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Interreligiöses Lernen, Förderschule

Andere Schreibweise: Interreligiöses Lernen Sonderschule

(erstellt: Februar 2016)

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1. Zur Situation des Religionsunterrichts an Förderschulen

Lehr- und Lernprozesse im Religionsunterricht der verschiedenen Formen der Sonderschulen bzw. Förderschulen haben in besonderer Weise → Heterogenität im Blick. Im Folgenden wird der Begriff der Förderschule genutzt, um damit die subjektorientierten (→ Subjekt) und auf die Kompetenzen der Lernenden aufbauenden pädagogischen Anliegen dieser Schulform deutlich zu machen (vgl. beispielhaft für die Körperbehindertenpädagogik Bergeest/Boenisch/Daut 2011, 18-20). Die Spanne an kognitiven, körperlich-motorischen und emotionalen Fähigkeiten kann innerhalb der Lerngruppen sehr groß sein. Daher ist eine „Pädagogik der Vielfalt“ (Biewer, 2010, 190-193; Roebben, 2013, 330) immer schon Teil heil- und sonderpädagogischer Bemühungen.

Die Förderschulen erleben bundesweit in den letzten Jahren einen großen Wandel, der nicht zuletzt mit den Bemühungen um inklusiven Unterricht einhergeht. Es soll im Folgenden allerdings nicht der Diskurs um → Inklusion aufgezeigt werden, sondern es geht darum, Chancen und Grenzen interreligiöser Lehr- und Lernprozesse im Religionsunterricht an Förderschulen allgemein zu skizzieren. Die besonderen Herausforderungen einzelner Förderschwerpunkte können damit lediglich ansatzweise reflektiert werden.

In vielen Bundesländern erfolgt der Religionsunterricht an Förderschulen, vergleichbar demjenigen an berufsbildenden Schulen (→ Interreligiöses Lernen, Berufsbildende Schule), im Klassenverband. Dies ist vielerorts den schulischen Rahmenbedingungen geschuldet. Auch hier spiegelt die in den Klassen vorzufindende Vielfalt an Kulturen und Religionen die gesellschaftliche Realität einer pluralen Gesellschaft. Umso wichtiger wäre hier eine sowohl bildungstheoretisch als auch religionspädagogisch verantwortete Klärung der Frage, wie → religiöse Bildung einerseits aus der Binnenperspektive einer Religion heraus gestaltet und andererseits der auch im Rahmen der Diskussion um Inklusion erhobenen Forderung nach gemeinsamen Unterricht gerecht werden kann. So fragt beispielsweise Sabine Pemsel-Maier kritisch an: „Wie sieht es angesichts der unterschiedlichen rechtlich verbindlichen Erklärungen zur Inklusion mit dem GG Art. 7, Abs. 3 und seiner derzeitigen Auslegung in konfessionsgetrennte Klassen aus? Die Frage nach der Organisation des Religionsunterrichts erhält vor diesem Hintergrund zumindest eine ganz eigene Brisanz“ (Pemsel-Maier, 2014, 296).

2. Interreligiöses Lernen an Förderschulen

Um den Lebensweltbezug (→ Lebenswelt) der in der Regel wenig religiös sozialisierten Schülerinnen und Schüler (→ Sozialisation, religiöse) wahren zu können, ist gerade an dieser Schulform eine enge Verknüpfung von interreligiösem und interkulturellem Lernen sinnvoll. Die Frage, ob und inwiefern Religion und Kultur im Rahmen interreligiöser Bildung zu differenzieren ist, wird im religionspädagogischen Diskurs mit unterschiedlicher Gewichtung beantwortet. So wird sowohl die These vertreten, dass Religion nicht in Kultur aufgehe, sondern einen, nicht zuletzt auch epistemischen Eigenwert besitze (Schambeck 2013, 29; Willems 2011, 63-80;196-200), als auch diejenige, dass Religion sich immer in kultureller Prägung realisiere und daher nicht von Kultur zu trennen sei (Zimmermann, 2015, 11-14; Bernlochner, 2013, 33;148-174).

2.1. Interreligiöses und interkulturelles Lernen im Religionsunterricht

Die Wahrnehmung von Religion in der Alltagskultur eröffnet Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, sich der unsere Gesellschaft prägenden kulturellen wie religiösen Vielfalt bewusst zu werden. Ausgehend von den konkreten Bedingungen der Lerngruppe kann exemplarisch interkulturell und interreligiös gearbeitet werden. Eine solche Verknüpfung ist nicht zuletzt für die Entwicklung von Identität allgemein (Jeltsch-Schudel, 2007, 7-16) und → religiöser Identität im Besonderen von Bedeutung. So ist die „interkulturelle Perspektive auf religiöses Lernen […] der Überlegung geschuldet, dass gerade die Begegnung mit (kulturell und religiös) Anderen zur (Weiter-)Entwicklung der je eigenen Identität beiträgt, da in dieser Begegnung das ‚Eigene‘ irritiert, der Reflexion unterworfen und um diese Erfahrung erweitert wird“ (Hamel/Schreijäck, 2012, 152). Auf diese Weise kann religiöse Urteilskompetenz erworben und vertieft werden, so dass die Lernenden eine eigene begründete Position in Sachen Religion ausbilden können (Pemsel-Maier, 2014, 297). Möglich ist dies, wenn der intraindividuelle Aspekt von Entwicklung (→ Entwicklungspsychologie) allgemein beachtet wird (Bundschuh, 2007, 62). Da auch entwicklungspsychologische Modelle, die für interreligiöses Lernen herangezogen werden können (Sajak, 2013, 342; Tautz, 2007, 311-349; Willems, 2011, 176-203), immer von der individuellen Kompetenzentwicklung der Lernenden ausgehen, müssen auch für die Förderschule allgemein keine schulformspezifischen Schwerpunkte gesetzt werden (Sajak, 2013, 342). Es bleibt aber die Herausforderung, die Komplexität interreligiöser und interkultureller Lernprozesse auf die Bedarfe der Lernenden hin zu elementarisieren (→ Elementarisierung).

2.2. Interreligiöse und interkulturelle Gestaltung der Schulgemeinschaft

Gerade an Förderschulen, die im Vergleich zu vielen weiterführenden Schulen oft eine überschaubare Größe haben, kann → interreligiöses Lernen in den Alltag der Schulgemeinschaft eingebunden werden. Dass so die tragende Kraft der Religionen für ein gelingendes Miteinander in unserer pluralen Gesellschaft aufleuchten kann, belegen gelungene Beispiele im Rahmen des trialogischen Lernens (Sajak, 2013, 329f.).

Ein Differenz wahrnehmendes und achtendes Lernen, das Anerkennung gerade auch bei bewusstem Wahrnehmen der Differenzen anstrebt, muss immer auch eine „Teilhabe an Schulkultur“ (Kammeyer, 2012, 172) insgesamt ermöglichen. Hier ist die konkrete Schule vor Ort gefragt, die je eigene → Schulkultur immer wieder neu zu bedenken und lebendig zu gestalten. Da Religionen gesellschaftliche Pluralität mit prägen und färben, muss für die Schulgemeinschaft auch religiöse Pluralität (→ Pluralisierung) wahrnehmbar sein. Feste bieten sich dafür in besonderer Weise an, da in die projektartige Planung und Gestaltung von religiösen Festen neben den Lernenden, den Lehrenden und den an Förderschulen mitwirkenden therapeutischen Fachkräften auch die Eltern eingebunden werden können.

3. Religionsdidaktische Konsequenzen

Unterschiedliche Formen ästhetischen Lernens (→ Bildung, ästhetische), das Begegnungslernen (→ Interreligiöses Begegnungslernen), symboldidaktisch organisierte Lernprozesse (→ Symboldidaktik) sowie performative Formen des Lernens (→ Performativer Religionsunterricht, evangelisch; → Performativer Religionsunterricht, katholisch) erscheinen besonders geeignet (Mendl, 2008, 274; Sajak, 2013, 342f.; Pemsel-Maier, 2014, 296). Hier bietet sich die Erschließung von Zeugnissen der Religionen (Sajak, 2010) und Räumen sowie die direkte Begegnung mit Menschen (Lähnemann, 2005, 20-24) und gemeinsam gestalteten Festen und Feiern an (Froese, 2003, 156). Im Sinne des Personalisierungsprinzips (Lähnemann; 2005, 21f.; Meyer, 2014, 344-347) können Kinder im Alter bzw. Entwicklungsstand des Primarbereichs und der Orientierungsstufe am Beispiel von Gleichaltrigen typische Situationen gelebter Religion im Alltag miterleben. Fotos und Erzählungen laden zu einer Identifikation ein und ermöglichen im Sinne performativen Lernens einen einfühlenden und – je nach entwicklungsbedingten Voraussetzungen auch – reflektierenden Zugang (Meyer, 2006; 2008).

Um ästhetische Zugänge zum Lerngegenstand mit reflektierenden Phasen sinnvoll zu verknüpfen, hat sich eine Differenzierung nach vier Zugangs- und Aneignungsformen als hilfreich herausgestellt: ein basal-perzeptives, ein konkret-handelndes, ein anschaulich-modellhaftes sowie ein abstrakt-begriffliches Vorgehen (Schweiker, 2012, 200-202).

Gleichsam das tägliche Brot der Lehrenden an Förderschulen ist innere Differenzierung. Auch im Religionsunterricht sind daher offene Lernformen und Freiarbeit gleichermaßen notwendig wie sinnvoll. Damit diese gelingen können, sind lebensweltliche und lebensgeschichtliche Alltagserfahrungen der Lernenden bei der Planung des Unterrichts sowie während der Prozesse interreligiöser und interkultureller Begegnung zu berücksichtigen (Müller-Friese/Leimgruber, 2002, 368).

Für die Förderschwerpunkte Lernen sowie geistige Entwicklung sind Texte auf ihre Anschlussfähigkeit an die Verstehensvoraussetzungen der Lernenden zu überprüfen. Diese grundsätzliche Herausforderung für die Arbeit von Sonderpädagogen spitzt sich bei Prozessen interreligiösen und interkulturellen Lernens insofern noch einmal zu, als Texte von den Lehrenden erst dann in leichte Sprache transformiert werden können, wenn der Sachverhalt durchdrungen ist. Erst dann kann die Komplexität interreligiöser Zusammenhänge sprachlich so dargestellt werden, dass sie für die Schülerinnen und Schüler verständlich werden und ein Mitdenken angeregt werden kann. (Für Lehrende, die keine sonderpädagogische Ausbildung haben, sei hier auf den die Aufgabe leichter Sprache reflektierenden Text von Agnes Wuckelt verwiesen, den sie im Sinne der Übereinstimmung von Form und Gehalt in leichter Sprache verfasst hat: Wuckelt, 2013).

Literaturverzeichnis

  • Bergeest, Harry/Boenisch, Jens/Daut, Volker, Körperbehindertenpädagogik, Bad Heilbrunn 4. vollst. überarb. und erg. Aufl. 2011.
  • Bernlochner, Max, Interkulturell-interreligiöse Kompetenz, Beiträge zur Komparativen Theologie 13, Paderborn 2013.
  • Biewer, Gottfried, Grundlagen der Heilpädagogik und inklusiven Pädagogik, Bad Heilbrunn 2. durchges. Aufl. 2010.
  • Bundschuh, Konrad, Art. Entwicklung, in: Bundschuh, Konrad/Heimlich, Ulrich/Krawitz, Rudi (Hg.), Wörterbuch Heilpädagogik, Bad Heilbrunn 3. überarb. Aufl. 2007, 58-62.
  • Froese, Regine, Mehr als nur Kinderfasching: Elementarisierung als Herausforderung für ein interreligiöses Lernen in der Grundschule, in: Schweitzer, Friedrich (Hg.), Elementarisierung im Religionsunterricht. Erfahrungen – Perspektiven – Beispiele, Neukirchen-Vluyn 2003,147-159.
  • Hämel, Beate-Irene/Schreijäck, Thomas, Förderung interkultureller Bildung in Schule und Religionsunterricht, in: Grümme, Bernhard/Lenhardt, Hartmut/Pirner, Manfred L. (Hg.), Religionsunterricht neu denken. Innovative Ansätze und Perspektiven der Religionsdidaktik, Stuttgart 2012, 146-158.
  • Jeltsch-Schudel, Barbara, Art. Identität, in: Greving, Heinrich (Hg.), 2. Kompendium der Heilpädagogik. I-Z, Troisdorf 2007, 7-16.
  • Lähnemann, Johannes, Religionsbegegnung als Perspektive für den Unterricht – Einleitende Thesen, in: Haußmann, Werner/Lähnemann, Johannes (Hg.), Dein Glaube – mein Glaube. Interreligiöses Lernen in Schule und Gemeinde, Theologie für Lehrerinnen und Lehrer, Thema, Göttingen 2005, 9-24.
  • Mendl, Hans, Religion erleben. Ein Arbeitsbuch für den Religionsunterricht, 20 Praxisfelder, München 2008.
  • Meyer, Karlo, Interreligiöse Impulse – Grundlagen zum hermeneutisch-pädagogischen Problem, dialogische Anstöße durch fremde religiöse Traditionen aufzunehmen, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 66 (2014) 5, 338-348.
  • Meyer, Karlo, Zeugnisse fremder Religionen im Unterricht. „Weltreligionen“ im englischen und deutschen Religionsunterricht, Göttingen 2. Aufl. 2012.
  • Meyer, Karlo, Fünf Freunde fragen Ben nach Gott. Begegnungen mit jüdischer Religion in den Klassen 5-7, Göttingen 2008.
  • Meyer, Karlo, Lea fragt Kazim nach Gott. Christlich-muslimische Begegnungen in den Klassen 2 bis 6, Göttingen 2006.
  • Müller-Friese, Anita/Leimgruber, Stephan, Religionspädagogische Aspekte eines integrativen Religionsunterrichts, in: Adam, Gottfried/Kollmann, Roland/Pithan, Annebelle (Hg.), Handbuch Integrativer Religionspädagogik. Reflexionen und Impulse für Gesellschaft, Schule und Gemeinde, Gütersloh 2002, 356-374.
  • Pemsel-Maier, Sabine, Inklusion religionspädagogisch befürwortet, hinterfragt, differenziert: Zehn Thesen, in: Pemsel-Maier, Sabine/Schambeck, Mirjam (Hg.), Inklusion!? Religionspädagogische Einwürfe, Freiburg i. Br. 2014, 285-298.
  • Roebben, Bert, Theologische Gedanken zu einer Inklusionspädagogik, in: Katechetische Blätter 138 (2013) 5, 329-332.
  • Sajak, Clauß P., Interreligiöses Lernen als schulformspezifische Herausforderung? Eine kritische Relecture religionsdidaktischer Konzeptionen, in: Schröder, Bernd/Wermke, Michael (Hg.), Religionsdidaktik zwischen Schulformspezifik und Inklusion. Bestandsaufnahmen und Herausforderungen, Leipzig 2013, 229-350.
  • Sajak, Clauß P., Kippa, Kelch, Koran. Interreligiöses Lernen mit Zeugnissen der Weltreligionen. Ein Praxisbuch, München 2010.
  • Schambeck, Mirjam, Interreligiöse Kompetenz. Basiswissen für Studium, Ausbildung und Beruf, Göttingen 2013.
  • Schweiker, Wolfhard, Vielfalt im Religionsunterricht organisieren. Einführung und Praxisimpulse zu Kirche & Ökumene, in: Glaube und Lernen 27 (2012) 1, 195-219.
  • Tautz, Monika, Interreligiöses Lernen im Religionsunterricht. Menschen und Ethos im Islam und Christentum, Praktische Theologie heute 90, Stuttgart 2007.
  • Willems, Joachim, Interreligiöse Kompetenz. Theoretische Grundlagen – Konzeptualisierung – Unterrichtsmethoden, Wiesbaden 2011.
  • Wuckelt, Agnes, Leichte Sprache – gar nicht so leicht!, in: Katechetische Blätter 138 (2013) 5, 363-365.

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