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Kirchengeschichte im Religionsunterricht der Primarstufe

(erstellt: Februar 2019)

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1. Kirchengeschichte in der Grundschule – lebensweltliche Verortungen

Lebensweltliche Anknüpfungspunkte für Kirchengeschichte in der Grundschule zu benennen, scheint angesichts der Heterogenität und Pluralität der kindlichen Lebenswelten nicht so einfach auf der Hand zu liegen. Die Prägungen durch die eigene → Familie, die unmittelbaren Milieus und die regionalen Kontexte (z.B. hinsichtlich der Sichtbarkeit anderer Religionen im Alltag) verweisen auf den ersten Blick vor allem auf Unterschiede.

Wenn wir dennoch versuchen, kirchengeschichtliche Anknüpfungspunkte im Alltag mit Kinderaugen zu entdecken, können wir bei näherem Hinsehen einige Themen benennen, die dialogoffen interpretiert werden können. Diese Themen knüpfen an Alltagswahrnehmungen an, die vielleicht erst auf den zweiten Blick mit Kirchengeschichte verbunden werden können. Das, was diese Themen zu Themen der Kirchengeschichte macht, sind Fragen nach den Hintergründen und Entstehungskontexten: Warum ist etwas so oder so vorhanden? Wie ist es entstanden? Wann ist es entstanden? Welche Bedeutung hat etwas aus der Perspektive von damals und in meinem Kontext heute? Diese Fragen bilden dann eine Brücke von Alltagswahrnehmungen zu kirchengeschichtlichen Themen in der Grundschule. Der Religionsunterricht wird dann als ein Ort verstanden und wichtig, an dem die Entstehung und die Bedeutung von solchen Alltagsthemen angesprochen, erläutert und aufgearbeitet werden können (Schreiber, 2008, 64). Es geht darum, Alltagserfahrung transparent und erklärbar zu machen. Um diese Aufgabe zu erläutern, sollen drei Beispiele solcher lebensweltlichen Verortungen aufgezeigt werden:

Ein erster Alltagshorizont von Kindern im Grundschulalter ist der sich entwickelnde Zeithorizont. Kinder erfahren Zeit im Wandel der Jahreszeiten von Kälte und Wärme, von Winter, Frühling, Sommer und Herbst. Das Ordnungsschema, das die Kirchen für die Strukturierung der Zeit anbieten, ist das des Kirchenjahres. „Religionswissenschaftlich gesehen verbindet das Kirchenjahr in einmaliger Weise die Erinnerung an das Handeln Gottes in der Geschichte mit den Veränderungen des Naturjahres“ (Grethlein/Lück, 2006,186). Im Kirchenjahr werden an verschiedenen Punkten Feste gefeiert, die erst in einer kirchengeschichtlichen Rückbindung ihre tiefere Bedeutung entfalten.

Klassisches Beispiel hierfür ist das Martins-Fest, das mit den lebensweltlichen Inszenierungen (vom Nachspielen der Mantelteilung Martins in Kindergruppen bis hin zu großen Martinsumzügen mit Pferd und Reiter in der Stadt) geradezu auf eine kirchengeschichtliche Aufarbeitung angewiesen ist (Veit, 1988, 8-23). Die Bedeutung auch anderer Zeiträume und Zeitpunkte im Jahr wie beispielsweise der Nikolaustag (Wer war denn dieser Nikolaus?) oder auch die Adventszeit (Woher kommt der Adventskranz?) erschließen wir erst durch eine kirchengeschichtliche Rückbindung. Das Kirchenjahr bietet als Ordnungsschema von Zeit und Festzeit eine mögliche lebensweltliche Verortung von Kirchengeschichte in der Grundschule. Kinder können durch die Verknüpfung des zyklisch erlebten Kirchenjahres mit der kirchengeschichtlichen Verankerung und Bedeutung der Feste eine erste Begegnung mit dem geschichtlichen Denken und Verstehen machen. Denn Kinder wissen „um das Erinnernkönnen der Vergangenheit“ (Schreiber, 2008, 64).

Eine andere Verortung ist mit der Raumerfahrung verbunden (Leppin, 2007, 316). In (fast) allen Orten im europäischen Kontext findet sich ein Kirchengebäude. Was sind das aber für Häuser mit einem so komischen Turm, an dessen Spitze ein Kreuz oder ein Hahn sichtbar ist? Wer wohnt denn da? Und wenn ich da mal reingehe: Wie kann ich es verstehen, dass da viele Bankreihen nach vorne auf einen Tisch hin angeordnet sind, auf dem ein Kreuz steht? Fragen wie diese – so banal sie vielleicht für manche Erwachsenenohren klingen mögen – haben für Kinder eine grundlegende Bedeutung in der Wahrnehmung von etwas Fremden, etwas, das anders ist als die eigene Wohnung. Kirchengebäude aber haben Geschichte. Sie sind zu einem bestimmten Zeitpunkt gebaut worden. Diese Gebäude und vielleicht auch Denkmäler und Bilder beispielsweise von Martin von Tours oder von Martin Luther bilden aus Kinderaugensicht zunächst einmal eine Fläche des Fremden (→ Fremdheit als didaktische Aufgabe). Egal ob über eine Beschäftigung mit der Geschichte des Kirchengebäudes vor Ort oder mit einzelnen Figuren (Namen), die mit der Kirche verbunden sind – auch über diese Raumerfahrung eröffnen sich Zugänge für die Geschichte der Kirche (Görnandt, 2008, 236-243).

Ein drittes Beispiel für den Alltagshorizont ist schließlich die Trägerschaft von sozialen Einrichtungen: von Kindergärten, Schulen oder von Krankenhäusern und Seniorenstiften. Was hat es zu bedeuten, dass die katholische oder evangelische Kirche Trägerin eines Krankenhauses ist? Und warum helfen Menschen im Namen der Kirche beispielsweise im Rahmen der Caritas oder der Diakonie (→ Caritas – Diakonie) überhaupt anderen Menschen? Hier zeigt sich eine weitere mögliche Brücke zwischen der Alltagserfahrung von Kindern und der Geschichte der Kirche, wenn wir diese Institutionen der Kirchen und deren Unterstützungsangebote als etwas betrachten, das sich in der Geschichte der Kirche entwickelt hat. Dies kann über Personen wie Martin von Tours, Franziskus von Assisi, Elisabeth von Thüringen bis hin zu Johann Hinrich Wichern und → Mutter Teresa anschaulich werden, aber auch über die Beschäftigung mit einzelnen Institutionen und deren Entstehungsgeschichte (Collmar/Noller, 2007, 364). Auf den zweiten Blick wird somit deutlich, wie und auf welche unterschiedliche Weise Kirchengeschichte mit der Alltagserfahrung von Kindern im Grundschulalter verbunden werden kann.

2. Kirchengeschichte in der Grundschule – wissenschaftliche Klärungen

Die wissenschaftlichen Klärungen müssen eine Balance herstellen zwischen dem Sachbezug einerseits und dem Adressatenbezug andererseits. Diese Balance wiederum muss in Beziehung gesetzt werden zu den Aspekten, wie → Kirchengeschichte speziell als Thema des Religionsunterrichts in der Grundschule begründet werden kann. Letztlich kommt es darauf an, die Begründung von der Balance her zu verstehen und nicht umgekehrt. Von daher ergibt sich die Reihenfolge, zunächst nach der angesprochenen Balance zwischen Sache und Adressat und erst dann nach den Begründungsmöglichkeiten zu fragen.

2.1. Kirchengeschichte in der Grundschule – zwischen Sachbezug und Adressatenbezug

Der Umgang mit Geschichte im Allgemeinen und mit Kirchengeschichte im Besonderen wird mitbestimmt vom Standpunkt derjenigen, die in einem bestimmten zeitlichen Kontext stehend auf Vergangenes blicken. Von dieser Perspektive aus haben die Lehrenden im Hier und Jetzt Verantwortung dafür zu tragen, was wie als Impuls in den Unterricht eingebracht wird. Peter Biehl gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken: „Für die Auswahl kirchengeschichtlicher Themen erweist sich das Exemplarische (Repräsentative) als eine sachgemäße didakt[ische] Kategorie“ (Biehl, 2007,145).

Für die Didaktik der Kirchengeschichte in der Grundschule ist die Frage nach der kirchengeschichtlichen Standortbestimmung vor allem mit Blick auf den Umgang mit vorbildhaften Personen von großer Bedeutung. Am Beispiel der Person Martin Luther kann man sich sehr anschaulich vor Augen führen, wie sich die Bilder von Person und Werk im Laufe der Jahrhunderte gewandelt haben. Diente er in früheren Zeiten (in protestantischen Gegenden) als nicht hinterfragbare Identifikationsfigur für eine protestantische Alltagskultur, so wird sein Werk seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stärker als früher in seinen Ambivalenzen (z.B. mit Blick auf seine Haltung gegenüber Juden oder gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen im Bauernkrieg) wahrgenommen. Eine einfache Ausrichtung an Helden aus der Geschichte des Christentums stößt gerade angesichts der zunehmenden religiösen → Pluralisierung des Alltags auf Schwierigkeiten. Einerseits bieten sich Figuren wie Martin Luther weiterhin als Orientierungsmodelle und Zugänge zum Verständnis dessen, was das Christentum ausmacht, an. Das Lernen an solchen Modellen ist anschaulich und bietet vielseitige, auch praktisch didaktische Anknüpfungspunkte (Hilger/Lindner, 2008, 202f.). Andererseits kann die Bezugnahme auf solche Personen nicht mehr ungebrochen geschehen. Gerade mit Blick auf das Lernen von Kindern im Grundschulalter, bei dem das Lernen am Modell eine naheliegende didaktische Möglichkeit darstellt, ist so immer mit der Frage umzugehen, welches Ausmaß an Identifikation möglich und welcher Grad an kritisch-abwägender Reflexion zu dieser Person notwendig ist. Wie dies geschehen kann, wird von Fall zu Fall zu prüfen sein. Die Inhalte der Kirchengeschichte für Kinder in der Grundschule sind damit nicht nur in der Auswahl, sondern vor allem auch in der Art und Weise der Präsentation bzw. Erarbeitung von den Lehrenden kritisch zu verantworten.

Eine besondere Herausforderung für den Umgang mit Kirchengeschichte resultiert aus dem Umstand, dass im Anschluss an die grundsätzlichen Überlegungen der → Kindertheologie den Kindern selbst eine Interpretationskompetenz hinsichtlich kirchengeschichtlicher Themen zugeschrieben werden sollte. Im Unterschied zu anderen, allgemein existentiellen Fragen wie denen nach der Existenz Gottes, nach dem menschlichen Glück oder auch nach Tod und Trauer setzt der Unterricht in Kirchengeschichte in der Regel bei einem unterrichtlichen Impuls „von außen“ ein. Auch wenn es verschiedene lebensweltliche Verortungen gibt, werden Themen wie zum Beispiel die Strukturierung der Zeit durch das Kirchenjahr, die Bedeutung von Gebäuden (Kirchen) oder Denkmälern sowie die Begründung von → Nächstenliebe in der Regel nicht von Kindern angestoßen. Solche Themen werden zu Themen des Unterrichts erst durch einen Impuls von Seiten der Lehrenden (Ruppert, 2008, 152f.).

In Aufnahme der Unterscheidung einer Theologie von Kindern, einer Theologie mit Kindern und einer Theologie für Kinder wird bei kirchengeschichtlichen Themen in der Grundschule zumindest der Schwerpunkt auf eine Theologie für Kinder gelegt werden müssen. Der Ansatz „für“ betont dabei, dass bei kirchengeschichtlichen Themen der Ausgangsimpuls in der Regel von den Lehrenden zu kommen hat. Dementsprechend wird der bereits genannten Auswahl und Präsentation größte Bedeutung beizumessen sein. Gerade für kirchengeschichtliche Themen gilt es, „sinnvolle Anforderungssituationen [zu] konzipieren, die Kinder theologisch herausfordern, aber auch bei der Entfaltung von Fragekompetenzen unterstützen“ (Zimmermann, 2015). Die Impulse der Lehrenden müssen „eine Wissensbasis vermitteln, die komplexeres und kreatives theologisches Denken beim Theologisieren ermöglicht und versuchen, diese Kompetenzförderung langfristig und nachhaltig anzulegen, um damit Zufälligkeit zu minimieren“ (Zimmermann, 2015).

Vor diesem Hintergrund kann sich dann eine Theologie mit Kindern entwickeln, um von dort aus die Theologie von Kindern zu fördern. Eine solche Kompetenzförderung kann charakterisiert werden als historisch rückgebundene Sprachkompetenz. Verdeutlicht an einem Beispiel: Kinder können sprachfähig gemacht werden zur historischen Grundlage von Sankt Martin, indem die spielerisch dargestellten Szenen historisch rückgebunden und systematisch aufgearbeitet (Begründung christlicher Zuwendung zum Nächsten) werden (Rosen, 2016, 223f.). Die theologische Leistungsfähigkeit von Kindern im Grundschulalter bekommt – bei allen noch ausstehenden Entwicklungsprozessen des Zeitverständnisses insgesamt – durch die Beschäftigung mit Kirchengeschichte eine sachlich fundierte Tiefendimension.

Insgesamt sind ein kritisch-reflektierter Sachbezug einerseits und die Adressatenperspektive (theologische Kompetenz von Kindern) immer wieder neu in eine Balance zu bringen.

2.2. Kirchengeschichte in der Grundschule – Begründungsstrukturen

Die Unterscheidung einer geschichtskulturellen Dimension, einer theologischen Dimension und einer bildungstheoretischen Dimension (→ Kirchengeschichtsdidaktik) bei einer Begründung der Bedeutung von Kirchengeschichte im Religionsunterricht soll vor dem Hintergrund der skizzierten Balance hier auf die Grundschule hin akzentuiert werden.

Die mit der geschichtskulturellen Dimension verbundene These, dass Religionsunterricht mit religiösen Kultur- und Wissensbeständen vertraut machen soll, kann im Rahmen der Grundschule auf die Anbahnung und Förderung einer elementaren religiösen Sprachkompetenz bezogen werden. Eine solche Sprachkompetenz äußert sich vor allem darin, dass ein Verständnis dafür geweckt wird, dass Feste und Zeiten (St. Martin und Reformationstag), Gebäude und soziale Strukturen (Caritas, Diakonie) eine Geschichte haben. Aus der Geschichte lässt sich einerseits lernen, dass es Gründe gab, warum diese Dinge entstanden sind, vor allem aber auch die Einsicht an sich, dass diese Dinge kulturell geworden sind (Dam, 2016, 120). So wie Feste, Zeiten, Gebäude und soziale Strukturen Ausdruck von Kultur sind, kann zugleich vermittelt werden, dass sie Ausdruck einer bestimmten Kultur, „unserer“ Kultur sind. Das hat seine guten Gründe und Berechtigung, verweist zugleich aber darauf, dass einige Menschen mit diesen kulturellen Prägungen erst einmal nichts anfangen können. Dies wirft die Frage nach dem Verhältnis von Gemeinsamkeiten und Differenzen in der Alltagswahrnehmung auf. Durch die Beschäftigung mit Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den christlichen Kirchen kann ein erster Zugang für die Auseinandersetzung mit Andersheit und Gemeinschaft erfolgen. Gerade das geschichtskulturelle Argument für Kirchengeschichte enthält den Auftrag, die persönliche Prägung einerseits durch Nachdenken zu festigen, andererseits jedoch auch über Möglichkeiten und Grenzen der Öffnung für Fremdes nachzudenken. Heidrun Dierk spricht im Anschluss an Bodo von Borries davon, dass das Ziel historischen Lernens eine „Sinnbildung durch Fremdverstehen“ sein kann (Dierk, 2005, 251).

Das theologische Argument, dass die Beschäftigung mit Kirchengeschichte dazu verhilft, sich der Grundlagen des eigenen, christlichen Glaubens zu vergewissern, trifft in der Grundschule sowohl sachlich als auch entwicklungspsychologisch auf die Ambivalenz, kindliche und theologische Wahrheit in ein Verhältnis zu setzen. Auf der einen Seite ist es der Sachbezug, über eine geschichtliche Dimension grundlegende Informationen in das Verständnis der eigenen Religion einzubauen. Die Bedeutung des Papsttums im römischen Katholizismus und die Gründungserzählungen um Martin Luther im Protestantismus sind dabei hervorzuheben. Eine besondere Rolle kommt dabei jedoch der ökumenischen Thematisierung von gemeinsamen Grundlagen aller christlichen Konfessionen zu, da neben die Binnendifferenzierung im Christentum im lebensweltlichen Alltag vieler Kinder vor allem die Differenz christlich gegenüber „nicht-christlich“ (in den unterschiedlichen Ausprägungen zwischen Islam, Judentum und Säkularität [→ Säkularisierung]) getreten ist.

Der bildungstheoretische Gesichtspunkt, dass Kirchengeschichte wesentlich zur Erweiterung der Deutungskompetenz von Alltag beizutragen vermag, kann an die lebensweltlichen Verortungen anknüpfen. Die Auseinandersetzung mit dem Handeln einzelner Personen aus der Geschichte der Kirche eröffnet dabei die Möglichkeit, sich gedanklich und gegebenenfalls spielerisch in einen bestimmten Blick auf die Welt hineinzuversetzen. In diesem Sinne kann man davon sprechen, dass sich in einem solchen Unterricht „die Lernenden gewissermaßen probehalber die religiöse Brille anderer Menschen aufsetzen, die Christsein gelebt haben. Dies wiederum bietet Einblicke in Motivationen und Möglichkeiten, Leben aus christlich-religiöser Weltdeutung heraus zu gestalten“ (Lindner, 2015).

3. Kirchengeschichte in der Grundschule – religionsdidaktische Überlegungen

Anknüpfungspunkte für die konkrete Gestaltung kirchengeschichtlicher Themen in der Grundschule (→ Kirchengeschichte) gibt es sehr unterschiedliche. Denkbar ist ein Ansatz bei der Zeiterfahrung beispielsweise in der Weihnachtszeit. Fragen wie die nach der Herkunft von Adventskranz oder Weihnachtsbaum (in vielen Innenstädten sichtbar) bieten Brücken in die Alltagswahrnehmung. Aber auch ortsbezogene Erkundungen von Kirchenräumen (→ Pädagogik des Kirchenraums/heiliger Räume) oder sozialen Einrichtungen bieten Ansatzmöglichkeiten, die historische Dimension von Kirche und Christentum in den Unterricht einzubringen. Bei alledem spielt die Frage, welches theologische Konzept die Lehrenden vertreten, eine mitentscheidende Rolle. Nachfolgend soll im Anschluss an eine ökumenisch-konfessionssensible Kirchengeschichtsdidaktik für die Grundschule die Möglichkeit eines Lernens am Modell exemplarisch an zwei Gestalten der Kirchengeschichte durchdacht werden. Ein Religionsunterricht, der in seiner kirchengeschichtlichen Ausrichtung sowohl der römisch-katholischen als auch der evangelischen Kirche gerecht werden möchte, kann sich inhaltlich beispielsweise an dem Heiligen Martin von Tours einerseits und dem Reformator Martin Luther andererseits orientieren. Die beiden Figuren prägen das kulturelle Leben in Deutschland bis auf den heutigen Tag. Zahlreiche Kirchen, Schulen und Straßen sind nach ihnen benannt. Im Kirchenjahr wird den beiden Martins (31.10. und 11.11.) gedacht. Didaktisch-methodisch sollte ein Unterricht mit dem Thema Martin von Tours und Martin Luther im Rahmen des Konzepts eines Lernens am Modell sicherstellen, dass die Lebenswege nicht ohne kritische Reflexion weitererzählt werden. Entsprechend einer kompetenzorientierten Unterrichtsgestaltung wird hierbei vor allem auf einen kritisch anfragenden Umgang mit der jeweiligen Lebensgeschichte zu achten sein.

3.1. Martin von Tours

Bei der Thematisierung von „Sankt Martin“ (316/17-397) könnten folgende Erzählpunkte dem ökumenischen Grundgedanken einer Suche nach Gemeinsamkeiten und Differenzen im christlichen Glauben Anstöße geben.

Im kulturellen Gedächtnis spielt die Szene der Begegnung des Soldaten Martin mit dem frierenden Bettler vor dem Stadttor von Amiens eine bedeutende Rolle.

Die erschreckende Armut des Bettlers, der dem Soldaten bittend gegenübertritt, erweckt die Aufmerksamkeit und das Erbarmen mit dem Bedürftigen. Martin, der mit einem stattlichen Soldatenmantel bekleidet war, nimmt sein Schwert und teilt den Mantel in zwei Teile, damit er den Bettler mit der Hälfte seines Mantels bekleiden und so vor dem Tod durch Erfrieren retten kann. Diese Handlung führt zum Gespött seiner Kameraden und nach der Überlieferung zu einem nächtlichen Traum, bei dem ihm Christus als Bettler erscheint, der die Mantelhälfte trägt (Rosen, 2016, 223).

Der Lebensweg, der von Sulpicius Severus noch zu Lebzeiten von Martin in einer Vita festgehalten worden ist, mündet darin, dass Martin den Kriegsdienst verlässt und schließlich soziale Verantwortung in einem Bischofsamt übernimmt (Rosen, 2016,19).

Interessant an dem „Modell“ von Martin von Tours ist die Tatsache, dass er sich nicht den Herausforderungen verweigert, sondern sich ihnen stellt und dabei das Gebot der Friedfertigkeit und Barmherzigkeit zum Maßstab macht. In dieser Hinsicht kann der Heilige aus Tours heute ein Modell der Ermutigung zur Aufmerksamkeit gegenüber dem Nächsten sein.

3.2. Martin Luther

Bei Martin Luther rückt die Frage nach dem Maßstab, mit dem ein Mensch sein Leben bewertet, auf andere Weise in den Mittelpunkt. Insbesondere die Frage nach der Bedeutung der eigenen Leistung (und deren Grenzen) spielt dabei eine zentrale Rolle.

Mit Martin Luther (1483-1546) begegnet uns ein Mensch auf der Suche nach einem gnädigen Gott in einer Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit. Seine Suche führt den Studenten der Rechtswissenschaften zunächst in das Augustinerkloster nach Erfurt. Dieser Weg, der in der Hoffnung beschritten wird, Gott durch gute Taten und asketisches Leben zu gefallen, führt den Augustinermönch zu der für ihn befreienden Erkenntnis, dass der Mensch Gott nicht genügen kann, aber ihm eben auch nicht zu gefallen braucht, weil er ohne jede Vorbedingung von Gott als geliebtes Geschöpf angenommen ist. Die Erkenntnis der Rechtfertigung seiner Person durch Gott bestärkt Luther darin, einen Weg zu beschreiten, der zu einer beständigen Auseinandersetzung mit den Mächtigen seiner Zeit in Kirche und Staat (Papst und Kaiser) führt. Trotz der Gefährdung seines Lebens wagt er in der Berufung auf die Heilige Schrift den Protest, der uns u.a. durch den Ausspruch überliefert ist: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.“ Nicht die Maßstäbe der damaligen geistlichen und weltlichen Macht leiten sein Handeln, sondern die Spielregeln der Heiligen Schrift.

Vom „Modell“ Martin Luther aus, kann mit den Kindern das Nachdenken über die Maßstäbe für das eigene Handeln und Verhalten angestoßen werden.

4. Ausblick

Kirchengeschichte als Thema des Religionsunterrichtes verlangt nach einer Didaktik, in der Vergangenes für die Gegenwart in neuer Form Bedeutung gewinnen kann. Heute stellt sich mit Blick auf das in der Grundschule verbreitete Lernen an Beispielgestalten und Beispielgeschichten die Frage: Wie ist heute umzugehen mit den „großen Gestalten“ der Kirchengeschichte? Zunächst einmal scheinen diese Persönlichkeiten von der Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler weit entfernt zu sein. Warum sollten sie dennoch ihren Platz im Religionsunterricht finden? Hans Mendl beantwortet diese Frage mit dem Verweis auf die Eröffnung einer „kulturgeschichtlichen, gesellschaftlichen und anthropologischen Lernperspektive“, jedenfalls dann, wenn die „großen Gestalten“ geerdet werden (Mendl, 2015,151). Wie kann das gelingen? Eine Möglichkeit sieht Mendl in der „Thematisierung von Konflikt- und Entscheidungssituationen aus dem Leben dieser Personen“ (Mendl, 2015, 151). Das Nachdenken über Dilemma-Situationen, in denen die großen Gestalten gestanden haben, ermögliche ihre Erdung und damit ihre Anschlussfähigkeit an heutige Fragestellungen. So führt Mendl beispielsweise in Hinblick auf Martin Luther aus: „Gerade von den Anforderungen der heutigen Leistungsgesellschaft aus, die sich auch im Schulalltag manifestiert […] lassen sich durchaus stimmige Parallelen zu Luthers Grundfrage ‚Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?‘ herstellen und didaktisch inszenieren“ (Mendl, 2015, 144f.). Die Verbindung von kirchengeschichtlicher Theologie mit den Alltagserfahrungen der Kinder bleibt in diesem Sinne zugleich Maßstab und immer wieder neue Herausforderung für den Religionsunterricht in der Grundschule.

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