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Kindergottesdienst, evangelisch

(erstellt: Februar 2017)

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1. Kindergottesdienst – wichtig und wenig beachtet

Unstrittig ist die Teilnahme am Kindergottesdienst als einer ritualisierten, gemeinschaftlichen Form der Kommunikation des Evangeliums bedeutsam für die christliche Sozialisation von Kindern. Auch sind Kinder die einzige Personengruppe, die nach neutestamentlichem Zeugnis eine besondere Nähe zum Reich Gottes hat (Mk 10,13-16; Grethlein, 2010, 10f.). Doch wird dem Kindergottesdienst weder in der Liturgik noch in der Praktischen Theologie besondere Aufmerksamkeit geschenkt.

Es ist zu vermuten, dass sich in dieser Diskrepanz die Segregation von Kindern in unserer Gesellschaft widerspiegelt. Grundlegende Funktionssysteme wie Verkehr, Ökonomie und weite Teile des Freizeitangebots exkludieren Kinder. Diese Tendenz wird lebensweltlich dadurch verstärkt, dass zunehmend weniger Menschen in einem Haushalt mit Kindern leben. Von daher impliziert die Beschäftigung mit dem Kindergottesdienst eine kulturkritische Dimension (Grethlein, 2010, 127-130).

2. Zur Geschichte des Kindergottesdienstes

Lange Zeit nahmen Kinder selbstverständlich am Gottesdienst und allen seinen Vollzügen teil (Bottermann, 1982) (→ Kindergottesdienst, katholisch). Die Industrialisierung und mit ihr verbundene Probleme führten am Anfang des 19. Jahrhunderts in England zur Einrichtung von sonntäglichen „Charity Schools“ mit diakonisch-elementarpädagogischer Ausrichtung (auch Blue Coat Schools; zum Folgenden: Berg, 1987; Kim, 2011). In den USA transformierten sie sich zur katechetisch ausgerichteten Sunday School. Sie vermittelte seit 1863 der amerikanische Kaufmann Albert Woodruff (und sein deutscher Übersetzer und Begleiter Wilhelm Bröckelmann) nach Deutschland.

Die ursprünglich von Laien getragene Bewegung wurde hier verkirchlicht. Aus Sonntagsschullehrerinnen und -lehrern wurden Helferinnen und Helfer, Pfarrer übernahmen die Leitung. Der katechetische Grundzug wich einer liturgischen Ausrichtung: Die Sonntagsschule wurde zum Kindergottesdienst. Doch blieben die Akzente des Diakonisch-Sozialpädagogischen sowie des Katechetischen latent erhalten – und konnten so später wieder reaktiviert werden.

Vor allem in der Weimarer Republik erlebte der Kindergottesdienst in Deutschland eine einmalige Blüte. So feierten 1925 sonntäglich durchschnittlich 1.200.000 Kinder, begleitet von 80.000 Helferinnen und Helfern, einen Kindergottesdienst. Die Herrschaft des Nationalsozialismus brachte hier Einbrüche mit sich (Ratajek-Greier, 2014). Vor allem wurde im Zuge der sog. Gleichschaltung die bisher verbandsmäßig organisierte Arbeit zu einem kirchlichen Handlungsfeld. Dementsprechend verlagerte sich das Interesse auf die Einführung der Kinder in den Sonntagsgottesdienst der Erwachsenen. Die Wort-Gottes-Theologie legitimierte diese Transformation theologisch (z.B. Jordahn, 1950). Noch 1964 gaben die Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Deutschland (VELKD) eine an der Agende 1 orientierte Ordnung für den Kindergottesdienst heraus. Sie war allerdings in der Praxis nicht umsetzbar. Ausbleibende Kinder markierten die Notwendigkeit zum Umdenken. Seitdem ist eine Pluralisierung des Kindergottesdienstes in mehrfacher Hinsicht unübersehbar.

3. Plurale Formen des Kindergottesdienstes

Der Neuansatz verband sich mit der Aufnahme elementar- und sozialpädagogischer Perspektiven und Einsichten in die Konzeptionierung und Gestaltung des Kindergottesdienstes – oder wohl jetzt besser: der Kindergottesdienste. Große Wirkung entfalteten z.B. die unter der Leitung von Wolfgang Longhardt ausgearbeiteten Modelle der Rissener Kindergottesdienstarbeit („Vierzehn Thesen zur Charakteristik der Rissener-Kindergottesdienst-Modelle“, in Auszügen abgedruckt in: Grethlein, 2008, 222f.). Gegenüber dem „traditionellen Kindergottesdienst“ mit seinem Ziel der – späteren – Integration in den sonntäglichen Gottesdienst der Erwachsenen wird hier den Kindern „Hilfe zur Selbstverwirklichung“ gegeben. Sie sollen „mit allen Sinnen […] feiern“; auf ihren „Verstehens- und Erlebensrhythmus“ ist zu achten. So entwickelten sich kreative Gottesdienste. Religionspädagogisch stand dabei die Wende zum thematisch-problemorientierten Unterricht im Hintergrund.

Teilweise wurde der Sonntag als Tag der gottesdienstlichen Versammlung verlassen, weil er mit den Freizeitgewohnheiten der Familien am „Wochenende“ kollidierte, einer seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts allgemein werdenden neuen Zeiteinheit. Auch kamen neue Organisationsformen wie die Kinderbibelwochen in den Blick.

Im Weiteren wurde dieser primär (religions-)pädagogische Zugang durch eine Stärkung der liturgischen Dimension ergänzt, jetzt aber vom Kind her begründet. Das Ineinander von pädagogischen und liturgischen, jeweils an der Lebenswelt der Kinder orientierten Zugängen zeigt sich in dem erstmals 1979 auf EKD-Ebene erschienenen Text-Themenplan. Thematisch traten zu den biblischen Texten Symbole als Inhalte des Kindergottesdienstes hinzu. Gesamtkirchlich regte die EKD-Synode in Halle einen grundsätzlichen „Perspektivwechsel“ kirchlicher Arbeit hinsichtlich der Kinder an. Vor allem sollte das „Lehr-Lern-Verhältnis“ umgekehrt werden (Grethlein, 2010, 18).

Mittlerweile haben sich die Kindergottesdienste weiter verändert (Grethlein, 2008, 227-230). Waren bis in die Siebziger- und Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts vor allem Jugendliche, oft in unmittelbarem Anschluss an ihre Konfirmation, als „Helfer“ tätig, überwiegen jetzt in der Mitarbeiterschaft Erwachsene, meist Mütter (selten Väter) von Kindern, die am Kindergottesdienst teilnehmen. Der Kindergottesdienst wird so zu einem Gottesdienst mit Kindern. Auch verliert der Sonntag(-vormittag) seine lange Zeit selbstverständliche Dominanz. Zum einen bewähren sich mancherorts neue Termine wie Samstagvormittag, zum anderen erscheint der Wochenrhythmus als nicht durchhaltbar. Es wird in größerem, etwa monatlichem Abstand gefeiert. Solche Gottesdienste überschreiten oft den traditionellen Zeitrahmen und sind etwa mit einem gemeinsamen Essen verbunden. Auch kommt es an manchen Orten zu neuen Kontakten mit Kindertageseinrichtungen bzw. Grundschulen, in denen ebenfalls Kinder (Gottesdienst) feiern.

Schließlich sinkt seit einiger Zeit das Alter der mitfeiernden Kinder. So bilden sich auf der einen Seite sogenannte Krabbelgottesdienste (Grundmann, 2010), an denen ganz kleine Kinder teilnehmen. Auf der anderen Seite versuchen manche Gemeinden, besondere liturgische Formen – wie KidsGo – für etwas ältere Kinder vor der Konfirmandenzeit zu etablieren (Ehmann, 1998).

4. Zukünftige Herausforderungen

Theologisch stellt sich das Problem der Separierung der Kinder aus dem sonntäglichen Gottesdienst, der damit vom Gemeinde- zum Erwachsenengottesdienst wird (→ Gottesdienst, evangelisch). Nicht nur aus theologischen (Möller, 1979), sondern auch aus gemeindepädagogischen Gründen ist die Öffnung des Kindergottesdienstes zu einem Gottesdienst mit Kindern zu begrüßen.

Konkret tritt das Problem der Exklusion der Kinder beim Feiern des Mahls zu Tage (Grethlein, 2009). Zwar überwinden zunehmend Kirchen(-gemeinden) die traditionelle Zulassung mit der Konfirmation, doch ist nur selten eine Veränderung der Mahlpraxis zu beobachten, die eine gleichberechtigte Teilnahme von Kindern ermöglichte. Die Teilnahme der Kinder wirft nicht zuletzt die Frage des Sättigungsmahls, also von Eucharistie und Agapefeier, von neuem auf.

Wie schon die EKD-Synode 1994 in Halle ausführte, wachsen Kinder heute in einer „schwierigen Zeit“ auf (Kirchenamt der EKD, 1995). Zwar sind die meisten materiell gut versorgt, doch bleiben ihnen die Unsicherheiten der heutigen Beschleunigungsgesellschaft nicht verborgen. Aus der Fragilität vieler Familien ergibt sich die pädagogische Herausforderung des „Gewährens von Gewissheitserfahrung“ (Grethlein, 2008, 227). Im Feiern können Kinder jenseits aller Verunsicherungen des alltäglichen Lebens die verlässliche Treue Gottes erfahren. Dabei hat die Kontinuität in der Begleitung der Kinder durch eine Mitarbeiterin/einen Mitarbeiter besondere Bedeutung.

Mit Veränderungen im Lebensstil hängt die Frage der liturgischen Zeit zusammen. Zunehmend mehr Kindergottesdienste verlassen den Sonntag und teilweise auch den Wochenrhythmus. Dies ist zunächst meist eine Reaktion auf das veränderte Teilnahmeverhalten. Damit verbundene Veränderungen im Modus des Feierns, etwa längere Zeiten des Zusammenseins, gemeinsames Essen und Trinken, erfordern eine neue Gestaltung des Gottesdienstes. Ist die nur wenig Raum zur aktiven Partizipation gebende, knapp einstündige Veranstaltung am Sonntagmorgen noch zeitgemäß? Wie wird sie sich verändern (müssen), wenn die Kinder herangewachsen sind, die heute durch Kinderbibelwochen oder dreistündige Feiern im Monatsrhythmus, etwa am Samstag, sozialisiert sind?

Schließlich fällt auf, dass die Zahl der Mädchen in den meisten Kindergottesdiensten bzw. Gottesdiensten mit Kindern überwiegt (Schliephake, 2013, 332). Nur wenige Jungen finden den Weg in die Kirche bzw. den Versammlungsraum. Dadurch stellen sich grundlegende Fragen an die konkrete Gestaltung des Feierns, die gegenwärtig offenkundig für Mädchen attraktiver ist als für Jungen (→ Gender).

Literaturverzeichnis

  • Berg, Carsten, Gottesdienst mit Kindern. Von der Sonntagsschule zum Kindergottesdienst, Gütersloh 1987.
  • Bottermann, Maria-Regina, Die Beteiligung des Kindes an der Liturgie von den Anfängen der Kirche bis heute, Frankfurt a. M. 1982.
  • Ehmann, Elfriede, Vom Ki-Go zum Kids-Go, in: Blohm, Johannes/Walter, Ulrich (Hg.), Ich will mitten unter euch wohnen, Stuttgart 1998, 132-134.
  • Grethlein, Christian, Kinder in der Kirche. Eine Orientierung für Mitarbeitende im Kindergottesdienst, Göttingen 2010.
  • Grethlein, Christian, Abendmahl mit Kindern?! Praktisch-theologische Überlegungen, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 106 (2009) 3, 345-370.
  • Grethlein, Christian, Kindergottesdienst, in: Adam, Gottfried/Lachmann, Rainer (Hg.), Neues Gemeindepädagogisches Kompendium, Göttingen 2008, 215-236.
  • Grundmann, Hannegreth, Mit den Kleinsten Gottesdienst feiern, gemeinsam gottesdienst gestalten 16, Hannover 2010.
  • Jordahn, Bruno, Zur liturgischen Gestaltung des Kindergottesdienstes, in: Monatsschrift für Pastoraltheologie zur Vertiefung des gesamten pfarramtlichen Wirkens 39 (1950), 220-236.
  • Kim, Eun-Ju, Kindergottesdienst in der Krise, Norderstedt 2011.
  • Kirchenamt der EKD (Hg.), Aufwachsen in schwieriger Zeit – Kinder in Gemeinde und Gesellschaft, Gütersloh 1995.
  • Möller, Christian, Bekehrung der Väter zu den Kindern, in: Evangelische Kommentare 12 (1979), 34-36.
  • Ratajek-Greier, Gernot, Spagat für den Kindergottesdienst. Der Reichsverband für Kindergottesdienst und Sonntagsschule in der NS-Zeit. Hg. v. Gesamtverband für Kindergottesdienst in der EKD e.V., Münster 2014.
  • Reschke-Rank, Eberhard, Kindergottesdienst in der „Kirche mit Kindern“, in: Spenn, Matthias (Hg. u.a.), Handbuch Arbeit mit Kindern – Evangelische Perspektiven, Gütersloh 2007, 238-244.
  • Schliephake, Dirk, Emotionale Erfahrungen mit Gott ins Spiel bringen. Kindergottesdienst-Impulse zur Liturgie und elementaren Religionspädagogik, in: Pastoraltheologie 102 (2013) 7, 325-336.

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