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Kirchengeschichte, Literatur als didaktischer Zugang

(erstellt: Februar 2016)

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Von dem einflussreichen katholischen Kirchenhistoriker und Ökumeniker Erwin Iserloh (1915-1996) wird erzählt, er habe in seinen Vorlesungen vehement gewarnt vor „der ‚parfümierten Geschichte‘ jener Romanschreiber, die sich mit historischen Themen beschäftigen. Derlei läse ein zukünftiger (Kirchen-)Historiker nicht! Es verderbe die notwendige Distanz zum Thema“ (Ruppert, 1990, 293). Dementsprechend müsste jede seriöse Historikerin und jeder seriöse Historiker von vornherein erhebliche Reserven gegenüber dem Versuch haben, belletristische Romane als Quellen (→ Quellenarbeit, kirchengeschichtsdidaktisch) oder → Medien der eigenen Zunft zu verwenden.

1. Klio dichtet: Geschichte und Geschichten

Es gibt gegenteilige Einschätzungen. Im Anschluss an das geschichtshermeneutische Modell des Amerikaners Hayden White (*1928) finden sich Gedanken, die auf die inneren Verschränkungen von Geschichte und Geschichten verweisen. White spricht in seinen einflussreichen Studien über „Die Fiktion des Faktischen“ provokativ von der strukturellen Nähe zwischen Geschichtsschreibung und belletristischer Literatur. Beide sind für ihn gleichermaßen auf einer nachträglich konstruierten Plotstruktur beruhende Formen der Fiktionsbildung. Er postuliert, dass „der Diskurs des Historikers und der des Autors fiktionaler Literatur sich überschneiden, Ähnlichkeiten aufweisen und einander entsprechen“ (White, 1986, 145).

Im Bild gesprochen: Klio dichtet. Klio, die griechische Muse der Geschichtsschreibung, wird üblicherweise mit einer Papyrusrolle dargestellt, gelegentlich auch mit einem Griffel. Sie ist Symbol dafür, dass „die Historie nicht allein eine“ – objektive, vorgeblich interessenlose – „Wissenschaft ist, sondern die Kunst der Darstellung des Vergangenen umgreift“ (Hasberg, 1997, 708), und dies stets eben auch poetisch, fiktiv, gestalterisch. Diese Sichtweise hat sich inzwischen in weiten Teilen der → Kirchengeschichtswissenschaft und auch der → (Kirchen-)Geschichtsdidaktik durchgesetzt. Der umgekehrte Blickwinkel ist hingegen nach wie vor umstritten. Gut, Geschichtsschreibung ist immer auch gestalterisch-literarisch. Aber lassen sich literarische Werke deshalb automatisch in den wissenschaftlichen historischen Diskurs einfügen? Der Historiker Wolfgang Hasberg widerspricht zumindest im Blick auf die Reichweite der möglichen Erkenntnisse: „Völlig ungeeignet“ seien fiktionale Werke, „um historische Informationen zu vermitteln“: Die als normative Vorgabe gesetzte „Triftigkeitsanalyse“ lasse sich „nicht von den Literaten“, sondern „nur von Historikern lernen!“ (Hasberg, 2002, 62f.).

Von Anfang an wird deutlich: Die Verbindung von Geschichte und Geschichten ist ein heikles Gelände, aber zugleich ein reizvolles Gebiet, um die Chancen und Grenzen von erinnerungsgeleitetem Lernen (→ Erinnerung/Erinnerungslernen) abzustecken.

2. Die „Freiamts-Trilogie“ als Beispiel. Narrativer Zugang zum Katholizismus in der Schweiz

An der so genannten „Freiamts-Trilogie“, einem kirchengeschichtlich relevanten Beispiel, können relevante Fragestellungen sowie spezifische Lernchancen literarischen Lernens in (kirchen-)geschichtlichen Kontexten aufgezeigt und verdeutlicht werden.

Der Schweizer Erzähler Silvio Blatter (*1946) legte diese Trilogie von 1978 bis 1988 vor. In den drei thematisch wie personal eng aufeinander bezogenen Romanen „Zunehmendes Heimweh“ (1978), „Kein schöner Land“ (1983) und „Das sanfte Gesetz“ (1988) entfaltet er einen Zugang zur Geschichte der katholischen Enklave des Schweizer „Freiamts“ im Kanton Aargau um die Orte Bremgarten und Muri. Von Heinrich Böll begrüßt als bedeutender Beitrag zur Gattung „Heimatroman“ – überzeugend gezeichnet „wie alle Romane, in denen Menschen zu Hause sind“ (Böll, 1985, 43) – zeichnet sich die Trilogie aus durch zahlreiche Bezüge auf die katholische Geschichte dieser Region, sowie auf die sich verändernde Bedeutung von → Religion in der Gegenwart.

„Zunehmendes Heimweh“ entfaltet ein Panorama von Lebensschicksalen und verbindet dabei zeitgenössische Lebensläufe nicht nur mit Erinnerungen an die selbsterlebte Vergangenheit, sondern auch mit historischen Rückblicken, die der heutigen Erzählebene eine überzeitliche Tiefendimension verleihen. Eine der Figuren, der Hilfslehrer Hans Villiger, verfasst für eine Regionalzeitschrift einen umfangreichen Aufsatz über den „Freiämtersturm 1841“, in dem die unterdrückten katholischen Bauern gegen eine neue, liberale Verfassung rebellierten, die ihnen signifikante Nachteile bescherte. Dieser Aufsatz wird in mehreren umfangreichen Passagen im Buch in Kursivschrift abgedruckt. Der gegenwärtige Erzählbogen erhält so eine parabolische Durchlässigkeit. Gegenwart und Vergangenheit werden korrelativ (→ Korrelation) aufeinander bezogen.

Wie folgt charakterisiert Silvio Blatter – gespiegelt in die Innensicht einer seiner weiblichen Figuren, der schwangeren Margrit – sein Erzählverfahren:

„Dazwischen spannt die Zeit einen Bilderbogen, Filmschnitte, Zeitlupe, beschleunigtes Tempo, eine Abfolge von Ereignissen, deren Niederschlag im Gedächtnis schlierte. Sie hatte sich Vergangenheit bisher immer als losgelöst vorgestellt, als abgeschlossen, nun stellten sich Zusammenhänge her. Einem Bild folgte zwangsläufig ein neues und wurde durch das vorangehende mitgeprägt. In diesem Gefüge von Erinnerungen machte sie Plattformen aus, auf denen einzelne Ereignisse verweilten, denn manchmal ruhte das Gedächtnis aus und nahm sich Bild um Bild gemächlich vor, damit umfassendere Gemälde entstehen konnten, gleichsam als Plakate zwischen den kleineren Formaten“ (Blatter, 1978, 138f.).

Im Alltag der Menschen im Freiamt bleibt der Katholizismus zunächst lebensprägend. Er bestimmt das Zeitgefühl, die Rituale, das Bewusstsein von historisch gewachsener Identität (→ Identität, religiöse). Doch mehr und mehr gerät diese Welt in den 1970er Jahren in die Krise. Gewiss, der Katholizismus hatte als ein „Katalysator“ (Blatter, 1978, 205) im Bauernaufstand gewirkt, hatte die einfachen Leute zu einem Kampf um ihre Rechte angestachelt und getragen. Zunehmend hatte sich aber die Einsicht durchgesetzt – so Hans Villiger –, „dass katholische Tradition mit demokratischer Denkweise nichts zu tun hatte“ (Blatter, 1978, 206). Aus heutiger Sicht kommt er zu eindeutigen Urteilen: Auch wenn der Katholizismus immer noch die Lebensweise vieler Menschen prägt, er lässt sich nicht anders sehen als Symbol für „Reaktion“ (Blatter, 1978, 206), als „Schraubstock für Seelen“ (Blatter, 1978, 207), als „Stillstand“ (Blatter, 1978, 207), als „Denkkerker“ (Blatter, 1978, 208), als „Sackgasse“ (Blatter, 1978, 208).

Nicht alle Charaktere des Romans teilen diese Einschätzung. Doch selbst Margrit, deren Lebenserinnerungen zahlreiche „katholische Bilder“ (Blatter, 1978, 390) aufblättern, „zweifelt“ (Blatter, 1978, 391). Der Roman endet so mit einer zwar verhaltenen Zuversicht im Blick auf die Zukunft, geprägt vom titelgebenden „zunehmenden Heimweh“. Ob der in seiner langen Geschichte entfaltete Katholizismus darin aber eine Rolle spielen wird, bleibt ungewiss.

Fünf Jahre später – in „Kein schöner Land“ – hat sich das Klima bereits spürbar verändert. Die → Säkularisierung greift rasch um sich, auch im katholischen Freiamt. „Dieses katholische Zeug, vorbei ist das“ (Blatter, 1983, 50), hält ein junger Mann seiner Mutter entgegen, die ihrerseits an den Ritualen und Überzeugungen ihres Glaubens festhält. Mehr und mehr zerbröckeln die rigiden Moralvorstellungen: Francis Fischer, ein junger katholischer Pfarrer, verzweifelt an seinem Glauben und seiner Aufgabe. Immer häufiger meint er, „schweigen zu müssen, weil er keine frohe Botschaft (mehr) zu verkünden habe“ (Blatter, 1983, 34). Am Ende nehmen seine Zweifel und sein Scheitern am auferlegten Zölibat überhand. Er lässt das Priesteramt hinter sich und bricht mit seiner Geliebten auf in ein neues Leben. Der ganze Roman schildert den Prozess von Auflösung und Zerstörung einer vertrauten Heimat, sei es im Blick auf Lebensformen, regionale Identität oder religiöse Überzeugungen. Im Prozess der Auflösung aber werden die zentralen Elemente dieser Welt noch einmal in aller Klarheit beschrieben.

Noch einmal fünf Jahre später – in „Das sanfte Gesetz“ – findet sich zwar ein schon im Titel erkennbarer versöhnlicherer Ton als zuvor, erkauft freilich durch die nun erfolgte Verabschiedung einer Tiefenprägung durch den Katholizismus. Doch es gibt ihn bei einigen Zeitgenossen durchaus noch, den Besuch der Sonntagsmesse, aber er „entsprach weniger einem Bedürfnis denn einer gesellschaftlichen Pflicht“ (Blatter, 1988, 44). Andere, wie die als Kind, Jugendliche und junge Frau tiefgläubige Margrit, sinnieren darüber, „wie lange sie keine Kirche mehr betreten hatte[n]“ (Blatter, 1988, 220). Religion spielt im Leben der meisten Charaktere – und auch in Blatters folgenden Romanen – keine prägende Rolle mehr.

In einem großen Bilderbogen zeichnet die Trilogie also nach, wie selbst in der als grundkatholisch geltenden Enklave des Freiamtes innerhalb von zehn Jahren die religiöse Prägung schwindet, sich in Erinnerung oder aufrechterhaltene Routinehandlungen auflöst. Gleichzeitig wird diese Erzählgegenwart mit biographischen wie historischen Grundschichten unterlegt, die den Wandel umso klarer und tiefenschichtiger vor Augen stellen.

3. Literarisch-religionspädagogische Grundprinzipien

Warum und wie kann das Lernen aus Geschichte über das Lernen aus Geschichten möglich werden? Wo und wie kann gerade → Kirchengeschichte durch literarische Entfaltung besondere Dimensionen gewinnen? Anhand der oben nur in wenigen Strichen charakterisierten Freiamts-Trilogie werden diese Fragen im Folgenden geklärt. Viele der dabei entwickelten allgemeinen religionsdidaktischen Grundprinzipien (vgl. Langenhorst, 2011a) lassen sich auf andere literarische Werke übertragen.

3.1. Substitution

Die beschriebenen Romane – oder ausgewählte Passagen daraus – lesen sich wie eine Illustration der im Blick auf die Weitergabe von geschichtlichen → Erfahrungen vielfach zitierten Verse aus dem Buch Deuteronomium: „Lerne aus den Jahren der Geschichte!/Frag deinen Vater, er wird es dir erzählen,/frag die Alten, sie werden es dir sagen“ (Dtn 32,7). Eine ähnliche Konstellation legt Silvio Blatter vor. Seine Figuren übernehmen die Erzählungen der Alten. Genau hier kommt belletristischer Literatur eine erste entscheidende Funktion zu. Da die Konstellationen unmittelbar-direkter Oralität im Alltag immer seltener zu finden sind, bedarf es – wie schon in der Schriftwerdung der Bibel selbst – ersatzweise der schriftlichen Fixierung. Dort, wo eigenes Erleben fehlt, braucht es Zugänge zu geronnener, stellvertretender Erfahrung. Literatur substituiert, komprimiert und gestaltet hier also Erfahrung.

3.2. Exemplarische Repräsentativität

Nur zu gut sind sich Religionsdidaktikerinnen und Religionsdidaktiker bewusst, dass Auswahl und → Elementarisierung notwendige Grundgebote für schulische Lehr- und Lernprozesse sind. So schön es aus Sicht geschichtsbegeisterter Pädagoginnen und Pädagogen wäre, einen auch nur ansatzweise repräsentativen chronologischen Überblick der Kirchengeschichte vom Anfang bis in die Gegenwart im Unterricht zu verankern, das tatsächlich zur Verfügung stehende Unterrichtsvolumen lässt das nicht zu. Klaus König hält daher als eine der von ihm aufgestellten „Grundregeln der Kirchengeschichtsdidaktik“ fest: „Den chronologischen Überblick als Anordnungsprinzip aufgeben und durch thematische Fallstudien ersetzen“ (König, 1996, 198).

Nach welchen Prinzipien aber sollten solche Fallstudien ausgewählt werden? In der allgemeinen Geschichtsdidaktik plädiert man stark für das Prinzip der „Repräsentativität“. Zeitgeist und Zeitentwicklungen sollen anhand typischer, eben repräsentativer Beispiele erkennbar und reflektierbar werden. Insofern verbindet sich das Prinzip der Repräsentativität mit dem der Exemplarität. Anhand von wenigen Figuren soll ein vergangenes Geschehen zugänglich werden, in dem die gesellschaftlichen Umstände, der Zeitgeist, die Entwicklungen besonders anschaulich werden. Der nebenberufliche Historiker Hans Villiger sowie die angesichts ihrer Schwanger- und dann Mutterschaft über die Entwicklungen der Lebensbedingungen besonders sensible Margrit sind bei Silvio Blatter nicht zufällig die beiden Figuren, die alle drei Romane verbinden. Dass sich in diesen beiden Charakteren die Vielfalt der Entwicklungen und Perspektiven nicht aufzeigen lässt, wird durch das reiche und wechselnde Personal der Nebenfiguren deutlich.

3.3. Personalität

Ein drittes didaktisches Schlagwort schließt sich daran an: die Personalität oder „Personorientierung“ (König, 2003, 190; → Biografisches Lernen). Konstantin Lindners „Plädoyer für biographisch akzentuierte Zugänge zur Kirchengeschichte“ (Lindner, 2007, 219) setzt hier klare Positionslichter. Neben historischen bieten auch fiktionale, literarische Biographien kirchengeschichtsdidaktisches Potenzial. Warum? Um ein Sich-Hineinversetzen in fremde Traditionen und Lebenswelten (→ Fremdheit als didaktische Aufgabe) zu ermöglichen, wählen Schriftstellerinnen und Schriftsteller fast stets den Zugang über wenige zentrale Zugangsfiguren wie eben Hans Villiger oder Margrit. In der freiwilligen Identifikation mit diesen Personen wird die Welt, in der sie leben, fühlbar, erfahrbar, spürbar. In literarischen Werken, die psychologisch entfalten und sinnlich-ästhetisch ausschmücken können, wo historische Quellen oft nüchtern faktisch bleiben müssen, ist gerade dieser Prozess einer ganzheitlichen, in der Phantasie der Lesenden beheimateten Annäherung leichter möglich (vgl. Langenhorst, 2011b). Lernenden öffnet sich so ein tieferer Zugang als über bloße Fakten.

3.4. Authentizität

Eine weitere, über Literatur eigens mögliche Gewinndimension liegt darin, dass in gelungenen Texten Authentizität spürbar werden kann. Nicht in dem Sinne, dass die Schriftstellerinnen und Schriftsteller sich auf eine lückenlose historische Quellenlage verlassen könnten, wohl aber darin, dass die Qualität guter Literatur sich unter anderem gerade darin spiegelt, wie authentisch und überzeugend sich die Autorinnen und Autoren in Lebensgefühle fiktiv hineinversetzen können. Diese Authentizität bestimmt sich zunächst also nicht durch faktenhistorische Stimmigkeit, sondern durch ästhetische Qualität. Silvio Blatters nebenberuflicher Historiker Hans Villiger fasst so seine subjektive Sicht auf die Geschichte und den zeitgenössischen Zustand der katholischen Schweiz zusammen. Nicht absolute historische Validität und Triftigkeit wird deshalb zum Maßstab des Romans, sondern dessen ästhetische Stimmigkeit. Dass diese auf anderer Ebene an historischen Überprüfungen gemessen werden kann, steht auf einem anderen Blatt.

3.5. Multiperspektivität

Die Stimmigkeit der literarischen Porträts ergibt sich unter anderem daraus, dass sie nicht objektiv, auktorial oder mit Allgemeingültigkeitsanspruch präsentiert werden. Das durch die Romane vermittelte Bild setzt sich aus mehreren, von unterschiedlichen Positionen aus vermittelten Bruchstücken der Wahrnehmungen, Zugänge und Erinnerungen zusammen. Blatter hatte sein Kompositionsprinzip ja – wie oben zitiert – genau so bestimmt: „In diesem Gefüge von Erinnerungen“ gibt es „Plattformen [...], auf denen einzelne Ereignisse verweilten, denn manchmal ruhte das Gedächtnis aus und nahm sich Bild um Bild gemächlich vor, damit umfassendere Gemälde entstehen konnten, gleichsam als Plakate zwischen den kleineren Formaten.“

In dieser Poetologie spiegelt sich eine geschichtshermeneutische (→ Hermeneutik) Erkenntnis: Es gibt schlicht keinen absolut objektiven Zugang zu politischen oder historischen Konstellationen. Jede Beschäftigung mit Konflikten und Prozessen ist perspektivisch durch die eigene Prägung und das eigene Erkenntnisinteresse mitbestimmt. Gute Literatur ermöglicht das perspektivische Hineinschlüpfen in verschiedene Standpunkte. Die Beschäftigung mit Literatur macht deutlich, dass jeder einzelne Zugang, jede Erinnerung, jedes Aufrufen oder Verschweigen von Geschichte und Geschichten durch perspektivische Vorgaben geprägt ist. Der Kirchenhistoriker Hans Reinhard Seeliger hat ein dem entsprechendes Ziel seiner Wissenschaft benannt als „Demonstration von Alternativen und damit der Verflüssigung des Selbstverständlichen“ (Seeliger, 1988, 15).

3.6. Beitrag zur Lebensorientierung

Der Ort von Kirchengeschichte im Religionsunterricht (→ Religionsunterricht, evangelisch; → Religionsunterricht, katholisch) lässt sich – wie bei allen anderen Fachwissenschaften auch – nicht allein vom Selbstanspruch der Wissenschaft bestimmen, sondern besonders im Blick darauf, welcher Beitrag damit für die → Bildung von → Schülerinnen und Schülern erfolgt. Kirchengeschichtliches Lernen muss sich in den Gesamtkontext religiösen Lernens (→ Bildung, religiöse) einordnen, in dem die historische Perspektive wichtig ist, aber lediglich als eine von mehreren. Vor allem Bernhard Gruber hat in seiner Dissertation den Standpunkt stark gemacht, Kirchengeschichte müsse einen „Beitrag zur Lebensorientierung“ geben. Zentral gehe es so darum, Kirchengeschichte zu aktualisieren, sie im Blick auf heutige geschichtliche und ethische Probleme transparent zu machen. „Historische Themen […] gewinnen ihre Relevanz […] durch ihren Bezug zur gegenwärtigen (und soweit voraussehbar zukünftigen) Lebenswelt der Schüler“ (Gruber, 1995, 95), so die Grundthese.

Ganz in diesem Sinne wird in der „Freiamts-Trilogie“ die Erinnerung an die katholische Prägung der Region zur Prüffolie gegenwärtiger Fragestellungen. Vor allem die rigide Sexualmoral, die angst- und zwangsbetonte Erziehung, aber auch die skeptische Haltung zur aufkommenden Demokratie werden aus der Geschichte zwar verständlich; derartige Thematiken können aber an der Transformation in gegenwärtige Lebensfragen und Orientierungen scheitern. Geschichte wird hier nicht um ihrer selbst willen erzählt, sondern um zu verstehen, wie und warum eine zu enge Vergangenheitsfixierung die Bewältigung der Gegenwart erschwert. Das nur noch als Ballast empfundene geistige und religiöse Erbgut wird allen ‚zunehmenden Heimwehs‘ zum Trotz zurückgelassen.

Wird der Blick auf Geschichte damit „zum Fundus anschaulicher Beispielfälle degeneriert“ (Hasberg, 2003, 11), so die vielfach formulierte Kritik an derartigen Verfahren? Diese Gefahr kann nur dann bestehen, wenn Geschichte ausschließlich aktualisierend betrachtet wird. Dass sie eben auch moralische, gesellschaftliche, spirituelle und religiöse Probleme, Dilemmata und Entwicklungen veranschaulichen kann, stärkt ihre religionsdidaktischen Potenziale.

3.7. Regionalität

Ein weiterer Aspekt: Vor allem Hubertus Halbfas hat in seiner 1989 erschienenen kirchengeschichtsdidaktischen Studie „Wurzelwerk“ darauf hingewiesen, dass Kirchengeschichte dann nach wie vor auf Interesse stoßen könne, wenn sie regional verankert sei. Diese Beobachtung und Forderung wird inzwischen fast durchgängig in allen neueren kirchengeschichtsdidaktischen Werken erhoben, ohne sie zu verabsolutieren – auch die Geschichte des zeitlich und regional Fremden hat selbstverständlich ihren Ort. Bei Silvio Blatter wird Regionalität zum poetologischen Gestaltungsprinzip. Obwohl er nicht zum Verfremdungsprinzip des Einbaus von ortstypischem Dialekt greift, konzentriert er seine Trilogie brennspiegelartig auf eine ganz bestimmte Region, das Freiamt im schweizerischen Kanton Aargau. Im Schicksal dieser Region und der hier lebenden Menschen, am Beispiel der Entwicklungen an diesem konkreten Fleckchen Erde werden jedoch übertragbare Facetten deutlich: konkret die des Übergangs des Katholizismus von der Vormoderne in die Moderne und dann in die Postmoderne; allgemein Geschichten von Macht und Unterdrückung, Schuld und Opfertum, Liebe und Scheitern, Sinnsuche und dem Ringen um Lebenszuversicht.

3.8. Berücksichtigung der Alltagsgeschichte

Eine weitere Forderung der aktuellen Kirchengeschichtsdidaktik liegt darin, nicht ausschließlich die Herrschergeschichte zu betrachten, das Leben der Monarchen und Fürsten, der Päpste und Bischöfe, sondern das Alltagsleben der ‚gewöhnlichen Menschen‘ (vgl. Lindner/Riegel/Hoffmann, 2013). Die Darstellung des Alltagslebens in historischen Epochen erlebt geradezu eine Hochkonjunktur.

So auch in den vorgestellten Romanen von Silvio Blatter. Das dort entfaltete gegenwärtige Leben spielt sich auf der Ebene der ‚kleinen Leute‘ ab, nicht auf der von gesellschaftsbestimmenden Kräften. Auch die eingespielten historischen Erinnerungen rücken vor allem die einfachen katholischen Bauern ins Zentrum, die gegen die herrschaftlichen Schichten rebellieren. Aus ihrer Sicht erhalten Geschichte und Gegenwart ihr Profil. So wie die Bauern damals, so sind auch die einfachen Leute heute zwar nicht einfach passive Spielfiguren im historischen Geschehen, wohl aber eher Re-Agierende und Betroffene als Strategen und Entscheider. Damit kommt Blatter ungeahnt, aber kaum zufällig der didaktischen Forderung einer Behandlung der – vermeintlichen – „kirchengeschichtlichen ‚Verlierer‘“ (Ruppert/Thierfelder, 1997, 316f.) nach.

3.9. Genderbewusste Geschichtsbetrachtung

Keineswegs allein von feministischer Seite wird seit etwa drei Jahrzehnten eine weitere Forderung erhoben, die der Beseitigung geschlechtsspezifischer Defizite in der Geschichtsbetrachtung und -darstellung (vgl. Bußmann, 1982). Jenseits aller Diskussionen über Reichweite und genaue Ausdifferenzierung des zugrundeliegenden Konzeptes gilt: Ein → genderbewusstes Lehren und Lernen (→ Gender) gehört zu den Grundforderungen an alle didaktischen Konzeptionen (→ Gendersensibler Religionsunterricht), die zukunftsfähig sein wollen.

Übertragen auf unser Beispiel: Zwar herrscht in der „Freiamts-Trilogie“ die männliche Perspektive vor: durch die Person des Autors, seine Prägungen und Blickweisen, seinen männlichen Protagonisten Hans Villiger, den Rückblick auf die männlich bestimmte Revolte. Gleichwohl wird dieser Perspektive in Margrit eine weibliche Protagonistin an die Seite gestellt, die auf ihre Weise Erinnerung und Gegenwartswahrnehmung in die Romane einspielt. Das oben aufgenommene Zitat aus dem Buch Deuteronomium entstand in einer weitgehend patriarchal strukturierten Gesellschaft: „Frag deinen Vater, er wird es dir erzählen“. Die Romane weisen auf die Dringlichkeit einer Ergänzung: „Frag deine Mutter, sie wird es dir erzählen“. Zumindest tendenziell „lernen Frauen anders“, in ihrer „Orientierung an Personen und ihren Konflikten, an Beziehungen zwischen historischen und gegenwärtigen Personen und Fragestellungen“, in einer an „Konkretion und Ganzheitlichkeit interessierten Methodik“ (Leewe, 2007, 346) – so lauten erste Zwischenbilanzen der Genderforschung.

3.10. „Gefährliche Erinnerung“

Bei all den genannten literarisch-religionsdidaktischen Prinzipien geht es nicht um Nebensächliches. Geschichtsdeutung und Geschichtsforschung dienen der Gestaltung der Zukunft. Im Sinne von Johann Baptist Metz kann die Besinnung auf Geschichte dabei zur „gefährlichen Erinnerung“ (Metz, 1977, 112) werden, wenn der Blick zurück zur kritisch-herausfordernden Kontrastfolie der Gegenwart wird. Silvio Blatters „Freiamts-Trilogie“ dient so nicht nur der Besinnung auf die Erzählgegenwart der 1970er und 1980er Jahre, sondern allgemein der – einer Figur aus einem jüngeren Roman in den Mund gelegten – Frage, „wie einem der Glaube abhanden gekommen war“ (Blatter, 2004, 38). Und der Möglichkeit, ob nicht das „zunehmende Heimweh“ letztlich doch noch ungeahnte Potenziale entfalten kann.

4. Ausblick: Literarisch erschließbare Themenfelder

Kirchengeschichtliches Lernen durch belletristische Literatur – das ist gewiss kein Patentrezept. Aber es ist eine zu selten genutzte Variante in Ausbildung und Unterricht. Es ist gewiss nicht der Hauptweg (kirchen-)historischer Forschung und (kirchen-)geschichtlichen Unterrichtens (→ Kirchengeschichtsdidaktik), aber eine Ergänzung, die angesichts der damit verknüpften didaktischen Chancen vor allem dem empirisch belegten Motivationsdefizit der Lernenden, sich mit kirchengeschichtlichen Themen im Religionsunterricht zu befassen, entgegensteuern kann.

Beispiele und Anwendungsbereiche dazu finden sich jedenfalls in Fülle. Nur wenige (vgl. Langenhorst, 2014) seien genannt:

  • Zur Veranschaulichung der inneren Dramatik der Missionierung Lateinamerikas legt sich eine Passage aus Reinhold Schneiders Erzählung „Las Casas vor Karl V“ (1938) nahe.
  • Leben, Wirkung und Prägekraft des heiligen Franziskus lassen sich über Bodo Kirchhoffs Roman „Die Liebe in großen Zügen“ (2012) erschließen.
  • Eine Annäherung an Johanna von Orléans als Repräsentantin der Heiligenverehrung (→ Heilige) wird herausfordernd möglich über den postmodernen Roman „Johanna“ (2006) der Georg-Büchner-Preisträgerin von 2012, Felicitas Hoppe.
  • Ein Blick auf Thomas Morus und die Märtyrerproblematik erschießt sich mit Hilfe von T. S. Eliots Drama „Mord im Dom“ (1935).
  • Vielfältig sind die Möglichkeiten einer Annäherung an die Ereignisse der → Reformation: Sei dies über das Drama „Luther“ von John Osborne (1961), über Waltraudt Lewins „Feuer. Der Luther-Roman“ (2014) oder über den Wiedertäuferroman „Kristus“ des Österreichers Robert Schneider (2004).
  • Ein Blick auf die Veränderungen im alltagspraktischen Leben von Katholiken im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils wird in den Romanen von Ralf Rothmann – 2014 mit dem „Kulturpreis der Deutschen Katholiken“ ausgezeichnet – möglich, vor allem in „Junges Licht“ (2004).
  • Die Entwicklung des Katholizismus im Rheinland in den letzten 100 Jahren lässt sich an den autobiographischen Romanen von Ulla Hahn – von „Das verborgene Wort“ (2001) bis „Spiel der Zeit“ (2014) – nachzeichnen.
  • Die Veränderungen des Priesterbildes in den letzten 50 Jahren werden deutlich in dem Roman „Gottesdiener“ (2004) von Petra Morsbach oder in „Der Seiltänzer“ (2011) von Michael Göring.
  • Entsprechende Veränderungen im Leben evangelischer Pfarrerinnen und Pfarrer werden erzählt in Dieter Wellershoffs Roman „Der Himmel ist kein Ort“ (2009), oder Ulrike Draesners „Vorliebe“ (2010).
  • Das Leben von Juden der jetzigen Generation im deutschsprachigen Raum wird erzählt etwa in Benjamin Steins Roman „Die Leinwand“ (2010), oder Lena Goreliks Roman „Hochzeit in Jerusalem“ (2007).
  • Als Beispiel der ganz neu aufblühenden muslimisch-deutschen Literatur (vgl. Gellner/Langenhorst, 2013) legt sich Navid Kermanis 1.000-Seiten-Werk „Dein Name“ (2011) nahe.

Und damit sind nur einige Bereiche möglichen literarisch-kirchengeschichtlichen Lernens benannt. Aus Geschichte lernen, aus Geschichten lernen? Die interdisziplinäre Forschung im Brennspiegel von Kirchengeschichte, Literaturwissenschaft und Religionsdidaktik hat fraglos noch zahlreiche reizvolle Felder vor sich. Das Ausarbeiten konkreter Lernprozesse müsste sicherlich noch einmal neu die Problematik von Literaturdidaktik im Zeitalter wachsenden Widerstands gegen das Lesen und wachsender Unfähigkeit zum Lesen literarischer Texte bedenken. Zudem bedarf das Verhältnis von Fiktion und Faktenorientierung der systematisierenden Klärung. Des Weiteren ginge es darum, die Matrix der oben dargestellten zehn didaktischen Grundprinzipien realistisch und produktiv mit den Bildungsbedürfnissen heutiger Lernender zu korrelieren (→ Korrelation).

Literaturverzeichnis

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  • Blatter, Silvio, Das sanfte Gesetz. Roman, Frankfurt a. M. 1988.
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  • Böll, Heinrich, Die „Einfachheit“ der „kleinen“ Leute. Schriften und Reden 1978-1981, München 1985.
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  • Gellner, Christoph/Langenhorst, Georg, Blickwinkel öffnen. Interreligiöses Lernen mit literarischen Texten, Ostfildern 2013.
  • Gruber, Bernhard, Kirchengeschichte als Beitrag zur Lebensorientierung. Konzept und Modelle für einen aktualisierenden Kirchengeschichtsunterricht, Donauwörth 1995.
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