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Informelles (religiöses) Lernen

(erstellt: Februar 2016)

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1. Begriff informelles Lernen

In den Erziehungswissenschaften gibt es eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen formellem und informellem Lernen. Formelles Lernen bezeichnet einen geplanten und strukturierten Lernprozess, der curricularen Zielvorgaben ( Lehrplan) folgt und sich Methoden ( Unterrichtsmethoden) bedient, die unter didaktischen Gesichtspunkten ausgewählt wurden. Informelles Lernen ereignet sich dagegen zufällig, aus einer konkreten Situation heraus und erfolgt in der Regel implizit (Dohmen, 2001; Overwien, 2005). Informell gelernt wird vor allem außerhalb des institutionalisierten Bildungssystems, nämlich am Arbeitsplatz, in der Familie oder in der Freizeit. Man lernt informell im Gespräch mit Anderen, beim Beobachten, wie andere eine Aufgabe lösen, beim gemeinsamen Bewältigen eines Problems, durch Versuch und Irrtum, usw. Derartige Lerngelegenheiten ergeben sich im konkreten Tun, ohne dass sie planvoll herbeigeführt wurden.

In der erziehungswissenschaftlichen Literatur wird informelles Lernen auch mit „implizitem Lernen“, „inzidentellem Lernen“, „erfahrungsorientiertem Lernen“ oder „selbstgesteuertem Lernen“ bezeichnet (Overwien, 2005). Alle diese Konzepte tragen zu einem geteilten Verständnis informellen Lernens bei. Eine einheitliche Definition des Phänomens liegt allerdings noch nicht vor (Werquin, 2007).

So finden sich immer noch unterschiedliche Verortungen informellen Lernens. Gehen ältere Konzepte selbstverständlich davon aus, dass informelles Lernen außerhalb formaler Bildungseinrichtungen wie Schule oder Akademien geschieht (z.B. Coombs/Prosser/Manzur, 1973), akzeptieren neuere Konzepte informelles Lernen auch außerhalb formeller Lernsettings in formalen Bildungseinrichtungen (z.B. Scheerens, 2009). Als klassisches Beispiel des neueren Ansatzes gilt, dass auch im regulären Unterricht Geschlechterrollen ( Gender) vermittelt werden.

Folgt man diesen Ansätzen, gibt es keine Situation, in der nicht informell gelernt werden kann. Allerdings beinhaltet jede Situation spezifische Kontextbedingungen informellen Lernens (Wahler/Tully/Preiß, 2008). So ist der soziale Kontext in der Familie anders als im Sportverein oder in der Schule. Informelles Lernen kann ohne Berücksichtigung dieser Kontexte nicht angemessen beschrieben werden.

Schließlich beschreibt informelles Lernen einen lebenslangen Prozess (CEC, 2001, 31). Endet formale Bildung notwendigerweise, weil jedes Curriculum ( Lehrplan) nur auf Zeit angelegt ist, eröffnen sich jedem Menschen in jedem Lebensalter informelle Lerngelegenheiten. Informelles Lernen umgreift somit die gesamte Lebensspanne.

2. Informelles Lernen in der Religionspädagogik

Angesichts dieser großen Bedeutung informellen Lernens erstaunt es, dass sich die Religionspädagogik dieses Konzepts bislang kaum bedient. Weder in aktuellen Lexika und Handbüchern (Bitter u.a., 2009; De Souza u.a., 2006; Mette/Rickers, 2001), noch in Einführungen (z.B. Mette, 1994; Schweitzer, 2006; Brinkmann, 2013) wird auf dieses Konzept näher eingegangen. Manche Einführungen erwähnen kurz den Sachverhalt (z.B. Bartholomäus, 1983, 66; Lämmermann/Naurath/Pohl-Patalong, 2005, 32), andere den Begriff (z.B. Boschki, 2008, 76; Ziebertz, 2010, 24). Eine ausführliche Diskussion dieses Konzepts findet sich jedoch nicht – mit zwei Ausnahmen.

Burkard Porzelt nennt in seiner Grundlegung religiöses Lernen (2009) den Begriff (14) und diskutiert diesen Sachverhalt knapp unter dem Stichwort der Inkulturation (112.116f.). Allerdings geht Porzelt in diesen Passagen zur Inkulturation nicht mehr explizit auf die Informalität dieses Lernens ein. Auch zeigt die Verwendung des Begriffs eine große Nähe zum Konzept religiöser Sozialisation. Bernd Schröder wiederum führt in seiner Religionspädagogik (2012) knapp in den Begriff des informellen Lernens ein und beschreibt auf dieser Basis Orte informellen religiösen Lernens (z.B. Kirchentage, Studierendengemeinden und kirchliche Friedensarbeit: Schröder, 2012, 513-521). Allerdings wirft diese Ordnungslogik die Frage auf, warum z.B. die Familie kein Ort informellen religiösen Lernens sein soll.

Beide Ausnahmen verweisen auf ein Doppeltes. Zum einen ist das Konzept des informellen Lernens bislang kaum rezipiert, so dass es hier noch auf keine halbwegs konsistente Verwendung zurückblicken kann. Zum anderen hat die Religionspädagogik durchaus Phänomene informellen Lernens im Blick, erforscht und diskutiert sie aber vor allem anhand der Konzepte religiöser Sozialisation und religiöser Lernort.

3. Informelles religiöses Lernen als religiöse Sozialisation

Aktuelle religionspädagogische Studien verstehen unter religiöser Sozialisation das Wechselspiel zwischen der Übernahme sozial vorgegebener religiöser Überzeugungen und Vollzüge und der Ausbildung einer eigenen religiösen Identität (vgl. Schröder, 2012, 327f.). Es liegt auf der Hand, dass sich das Gros derartiger Lernprozesse informell, das heißt außerhalb formaler Bildungssettings ereignet.

Als einflussreichste Agenten religiöser Sozialisation gelten vor allem die Mutter, aber auch der Vater und die Großeltern (Aygün, 2010; Pollack/Müller, 2013, 71; Zehnder/Morgenthaler, 2014, 84-93; Ziebertz/Riegel, 2008, 155). Wer in einem religiösen Elternhaus aufwächst, bezeichnet sich mit größerer Wahrscheinlichkeit später selbst noch als religiös und zeigt eine ausgeprägte religiöse Praxis. Agenten formaler Bildung wie der Religionsunterricht ( Religionsunterricht, evangelisch; Religionsunterricht, katholisch) haben dagegen kaum einen Einfluss auf die religiöse Sozialisation.

Religiöse Sozialisation umfasst verschiedene Facetten informellen Lernens. In kognitiver Hinsicht fallen darunter das Vorlesen von Bibelgeschichten, die Erklärung des Sinns religiöser Festtage oder das Üben des Vater Unsers. Eine affektive Dimension wird berührt, wenn man das Haus für die Weihnachts- oder Ostertage festlich schmückt, Kerzen in einer Kirche entzündet oder mit den Kindern singt. Konative Momente ereignen sich beim Lernen des Kreuzzeichens, der Teilnahme an Gottesdiensten oder dem Besuch bedürftiger Menschen. Alle diese Lerngelegenheiten lassen sich freilich auch in formalen Lernsettings eröffnen. Informelles religiöses Lernen beschreiben sie dann, wenn sie aus der Situation beziehungsweise der üblichen familiären oder gemeindlichen Praxis heraus erwachsen. Die Lernenden erfahren sie dann in ihrem natürlichen Kontext, das heißt in ihrem eigentlichen Sitz im Leben.

Empirisch betrachtet geht die religiöse Sozialisation in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg stark zurück (Pollack/Müller, 2013, 15). Geben im aktuellen Religionsmonitor im Westen Deutschlands 70% der über 66-Jährigen an, religiös erzogen worden zu sein, sind dies nur noch 25% der 16- bis 25-Jährigen. Im Osten Deutschlands lauten die entsprechenden Anteile 45% und 13%. Korrespondierend dazu nehmen die Zahlen junger Menschen mit Kirchenzugehörigkeit ab (Pickel, 2014, 60). Denkt man diese Befunde zu Ende, eröffnen sich gegenwärtig Gelegenheiten informellen religiösen Lernens für vergleichsweise wenige Menschen.

4. Informelles religiöses Lernen an unterschiedlichen Lernorten

Im Folgenden werden die situativen Bedingungen für informelles religiöses Lernen an den Lernorten Familie, Gemeinde und Öffentlichkeit beschrieben.

4.1. Informelles religiöses Lernen in der Familie

Als Familie wird der Beziehungsraum zwischen (Groß-)Eltern und (Enkel-)Kindern aufgefasst, der sich durch gegenseitige Unterstützung und Akzeptanz „unmittelbare[r], nicht willentlich kontrollierte[r] Gefühlsäußerungen“ (Grethlein, 1998, 332) ergibt. Die Familie gilt als primäre Sozialisationsinstanz (Schröder, 2012, 432). Sie bedingt informelles religiöses Lernen in dreifacher Hinsicht (Schmälzle, 1995).

Erstens kann Familie ein Ort religiöser Erziehung sein. Hier lernen Kinder religiöse Sachverhalte kennen und werden mit der Bedeutung religiöser Praxis vertraut. Informell ist diese Erziehung, weil sie sich in der Regel aus der Situation heraus ereignet und keine curricular verfassten Ziele anstrebt. Zweitens kann Familie ein Ort religiöser Praxis sein. Kinder üben religiöse Vollzüge ein, können so in diese Praxis hineinwachsen und verstehen, was es in dieser Welt bedeutet, seinen Glauben zu leben. Drittens kann Familie ein Ort menschlicher Grunderfahrungen wie Vertrauen sein. „In der Familie wird […] ein elementarer Lebensraum angeboten, der nicht an bestimmte Vorleistungen gebunden ist und damit auch nicht den in der modernen Gesellschaft allgegenwärtigen Nützlichkeitserwägungen unterliegt. Wer die Familie und den mit ihr gegebenen Lebensraum als eine solche ungeschuldete Vorgabe annehmen und erleben kann, der macht damit eine Erfahrung religiöser Art“ (Kniepe-Port le Roi, 2009, 88). Ein Glaube, der sich zu einer personalen transzendenten Wirklichkeit bekennt, ist auf derartige Grunderfahrungen angewiesen.

Empirische Studien verweisen darauf, dass immer weniger Familien ein Ort religiöser Erziehung oder regelmäßiger religiöser Praxis sind (Domsgen, 2004, 112-149). Viele Mütter und Väter fühlen sich nicht hinreichend kompetent, um ihre Kinder richtig über Religion zu informieren, oder verzichten darauf, weil sie die religiöse Freiheit ihrer Kinder nicht beschneiden wollen. Außerdem ereignet sich das Gros religiöser Praxis in heutigen Familien punktuell, ist auf konkrete Anlässe wie Hochzeiten oder religiöse Feste wie Weihnachten bezogen und bedient vor allem die individuellen Bedürfnisse der Familie (Schwab, 1995). Inwieweit Familie als Ort menschlicher Grunderfahrungen durch die Brüchigkeit und Vielgestaltigkeit moderner Familienbeziehungen betroffen ist, lässt sich aufgrund fehlender einschlägiger Studien nicht seriös abschätzen.

4.2. Informelles religiöses Lernen in der Gemeinde

Die kirchliche Gemeinde „ist der institutionalisierte Ort christlicher Praxis und damit des spezifisch christlichen Wissens“ (Grethlein, 1998, 311). Im Austausch mit Gemeindemitgliedern, die das gemeinsame Bekenntnis zur selben religiösen Tradition teilen, wird erfahren und ausgehandelt, wie dieses Bekenntnis zu leben ist. Gemeinde ist also der Ort, an dem sich christliche Überzeugungen und Vollzüge in ihrem Eigensinn leben lassen.

Gemeinde ( Gemeinde/Gemeindepädagogik) ist in vielerlei Hinsicht ein Ort formalen religiösen Lernens. Programme zur Kommunionkatechese ( Katechese/Katechetik) oder Konfirmationskurse ( Konfirmandenunterricht/Konfirmandenarbeit) folgen in der Regel einem vorgegebenen Curriculum und wollen wohldefinierte Ziele erreichen.

Jenseits solcher pastoraler Programme ereignet sich religiöses Lernen informell. Die Teilnahme am Gottesdienst ( Gottesdienst, evangelisch; Gottesdienst, katholisch), das Engagement in einer kirchlich organisierten Nachbarschaftshilfe oder die Leitung einer Jugendgruppe vermitteln christlich inspirierte Lebenspraxis aus der konkreten Situation heraus. In charakteristischer Weise begreift die Pastoraltheologie beziehungsweise Praktische Theologie die Gemeinde als Subjekt ihrer eigenen Entwicklung (Feiter, 2012, 40-43). Lernen ereignet sich hier als kommunikativer und personenorientierter Prozess, der durch die Beteiligten selbst angestoßen und getragen wird. Damit erfüllt der pastoraltheologische Ansatz zentrale Kriterien informellen Lernens. Praktisch schlägt sich die Informalität im Projektcharakter pastoraler Angebote nieder. In solchen Projekten finden sich Mitglieder zusammen, um ein konkretes Ziel im Einklang mit den gemeinsam geteilten religiösen Überzeugungen zu verwirklichen. Wiederum sind zentrale Kriterien informellen Lernens erfüllt.

In der Gemeinde ist der lebenslange Charakter informellen religiösen Lernens erfüllt, denn gemeindliche Angebote decken das gesamte Spektrum an Lebenslagen ab (Boschki, 2008, 129). Sie richten sich ebenso an Kinder und Jugendliche wie an junge Erwachsene, Familien, Arbeitende und Senioren.

Aktuelle Daten deuten an, dass der Lernort Gemeinde für einen vergleichsweise kleinen Kreis an Menschen von Bedeutung ist. Nach der aktuellen Kirchenmitgliedschaftsstudie der Evangelischen Kirche engagieren sich 13% ihrer Mitglieder in einer Gemeinde (Pollack/Laube/Liskowsky, 2014). Darüber hinaus nehmen etwa 22% der Menschen im Westen Deutschlands und 12% der Menschen im Osten mindestens einmal pro Monat an einem Gottesdienst, Freitagsgebet oder ähnlichem kollektiven religiösen Ritual teil (Pollack/Müller, 2013, 11). Informelles religiöses Lernen durch religiös motivierte Praxis im Kreis religiös Gleichgesinnter ereignet sich somit bei einer Minderheit der in Deutschland lebenden Menschen.

Das ist insofern brisant, als gerade gemeindliches Engagement den Glauben einer Person in besonderer Weise fördert (vgl. Streib/Gennerich, 2011, 61f.). Im Einsatz für Andere oder eine gerechte Sache wird in besonderer Weise Sinn erfahren. Im Gemeinde-Kontext ist dieser Einsatz eindeutig religiös konnotiert. Gleichzeitig erfolgt dieses Engagement freiwillig und entspricht damit dem Anspruch Jugendlicher auf religiöse Autonomie. Informelles Lernen im Rahmen eines Engagements in Kirchengemeinden erscheint damit besonders nachhaltig, wenn es darum geht, Glauben in einer modernen Gesellschaft zu entwickeln.

4.3. Informelles religiöses Lernen in der Öffentlichkeit

In jüngster Zeit hat die Öffentlichkeit als Ort religiösen Lernens verstärkte Aufmerksamkeit in religionspädagogischen Arbeiten erhalten. Sie wird entweder als eigenständiger Bereich neben Medien behandelt (Schröder, 2012, 682-704) oder als übergreifender Begriff, der Kultur, Medien und Politik in gleicher Weise umfasst (Ziebertz, 2002). Hier wird ein umfassender Begriff von Öffentlichkeit verwendet, weil sich die Kontexte für informelles Lernen in ihren verschiedenen Bereichen nicht kategorial unterscheiden.

Öffentlichkeit stellt in ihren unterschiedlichen Ausprägungen einen kulturellen Horizont zur Verfügung, innerhalb dessen sich religiöse Praxis ohne geteiltes Bekenntnis zu einer religiösen Tradition ereignet. Dieser kulturelle Horizont zeigt sich in allgemein geteilten Einstellungen zu Religion und in gesellschaftlich akzeptierter institutioneller Präsenz von Religion. Informelles religiöses Lernen im öffentlichen Raum ist somit mit der Außenansicht auf die jeweils eigene religiöse Tradition konfrontiert.

Folgt man der öffentlichen Meinung, ist Religion in erster Linie Privatsache. Juristisch abgesichert durch die Grundrechte positiver und negativer Religionsfreiheit ist jeder so lange frei, das eigene Bekenntnis zu leben, bis er Andere durch seine Religiosität in ihrer Freiheit beeinträchtigt. In der Folge kann religiöse Autonomie, das heißt das Bewusstsein, selbst über das entscheiden zu müssen, was man glauben kann und will, vor allem bei jungen Menschen als Grundzug individueller Religiosität betrachtet werden (Ziebertz/Riegel, 2008, 131-166).

Religiöse Vielfalt erleben die meisten Menschen in diesem Kontext als persönlich bereichernd (Pollack/Müller, 2013, 38f.). Lediglich der Islam wird als problematische Religion eingestuft, weil er in seinen Grundzügen als nicht vereinbar mit der westlichen Kultur begriffen wird (Pollack/Müller, 2013, 39-42).

Trotz der beschriebenen religiösen Vielfalt lassen sich in Deutschland zwei religiöse Mehrheitskulturen identifizieren. Ist die Mehrheitskultur im Westen Deutschlands kirchlich-christlich verfasst, so dass Kirche im öffentlichen Raum weitgehend akzeptiert ist, dominiert im Osten ein säkulares Bewusstsein (Müller/Pollack/Pickel, 2013, 144). Die mediale Berichterstattung folgt in der Regel der westlichen Mehrheitskultur, denn die meisten Medienschaffenden schätzen „die Kirche als zivilgesellschaftliche Kraft und Stimme jenseits des parteipolitischen Engagements“ (Gärtner, 2008, 40). Ansonsten folgt die Darstellung religiöser Sachverhalte den üblichen Kriterien eines zeitgenössischen Journalismus, das heißt sie werden ausgewählt gemäß ihres Neuigkeitswerts, ihrer Passung zum Adressatenkreis, der Prominenz handelnder Personen oder ihres Konfliktpotenzials (Gärtner/Gabriel/Reuter, 2012).

5. Informelles Lernen als religionspädagogische Reflexionskategorie

Trägt man die obigen Befunde zusammen, ergeben die beiden traditionellen religionspädagogischen Reflexionskategorien religiöse Sozialisation und religiöser Lernort einen tiefen Einblick in informelle religiöse Lernprozesse. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es einer weiteren Reflexionskategorie überhaupt bedarf. Drei Gründe scheinen mir dafür zu sprechen.

(1) Burkard Porzelt arbeitet in seinem Abschnitt zu religiösem Lernen als Inkulturation die Problematik heraus, dass dieser Lerntyp in nicht reflektierter Weise auch solche Facetten von Religion überträgt, die weder heilsförderlich noch pädagogisch wünschenswert sind. Das Konzept religiöser Sozialisation ist gegenüber solchen Aspekten aus sich heraus unsensibel. Mit dem Konzept informellen Lernens können solche Aspekte erfasst werden, denn es umfasst nicht nur inzidentelles Lernen, sondern auch solches, das situativ aus bewusst angestrebten Projekten erwächst. Mit dem Konzept informellen Lernens lassen sich somit Rahmenbedingungen für nicht curricular geleitetes religiöses Lernen formulieren, welche die als problematisch erkannten Aspekte religiöser Sozialisation gering halten.

(2) Bernd Schröder gelingt es im Rückgriff auf das Konzept des informellen Lernens, Lernorte zu entdecken, welche bislang kaum im Fokus religionspädagogischer Reflexion standen. Allein diese Sensibilität für Neues rechtfertigt informelles Lernen als Kategorie religionspädagogischer Reflexion. Allerdings wurde oben deutlich, dass informelles Lernen nicht nur eine Kategorie ist, um Lernorte gegeneinander abzugrenzen. Vielmehr ist sie geeignet, unterschiedliche Lernszenarien in den einzelnen Lernorten präziser zu beschreiben. Das Konzept informellen Lernens hilft hier, den spezifischen Beitrag der einzelnen Lernorte genauer herauszuarbeiten.

(3) Schließlich zeigt die religionssoziologische Forschung ( Religionssoziologie), dass sich mit den Variablen, die sich dem Konzept religiöser Sozialisation verdanken, die existenzielle, ideologische oder praktische Seite von Religion und Religiosität gut beschreiben lässt. Die kognitive Seite religiösen Lernens, das heißt welches Wissen über Religion sich Individuen außerhalb formaler Lernsettings aneignen, wird dagegen kaum untersucht. Entsprechend haben die üblicherweise erhobenen Variablen nahezu keine Erklärungskraft für vorhandenes Wissen über Religion (Riegel/Kindermann, 2015). Gerade in einer religiös pluralen Gesellschaft wird Wissen über die verschiedenen Religionen aber zunehmend wichtiger, um religiös motivierte Konflikte im Zusammenleben zu vermeiden. Im Unterschied zum Konzept religiöser Sozialisation hat das Konzept des informellen Lernens Potenzial, den Fokus gerade auf diese kognitive Dimension alltäglichen religiösen Lernens zu richten. Es eröffnet einen neuen Forschungsfokus, der die Ausbildung einer religious literacy jenseits formaler Lernsettings in den Blick nimmt.

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