. Kollegiale Fallberatung macht diese Expertise und Ressourcen zu Ausgangspunkten eines wechselseitigen Lernprozesses. Dabei zielt sie zum einen auf die einzelnen Lehrerinnen und Lehrer und deren professionelle Handlungsfähigkeit, zum andern trägt sie zur Kohärenz der Lehrpersonen als Team bei und schließlich leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Schule im Sinne eines selbstlernenden Systems.

Grundannahmen (umfassend Tietze, 2010;2016, 14-19) der Kollegialen Fallberatung sind:

  • Im Zentrum steht das Erleben, Handeln und Reflektieren der beteiligten Personen, denen Entwicklungs- und Lernfähigkeit zugetraut wird. Jeder einzelne soll durch Anteilnahme, Wertschätzung, einfühlsames Verstehen und Beratung ermutigt, gestärkt und in seiner professionellen Kompetenz unterstützt werden (zur Personenorientierung: Schlee, 2012, 58-60).
  • Im Leitbild des reflective practitioner (Donald A. Schön, 1983) bildet die Reflexionsfähigkeit die Schlüsselkompetenz der Professionalität. Dazu gehört insbesondere, dass die – oft unbewussten – subjektiven Theorien, Teachers’ Beliefs, Wahrnehmungsmuster, Werthaltungen und Interpretationsmodelle bewusst gemacht und ihre Wirkweise in konkreten Situationen analysiert wird. Ziel ist es, solche untergründig wirksamen Theorien und Muster zu verändern und damit die Selbstreflexionsfähigkeit, die Selbstverantwortung und Selbststeuerung zu erweitern (Schlee, 2012, 40-53).
  • Thematisch bilden die von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern selbst eingebrachten „Fälle“ den Gegenstand der Beratung. Das Themenfeld reicht von beruflich herausfordernden Situationen und Konflikten bis hin zu alltäglichen Erfahrungen des Scheiterns, Versagens und von Misserfolgen.
  • Kollegiale Fallberatung geschieht in einem Team, das an definierten Aufgaben ziel- und ergebnisorientiert arbeitet, dies in einer „geregelten, strukturierten und organisierten Form tut“ (Herwig-Lempp, 2016, 23) und die eigene Struktur und Organisation reflektiert.

Kollegiale Fallberatung ist daher als eine Form professioneller Selbsthilfe anzusehen, die ohne externe Experten auskommt, aber in einem thematisch begrenzten Bereich auf die Expertise der Kolleginnen und Kollegen setzt und diese gewinnbringend nutzt.

3. Stärken

Kollegiale Fallberatung kann, wenn sie gelingt, nicht nur die berufliche Handlungsfähigkeit von Berufsanfängerinnen und Berufsanfängern erweitern, sondern auch eingefahrene, aber unproduktive Routinen von erfahrenen Lehrkräften aufbrechen und flexibilisieren (zu den Stärken: Tietze, 2010, 52-64; 111-128)

Stichworte, die die Leistungen der Kollegialen Fallberatung bezeichnen, sind u.a.:

  • Entdecken unbewusster Theorien, Glaubensorientierungen, Mechanismen, Interpretationsmodelle etc.,
  • Erweiterung der Selbstexplorations- und Reflexionskompetenz, Differenzierung der Selbstwahrnehmung,
  • Überwindung von Unsicherheiten, Stärkung der Selbstwirksamkeit,
  • Entlastung, Ermutigung und Stärkung bei Aporien, Misserfolgen, Versagen, Ärger,
  • Nutzung der Lebens- und Berufserfahrung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer,
  • Verbesserung sozialer, kooperativer und kommunikativer Kompetenzen,
  • Erweiterung des Handlungsrepertoires.

4. Grenzen

Kollegiale Fallberatung ist kein Therapieersatz, da sie nicht die individuellen psychosomatischen Beeinträchtigungen oder Blockierungen der einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmer zum Thema macht. Die Grenzen zur Übergriffigkeit in den persönlichen Bereich sind gelegentlich schwer auszumachen, müssen aber vor allem durch den Moderator strikt eingefordert werden. Da die Arbeit im Team zudem konstitutiv die Entscheidungshoheit jedes betroffenen Mitglieds voraussetzt, ist jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer verpflichtet, selbstdefinierte Grenzen eines Mitglieds zu respektieren. Dieses Prinzip gilt auch und besonders, wenn Gruppendynamiken zu entgleisen drohen und die Beratung für den Falleinbringer belastend zu werden droht.

Weitere Quellen für Störungen und Scheitern können u.a. sein:

  • Kollegiale Fallberatung ist angewiesen auf Nachhaltigkeit, Ausdauer und einen gewissen Zeitaufwand.
  • Das Team kann seine Struktur verlieren und zu unverbindlichen Plaudersitzungen degenerieren.
  • Mitglieder können sich nicht sicher genug fühlen, ihre Praxis in einer Gruppensitzung auszubreiten.
  • Mitglieder können sich demoralisiert und kritisiert fühlen.
  • Einzelne Teilnehmerinnen und Teilnehmer können dominieren, während andere sich passiv verhalten.
  • Konkurrenz zerstört die Vertrauensbasis.
  • Es kann zu einer Überfülle an Ratschlägen kommen, die vom Falleinbringer nicht mehr verarbeitet werden können. Umgekehrt kann auch wenig hilfreicher Rat frustrierend wirken.
  • Absprachen werden nicht eingehalten, die Ergebnisse des Beratungsprozesses werden als unverbindlich betrachtet.
  • Die Vertraulichkeit kann gebrochen und Interna können weitergegeben werden.

5. Praxis

Die Praxis der Kollegialen Fallberatung wird nicht einheitlich gehandhabt. Vielmehr wurde ein Grundmuster vielfach abgewandelt und mit unterschiedlichen Methoden angereichert.

5.1. Voraussetzungen

Grundsätzlich gelten für die Kollegiale Fallberatung einige praktische Voraussetzungen, ohne die ein offener, ehrlicher und vertrauensvoller Austausch im Beratungsteam nicht möglich ist:

  • Alle Akteure des Teams sind gleichberechtigt, gleichwertig und haben einen gemeinsamen beruflichen Fokus. Hierarchien sind ausgeschlossen.
  • Alle Akteure nehmen freiwillig und verbindlich an der Teamberatung teil.
  • Alle Akteure sind verantwortlich für eine gelingende und hilfreiche Beratung.
  • Die Arbeit des Teams vollzieht sich in einem geschützten Raum, der von Vertraulichkeit und Verlässlichkeit geprägt ist.
  • Die Arbeit des Teams darf nicht unter Zeitdruck leiden, braucht aber ein klares verabredetes Zeitkonzept.
  • Verabredungen werden gemeinsam getroffen, gelten verbindlich und langfristig.

5.2. Rahmen

Der äußere Rahmen der Kollegialen Fallberatung trägt nicht unwesentlich zum Gelingen oder zum Scheitern bei. Unabdingbar ist ein ruhiger, störungsfreier Raum, der Platz für einen Stuhl-/Sitzkreis bietet. Materialien für unterschiedliche Methoden (etwa: Papierrollen, Filzstifte, Klebepunkte etc.) müssen bereit gehalten werden. Das Zeitfenster sollte etwa 90 Minuten sein und die Frequenz der Treffen darf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht überfordern. Eine Teamgröße von 5-10 Personen verspricht intensiven Austausch. Geklärt werden muss, wer die Organisation übernimmt. Das Team muss sich verständigen, wie mit Austritten oder neuen Anfragen von Kolleginnen und Kollegen umgegangen werden soll. Auch die Frage, wie bei Konflikten verfahren werden kann, ist zu erörtern.

5.3. Rollen

Um hierarchische Strukturen zu vermeiden, sollten die Rollen im Gruppenprozess wechseln.

Der Falleinbringer berichtet von einer als problematisch erlebten Situation, beschreibt die beteiligten Personen und ihr Verhalten und legt dar, wie er in der Situation reagiert bzw. was er später unternommen hat. Dabei ist seine Sicht auf die Situation maßgebend. Er behält während der Beratung die Deutungshoheit.

Der Moderator bzw. die Moderatorin übernimmt die Verantwortung für die Herstellung und Einhaltung des verabredeten Rahmens und die Organisation des Ablaufs einschließlich der „Zeitwächter“-Funktion. Er/sie achtet darauf, dass die Selbstbestimmung des Falleinbringers gewahrt wird und mit diesem respektvoll und wertschätzend umgegangen wird.

Eine Komoderatorin oder ein Komoderator kann gegebenenfalls bei Störungen intervenierend eingreifen.

Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind als Berater verantwortlich, keiner hat Vorrang vor anderen, jeder Beitrag wird wertgeschätzt. Das kommunikative Verhalten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer trägt entscheidend zum Erfolg der Beratung bei. Momente eines beratungsförderlichen Verhaltens sind u.a.:

  • Aktives Zuhören,
  • behutsames Nachfragen,
  • auf Augenhöhe kommunizieren,
  • das zentrale Problem fokussieren,
  • auf kurzschlüssigen Erfahrungstransfer verzichten („das habe ich auch schon erlebt und so und so gelöst“),
  • unterschiedliche Sichtweisen als Hilfe für die Entwicklung eigener Ideen und Lösungen nutzen (Konsens ist nicht das Ziel!),
  • lösungsorientiert beraten,
  • wertschätzend rückmelden.

5.4. Regeln

Kollegiale Fallberatung ist auf die Einhaltung klarer Regeln angewiesen. Dazu gehört, dass Vereinbarungen von allen Teammitgliedern eingehalten werden. Unabdingbar ist die Verpflichtung zur Verschwiegenheit, ebenso die Absprache, dass niemand genötigt oder bedrängt werden darf, Rat anzunehmen. Alle Phasen der Beratung sind prägnant strukturiert, Zuständigkeiten sind definiert.

5.5. Methoden

Die eingesetzten Methoden sind vielfältig und zielen darauf, Lösungen zu finden, Beiträge zu strukturieren, unterschiedliche Sichtweisen zu erproben oder empathische Rückmeldungen zu geben (Übersicht über Methodenbausteine bei Tietze, 2016, 115-214; Macha/Lödermann/Bauhofer, 2010, 153f.).

5.6. Ablauf

Das Grundgerüst für den Beratungsprozess ist variabel. Es umfasst je nach Differenzierung 6-10 Schritte und sollte für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer ohne weitere Hilfe praktikabel sein. Tietze (2016, 60-114) unterscheidet die Schritte:

Phase Leitfrage

1 Casting Welche Fälle sind da? Wer übernimmt welche Rolle?

2 Spontanerzählung Worum geht es? Wie stellt sich die Situation für den

Fallerzähler dar?

3 Schlüsselfrage Welchen Klärungswunsch hat der Fallerzähler in Bezug

auf seine Situation?

4 Methodenwahl Welche Beratungsmethode wählen wir aus?

5 Beratung Was geben wir dem Fallerzähler in Bezug auf seine

Schlüsselfrage mit?

6 Abschluss Was nimmt der Fallerzähler aus der Kollegialen

Beratung mit?

Kollegiale Fallberatung

Das „Heilsbronner Modell“ ist eine präzise strukturierte Variante (Spangler, 2012). Es wurde in den Jahren 1985/86 an der Fachhochschule für Religionspädagogik und kirchliche Bildungsarbeit München entwickelt. Der Ablauf der Beratung ist in zehn aufeinander aufbauende Schritte aufgeteilt, die den Teilnehmern die selbstständige Organisation und Durchführung der Beratung ermöglichen. Im Mittelpunkt steht das strukturierte Gespräch. Die zehn Schritte sind:

  • Rollen verteilen: Fallgeber, Moderator, Berater
  • Fall schildern (Fallgeber)
  • Nachfragen (Berater)
  • Sammeln von Assoziationen, Empfindungen, Phantasien (Berater)
  • Rückmeldung zu den Ideen (Fallgeber)
  • Lösungsvorschläge sammeln (Berater)
  • Rückmeldung zu den Lösungsvorschlägen (Fallgeber)
  • Austausch zu den Lösungsvorschlägen, Planung der Umsetzung (alle)
  • eigene Erfahrungen zu ähnlichen Fällen einbringen (Berater, Moderator)
  • Rückblick: Wie haben wir gearbeitet? Was können wir nächstes Mal besser machen?

Mögliches Ablaufmodell

Kollegiale Fallberatung 2

5.7. Nutzungsmöglichkeiten in der Fachgruppe Religion

Erfahrungsgemäß arbeiten Kolleginnen und Kollegen mit dem Fach Religion in vielen Schule relativ eng zusammen. Sie stehen oft vor gemeinsamen Problemen, die administrativer, kollegialer, aber auch konzeptioneller und inhaltlich-pädagogischer Art sein können. Solche Herausforderungen können beispielsweise sein:

  • die bedrängte Situation des Faches an einer Schule (Stundenplanung, Lehrereinstellung, restriktive Maßnahmen der Schulleitung),
  • fehlende Anerkennung des Faches durch Kolleginnen und Kollegen bis hin zu gezielten Angriffen und Mobbing gegen Religionslehrkräfte,
  • unterschiedliche Glaubensüberzeugungen, Streit über theologische Ansätze oder die kirchliche Anbindung von Religionslehrkräften,
  • Zusammenarbeit von konfessionell unterschiedlich orientierten Kollegeninnen und Kollegen,
  • (Selbst-)Überforderung von Religionslehrkräften, Gefahren des Burnout, Stützung von fachlich und pädagogisch entwicklungsfähigen Kolleginnen und Kollegen,
  • konzeptionelle Differenzen über die Aufgabe des Religionsunterrichts oder das Problem der Leistung,
  • Auseinandersetzungen mit fundamentalistisch (→ Fundamentalismus/Biblizismus, bibeldidaktischer Umgang) eingestellten Schülerinnen und Schülern,
  • didaktische Probleme bei „schwierigen“ theologischen Themen des Religionsunterrichts,
  • deviantes Verhalten von Schülerinnen und Schülern gerade im Religionsunterricht, Umgang mit Unterrichtsstörungen.

In allen genannten Problemfeldern kann die Kollegiale Fallberatung außerordentlich hilfreich sein und die Solidarität untereinander, die Problemlösefähigkeit und die fachlich-pädagogische Reflexionsfähigkeit der Fachgruppe insgesamt stärken.

5.8. Fallbeispiel: Missbrauch des Internets im Religionsunterricht

Der Lehrer Oliver S. unterrichtet evangelische Religionslehre in einer Klasse 8. Im Rahmen einer Reihe über Martin Luther sollen die Schülerinnen und Schüler sich über Wirkungsstätten Luthers, seine Biografie und seine zentralen Werke informieren. Mittel der Wahl ist eine Internetrecherche. Hierzu werden die 24 Schülerinnen und Schüler in zwei Gruppen auf die zwölf Rechner im Computerraum der Schule verteilt.

Die Klasse hat schon häufiger im Computerraum gearbeitet und ist mit den Richtlinien des Lehrers vertraut. Am Anfang einer jeden Unterrichtsreihe im Computerraum wurden die Schülerinnen und Schüler ausdrücklich auf das Verbot von rechtsextremen gewaltverherrlichenden oder pornografischen Seiten hingewiesen. Da das Verbot bislang eingehalten wurde, hält Oliver S. einen Hinweis vor jeder Stunde für nicht notwendig. Der Computerraum verfügt zusätzlich über die Management-Software „Netop Vision“, die eine Kontrolle der Schüleraktivitäten vom Lehrerrechner aus ermöglicht.

In der Stunde, über die hier berichtet wird, befindet sich Oliver S. an einem der Schülerarbeitsplätze, um dort zwei Schülerinnen bei der Speicherung der Dokumente behilflich zu sein. Als er sich umdreht, sieht er, dass Schüler auf ihrem Monitor eine pornografische Szene anschauen. Er geht zu den Schülern und fordert sie etwas lauter auf, diese Seite sofort zu schließen. Den anderen Schülern bleibt dieser Vorgang nicht verborgen, wodurch sich die gesamte Aufmerksamkeit den beiden Schülern (bzw. dem Monitor) zuwendet.

Oliver S. fühlt sich in dieser Situation hilflos und schaltet über den Notausschalter die gesamte Computeranlage ab. In den noch verbleibenden 10 Minuten weiß er nicht, was er machen soll und versucht in einer kurzen Gesprächsrunde die Ergebnisse der Schülerinnen und Schüler zu sammeln.

Im Anschluss an die Stunde stellt er die betroffenen Schüler zur Rede. Der ältere Schüler berichtet, er habe zu Hause eine ‚tolle Seite‘ gefunden, wisse allerdings die genaue Adresse nicht mehr. Er wisse aber, welchen Begriff er über eine Suchmaschine eingegeben habe, um dort hin zu gelangen. Seinem Mitschüler habe er lediglich die genaue Adresse mitteilen wollen, damit sich dieser zu Hause auch diese Seite anschauen könne. Er habe den Unterricht überhaupt nicht stören wollen. Was er sich zu Hause anschaue, gehe den Lehrer doch nichts an, erklärt der Schüler.

Die Offenheit, mit der der Schüler (14 Jahre) den Umgang mit pornografischen Seiten schildert, verunsichert Oliver S. Da den Schülern augenscheinlich jegliches Unrechtsbewusstsein zu fehlen scheint, bricht Oliver S. an dieser Stelle das Gespräch ab, unschlüssig, ob er die Eltern des Jungen informieren soll. Eine Überprüfung der Seite ergibt, dass es sich um harte pornografische Darstellungen handelt. In der Folge stellt sich heraus, dass sich das Image des Schülers in der Klasse durch den Vorfall außerordentlich erhöht hat. Als Wiederholer ist er seinen Mitschülerinnen und Mitschülern ohnehin körperlich und geistig voraus und wirkt erwachsener; jetzt aber wird er als „König der Klasse“ hofiert.

Literaturverzeichnis

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  • Tietze, Kim-Oliver, Kollegiale Beratung. Problemlösungen gemeinsam entwickeln, Reinbek 8. Aufl. 2016.
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  • Zeiler, Ralph, Kollegiale Fallberatung in der Schule. Warum, wann und wie?, Mülheim an der Ruhr 2012.

Medienverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

  • Kollegiale Fallberatung Tietze (2016, 60-114)
  • Praxiserprobtes Modell im Studienseminar für das Lehramt im Gymnasium Paderborn (jetzt: ZfsL Paderborn) © Hartmut Lenhard

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