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Hermeneutik des Fremden

(erstellt: Januar 2015; letzte Änderung: Februar 2024)

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1. Religionspädagogische Relevanz

Eine Hermeneutik des Fremden ist in der Religionspädagogik insbesondere im Kontext von interreligiösem Lernen (→ interreligiöses Lernen) und Dialog (→ Dialog der Religionen, evangelische Sicht; → Dialog der Religionen, katholische Sicht; → Dialog der Religionen: Entwicklung, Modelle, religionspädagogische Relevanz) von Relevanz, denn entsprechende Ansätze gehen weitgehend von der Grundannahme aus, dass sich Lernende hierbei aus der Perspektive der eigenen Religion mit einer fremden Religion auseinandersetzen. Die hiermit verbundenen Zielsetzungen sind hoch und reichen von der achtsamen Wahrnehmung fremder Traditionen bis zur kritisch-schöpferischen Reflexion und Transformation des eigenen Glaubens. Durch die direkte Auseinandersetzung mit dem Fremden (→ Fremdheit als didaktische Aufgabe) sollen Gemeinsamkeiten erkannt, Unterschiede reflektiert und Vorurteile abgebaut werden. Dabei soll die Wahrnehmung der Differenzen vom Eigenen und Fremden u.a. der Identitätsfindung und eigenen (religiösen) Positionierung (→ Identität, religiöse) dienen (Leimgruber/Ziebertz, 2010, 471; Leimgruber, 2007, 23; Sajak, 2018, 84-89, Langenhorst, 2016, 173; Boehme, 2023, 17-21; Freuding, 2022, 29, 71-78). Ein so ausgerichtetes interreligiöses Lernen will zu einer starken → Toleranz befähigen, die Differenzen bzw. Fremdheit wahrnimmt und diese nicht aufhebt oder negiert. Inwiefern diese sehr ambitionierten Ziele erreicht werden können, hängt maßgeblich von der jeweiligen Hermeneutik des Fremden ab, die den Ansätzen zu eigen ist. Denn Hermeneutiken des Fremden können diese Zielsetzungen (kontraintentional) be- oder verhindern.

2. Begriffliche Perspektivierungen

Oftmals werden die Begriffe des Fremden und Anderen synonym verwendet oder zumindest nicht klar zwischen beiden Begrifflichkeiten unterschieden, was für eine Hermeneutik des Fremden folgenreich ist. Denn während sich das Andere als Teil der eigenen Ordnung verstehen lässt, ist das Fremde grundlegend außerhalb dieser verortet. Mit Bernhard Waldenfels (1997, 73) versteht Freuding (2022, 18) daher das Fremde als das „Außer-ordentliche“. Demnach wird das Fremde kontextuell je nach den geltenden Ordnungen konstruiert bzw. hervorgebracht. Somit gibt es den oder das Fremde nicht, sondern „es gibt stets nur einen bestimmten Fremden, der sich für uns als fremd erweist in Bezug auf etwas Drittes, das als Maßstab der Fremdheit fungiert“ (Waldenfels 1995, 615). Religionspädagogisch gewendet bedeutet dies, dass es keine per se fremden Religionen gibt, sondern diese erst durch eine bestehende religiöse Ordnung hervorgebracht werden, indem alles, was außerhalb der eigenen Ordnung ist, als fremd konstruiert wird. Ändert sich die religiöse Ordnung, so wird auch das Verständnis der eigenen und fremden Religion fluide. Das religiös Andere hingegen lässt sich in der eigenen religiösen Ordnung verorten, da es die eigene Ordnung als Außer-Ordentliches nicht grundlegend irritiert. Je stärker sich somit z.B. Religiosität individualisiert, umso mehr verflüchtigt sich die Kategorie der fremden Religion. Religiöse Menschen werden vielmehr zu Anders-Gläubigen, die wiederum von Nichtreligiösen als fremd betrachtet werden können. Die Ordnung läuft dann entlang der Kategorien Religiös und Nicht-Religiös bzw. Säkular. Das Verständnis von Fremdheit als Produkt von Ordnungen ist eine von drei Perspektiven, anhand derer Freuding (2022) im Horizont interreligiöser Bildung den Fremdheitsbegriff entfaltet. Darüber hinaus perspektiviert er zweitens Fremdheit als menschliche Grunderfahrung (Freuding, 2022, 31-36), die einschneidend und nicht kontrollierbar ist sowie die vertrauten Erfahrungen und Ordnungen erschüttern kann. Dabei können Fremdheitserfahrungen zur Veränderung des Subjekts führen, das ehedem Fremde wird vertrauter, indem das → Subjekt seine Fremdheitskategorien verändert. Dennoch bleibt die existenzielle Grunderfahrung von Fremdheit, sie verschiebt sich entlang der neuen Ordnungen und des neuen Selbst- und Weltverständnisses. Religionspädagogisch ist diese Perspektivierung von Fremdheit in interreligiöser Bildung besonders prominent, insbesondere in Form von (Stufen-)theorien, die auf eine Klärung und Entwicklung der eigenen Religiosität in der Begegnung mit fremden Religionen zielen (z.B. Leimgruber, 2007; Rickers 1998, Sajak, 2018, 104-107). Drittens arbeitet Freuding (2022, 47-64) heraus, wie Fremdheit als Zuschreibung in Form von Othering- und Ausgrenzungsprozessen (re)produziert wird. Das Fremde wird hierbei als statisch und unveränderlich betrachtet sowie in Kontrast zum Eigenen konstruiert und diesem untergeordnet. Das Fremde wird zum Objekt und teils zur Bedrohung des Subjekts (Freuding, 2022, 49). Ein solches Verständnis des Fremden liegt insbesondere in religionspädagogischen Konzeptionen vor, die von fremden, vom Christentum abgegrenzten Weltreligionen ausgehen, die als Objekt kennengelernt werden können, ohne dabei das Selbstverständnis oder die eigenen Ordnungsstrukturen in Frage zu stellen, wie dies in Formen der sogenannten Weltreligionendidaktik (z.B. Lähnemann, 1996) oftmals der Fall ist. Inwiefern diese Ordnungsstrukturen vorherrschenden Machtverhältnissen unterliegen und diese reproduzieren, bleibt dabei unreflektiert.

3. Referenztheorien einer religionspädagogischen Hermeneutik des Fremden

3.1. Interdisziplinäre Referenztheorie

Bereits in den begrifflichen Perspektivierungen des Fremden wurden (implizit) unterschiedliche hermeneutische Zugänge zum Verständnis des Fremden sichtbar, die durch ihre verwendeten Referenztheorien differenzierter entfaltet werden können. Drei relevante Theoriestränge lassen sich hierbei erkennen. Insbesondere phänomenologisch geprägte religionspädagogische Ansätze (z.B. Boehme, 2023, 251-259; Sajak, 2018, 86f.; Asbrand, 2000, 207-215; Meyer, 1999, 272f.) rekurrieren hierzu auf die interkulturell geprägte hermeneutische Theorie von Sundermeier (1996), die „das Differente verstehen lehrt, ohne es zu vereinnahmen“ (Sundermeier, 1996, 13). Er entwirft diesbezüglich ein „homöostatisches Modell“ (Sundermeier, 1996, 133), das davon ausgeht, dass die eigene Identität nur in Differenz und Bezug zu fremden Identitäten konstituiert werden könne. Wie bei voneinander abhängigen, aber dennoch getrennten Zellen fände zwischen Individuen ein „osmotischer Austausch“ (Sundermeier, 1996, 135) – aber keine Synthese oder Verschmelzung – statt, der die Zellen respektive Individuen gegenseitig stabilisiere (Sundermeier, 1996, 132-136). Dieser osmotische Austausch setze ein angemessenes Verstehen, eine Hermeneutik des Fremden voraus. Diesbezüglich entwirft Sundermeier eine Matrix mit vier Stufen des Verstehens, die von einer beschreibenden Analyse (Wahrnehmung in Distanz) über Kontextualisierung (Teilnehmende Beobachtung) und vergleichende Interpretation (Teil-)Identifikation bis zu Transfer zu uns hin (Konvivenz) führt (Sundermeier, 1996, 155). In der religionspädagogischen Rezeption dient diese Hermeneutik des Fremden dazu, (Lern-)Prozesse zu modellieren, die somit stufenförmig konzipiert sind und auf Konvivenz zielen, worunter Sundermeier (interreligiöse, interkulturelle) Hilfs-, Lern- und Festgemeinschaften versteht, ohne dass sich hierbei die unterschiedlichen Kulturen und Religionen einander angleichen oder aufheben (Sundermeier, 1996, 190f.). Entsprechend formuliert z.B. Leimgruber als interreligiöse Lernschritte (2007, 108f.): fremde Personen bzw. religiöse Zeugnisse wahrnehmen, religiöse Phänomene deuten, durch Begegnung lernen, bleibende Fremdheit respektieren, in existenzielle Auseinandersetzung verwickeln. Sundermeiers Modell weist Problemstellungen auf (Meyer, 2019, 226f.), die auch bei vergleichbaren Hermeneutiken auftreten. Obwohl er mit der Metapher der Osmose eine fluide Prozesshaftigkeit hervorhebt, bleibt die Trennung zwischen Fremden und Eigenem eher statisch. Durch das Ausblenden von Kontextfaktoren, in denen die (interreligiöse) Begegnung eingebettet ist, neigt dieses Modell zudem zu Essentialisierungen des Fremden und Eigenen. Darüber hinaus läuft der Fokus auf Konvivenz Gefahr, das Fremde für das Eigene zu instrumentalisieren, das irritierend Fremde aufzulösen und die „Interdependenz von Unterschiedenheit und Ungleichheit, von kultureller, religiöser und lebensweltlicher und sozio-ökonomischer Differenz“ (Grümme, 2017, 195) zu unterschlagen. In der religionspädagogischen Rezeption führt dies oftmals dazu, dass interreligiöses Lernen von gelingendem Verstehen ausgeht, ohne Raum für gescheiterte Kommunikation, für Konflikte oder Ablehnung zu lassen (Meyer, 1999, 86).

Entsprechend nehmen interreligiöse Didaktiken zunehmend stärker Hermeneutiken des Fremden in den Blick, die auch das Konfliktpotenzial oder das Widerständige (Tautz, 2007, 364-367) des Fremden mitreflektieren. Diese rekurrieren (explizit) auf philosophisch geprägte Hermeneutiken, insbesondere auf Bernhard Waldenfels, der das irritierend Fremde, das Außer-Ordentliche für das Eigene herausstellt. Das Fremde wird somit zum bleibenden „Stachel“ (Waldenfels, 1991) und besitzt einen das Verstehen übersteigenden „Überschuss, der aller Fremdbetrachtung und Fremdbehandlung vorausgeht und über sie hinausgeht. Nicht nur die Reduktion von Fremdem auf Eigenes, auch der Versuch einer Synthese zwischen beiden gehört zu den Gewaltakten, die den Anspruch des Fremden zum Verstummen bringen“ (Waldenfels, 2004, 322). Religionspädagogisch knüpfen hier z.B. Kaspari (2010), Meyer (2019, 273-284) sowie Streib (2005) an. Letzterer entwickelt in diesem Horizont fünf vielfach rezipierte religiöse Stile, die er nicht als strukturgenetische Entwicklungsstufen versteht, sondern die situativ im Handlungs- und Urteilsakt zur Verfügung stehen (Streib, 2005, 236f.). Als ersten Stil bezeichnet er „Fremdheit als xenophobische Angst“ (Streib, 2005, 237), die zu Aggression oder Flucht verleitet. „Fremdheit als xenopolemische Furcht“ (ebd.) reagiert als ein zweiter Stil auf entsprechende Erfahrungen polemisch oder abwertend. Wird drittens „Fremdheit als Dissonanz“ (ebd.) wahrgenommen, so äußert sich dies in dem Versuch, das Differente abzuwehren, mit dem Eigenen zu harmonisieren oder als Exotismus auf Distanz zu halten. Bei „Fremdheit als Andersheit“ (ebd.) im vierten Stil wird die Differenz deutlich wahrgenommen und entweder reflexiv mit dem Selbstkonzept assimiliert oder hiervon abgegrenzt. Der letzte Stil „Fremdheit als Widerstand und Herausforderung“ (ebd.) begreift Fremdheit als „Mehrwert“ (ebd.) für die eigene Identität, die jedoch für das Individuum auch sperrig und widerständig sein kann und Fremdheit nicht aufhebt. Streibs Modell dient sowohl deskriptiv der Beschreibung unterschiedlicher hermeneutischer Zugangsweisen zum Fremden als auch präskriptiv zu einer „Hierarchie des Umgehens mit Fremdheitserfahrungen“ (Streib, 2005, 238). Das Modell wird deshalb auch für die Gestaltung von Lernprozessen angewandt, indem es Entwicklungspotenzial zur nächsten Stufe aufzeigen will. Zugleich negiert das Modell nicht, dass die anderen Stufen respektive Stile in interreligiösen Haltungen und Handlungen situativ aktiviert werden.

In jüngster Zeit werden für religionspädagogische Hermeneutiken des Fremden auch poststrukturalistische und postkoloniale Theorien hinzugezogen (z.B. Brandstetter, 2020; Freuding, 2022; Henningsen, 2022) wobei es durchaus Verbindungslinien zu den im vorangegangenen Abschnitt entfaltete Hermeneutiken gibt (Freuding, 2022, 329f.). Diese Referenztheorien bringen in den religionspädagogischen Diskurs (ideologie-)kritische Fragen ein, inwiefern z.B. interreligiöses Lernen selbst (kontraintentional) an der (Re-)Produktion und Verfestigung von Fremdheit sowie deren Abwertung beteiligt ist. Im Horizont dieser Referenztheorien wird deutlich, wie eine religionspädagogische Hermeneutik des Fremden intersektional in Machtstrukturen eingebettet ist, die es kritisch zu reflektieren gilt (Meyer, 2019, 51-57). Im schulischen Kontext sind hier neben sozioökonomischen und kulturellen auch epistemische Machtstrukturen zu reflektieren. Der von Gayatri Spivak (2008) geprägte Begriff der epistemischen Gewalt stellt heraus, dass auch die Gewinnung und Verbreitung von Wissen Machtstrukturen unterliegt, indem z.B. kulturell geprägte Deutungsmuster als (nicht) legitim anerkannt werden. In Bildungseinrichtungen wird in diesem Sinne epistemische Gewalt ausgeführt, z.B. durch Themenauswahl in Curricula (Spichal, 2015), durch Lernmaterialien (Willems, 2020a; Bucher, 2020), durch didaktische Prinzipien und Methoden (z.B. Theologisieren als Lernformat: Meyer, 2019, 59-62), durch (implizit wirksame) kulturelle Codes bzw. kulturelles Kapital (Unser, 2019) bis hin zu institutionellen Strukturen (z.B. interreligiöses Lernen ohne Nichtreligiöse: Willems, 2020b). Diese epistemischen Machtstrukturen prägen das Wissen über den Fremden und das Verständnis des Fremden, weshalb es problematisch ist, bei interreligiösem Lernen von „einer Begegnung ‚auf Augenhöhe‘“ (Schweitzer, 2014, 35) auszugehen. Freuding (2022, 384) kommt zu dem Schluss, dass oft ein Eingeständnis des Nichtwissens besser sei als Strukturen epistemischer Gewalt durch Wissens-Produktion über Fremde weiterzuführen.

Zudem machen postkoloniale Diskurse darauf aufmerksam, dass nicht nur das → Subjekt in Hinblick auf die eigene Religion durch Fremdheitserfahrungen lernt, sondern damit zugleich auch Subjektivierungsprozesse (→ Subjektivierung) bei Subjekten der fremden Religion einhergehen, indem diese Objekte einer Fremdzuschreibung werden. Angesichts solcher Otheringprozesse (→ Othering) muss → Religionspädagogik kritisch reflektieren, „dass jede ‚Subjektorientierung‘ zugleich eine Subjektivierung darstellt“ (Freuding, 2022, 379). Solche (kontraintentionalen) Verfestigungen und Abwertungen von Fremdheit können auf unterschiedlichen Ebenen geschehen, z.B. auf der Ebene von Lernmaterialien (Freuding, 2014; Henningsen, 2022; Willems, 2020a) oder interreligiöser Prinzipien bzw. Methoden, wie z.B. dem sogenannten Begegnungslernen (Leimgruber, 2007; → interreligiöses Begegnungslernen), wenn dieses zur Verfestigung und Zuschreibung von Fremdbildern führt.

Dieses postkolonial und -strukturalistisch geprägte Verständnis des Fremden gelangt in der Religionspädagogik erst in den letzten Jahren verstärkt in den Blick (Brandstetter, 2020; Henningsen, 2022; Freuding, 2022), sodass bislang nur wenige entsprechende hermeneutische Ansätze vorliegen. Hierbei wird insbesondere die Relevanz von Beobachtungen zweiter Ordnung hervorgehoben, wodurch sich Erfahrungen und Zuschreibungen von Fremdheit dekonstruieren lassen. Grümme betont die Bedeutung von machtkritischer Selbstreflexivität und Metareflexivität von religionspädagogischen Akteurinnen und Akteuren, die zu einer kritischen Selbstaufklärung (Grümme, 2021, 421-426) in Hinblick auf die (Re-)Produktion des Fremden beitragen können. Mendl (2017, 111f.) entwickelt diesbezüglich einen differenzhermeneutischen Ansatz, in dem unterschiedliche Lernschritte aufeinander aufbauen. Er plädiert dafür, perturbierende und verstörende Erfahrungen des Fremden früh in Lernprozesse mit aufzunehmen, Fremdheit und damit einhergehende Emotionen wahrzunehmen, Differenzerfahrung zu thematisieren und als Reflexion zweiter Ordnung das Eigene mit dem Fremden abzugleichen und gegebenenfalls zu dekonstruieren. Dieses metareflexive Vorgehen mündet bei Mendl in Prozessen der narrativen, intersubjektiven Vergewisserung.

3.2. Theologische Referenztheorie

Zusätzlich zu diesen außertheologischen Theoriesträngen lassen sich auch explizit theologische Hermeneutiken des Fremden ausmachen. Über Jahrhunderte hinweg dominierten exklusivistische Positionen, denen zu Folge allein das Christentum die wahre Religion sei, was zugleich zu einer Abwertung oder gar Dämonisierung fremder Religionen führte. Im katholischen Kontext steht erst mit dem im II. Vatikanum formulierten Inklusivismus ein hermeneutisches Modell bereit, Christentum und nichtchristliche Religionen respektive Konfessionen konstruktiv miteinander in Beziehung zu setzen. Zwar wird nicht explizit der Begriff des Fremden verwendet, jedoch das Verhältnis zu den nichtchristlichen, oftmals als fremde betrachteten Weltreligionen neu bestimmt. Demnach lehnt die katholische Kirche „nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist“ und erkennt an, dass diese „nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet“ (Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung „Nostra aetate“, 2, im Folgenden abgekürzt mit NA). Indem das Konzil dennoch daran festhält, dass Christus, der „‘Weg, die Wahrheit und das Leben‘ (Joh 14,6) [ist], in dem die Menschen die Fülle des religiösen Lebens finden“ (NA 2), grenzt es sich deutlich von pluralistischen Theorien und einer bedingungslosen Anerkennung nichtchristlicher Religionen ab. Obwohl dieser christozentrische Inklusivismus, protestantisch lassen sich stärker theozentrisch inklusivistische Modelle ausmachen (z.B. Ökumenischer Rat der Kirchen, 1970), theologisch und hermeneutisch an einem hierarchischen, nicht gleichberechtigten Verhältnis von Christentum und anderen Religionen festhält, so scheinen dennoch inklusivistische Modelle derzeit „auch hermeneutisch unüberwindbar“ (Grünschloss, 1999, 297) zu sein, da der eigene Verständnishorizont nie aufgegeben werden kann. So betont Meyer (2019, 104-107), dass auch inklusivistische Hermeneutiken mutuelle Dynamiken besitzen, die in der interreligiösen Begegnung Räume für multiple, auch inkonsistente, unabgeschlossene Positionierungen von Individuen eröffnen.

In diesem inklusivistischen Horizont werden theologische Hermeneutiken des Fremden religionspädagogisch entwickelt, z.B. christologisch (z.B. Kaspari, 2010, 418-425) oder trinitarisch (z.B. Schambeck, 2013, 124-134). So unterstreicht z.B. Schambeck in Anlehnung an Rahner, dass im trinitarischen Gottesbild unbedingte Einheit in Differenz konstitutiv ist. Die innertrinitarische Beziehung überträgt Schambeck auf das Verhältnis von Gott und Welt. Hermeneutisch zielt sie darauf, dass die Beziehung von Eigenem und Fremden einer absoluten Differenz und Beziehungslosigkeit auf der einen und einer vereinnahmenden Absorption auf der anderen Seite entgeht, indem sie diese Beziehung theologisch als auf Liebe und Personalität basierend entfaltet. Das Verstehen des Fremden richtet sich somit nicht auf eine objektive Größe, sondern hat konkret den Fremden oder die Fremde als Person im Blick. Diese und ähnliche theologische Hermeneutiken müssen jedoch reflektieren, dass die spezifischen, z.B. christologischen oder trinitarischen Referenztheorien nicht über der Differenz von Eigenem und Fremden liegen, sondern Teil des eigenen Bezugsystems sind, das in Differenz zu fremden Bezugsystemen steht (Freuding, 2022, 122). Hier laufen theologische Hermeneutiken des Fremden Gefahr, in Aporien zu führen (Schweitzer, 2014, 153f.).

Ob komparative Hermeneutiken (Stosch, 2012), die alternativ im interreligiösen Dialog entwickelt und breit rezipiert werden, für eine religionspädagogische Hermeneutik des Fremden weiterführend sind, erscheint fraglich, da diese zum einen vom Begriff des „Anderen“ und zum anderen von Gastfreundschaft, freundschaftlicher Verbundenheit, Empathie sowie Kommensurabilität ausgehen (Stosch, 2012, 155-168), was für eine Hermeneutik des Fremden, insbesondere für interreligiöses Lernen von Kindern und Jugendlichen (Langenhorst, 2015, 97-110; Meyer, 2019, 97f.) kaum voraussetzbar ist.

4. Religionsdidaktische Konsequenzen

Insbesondere durch die noch junge Rezeption postkolonialer und ‑strukturalistischer Theorien erweist sich das religionsdidaktische Feld dynamisch und offen. Waren in den letzten Jahrzehnten Lernziele, ‑prinzipien und -methoden vielfach auf Begegnung, Kennenlernen, Abbau von Fremdheit, Identitäts- und Religiositätsentwicklung sowie Toleranz, respektvolles und friedliches Zusammenleben ausgerichtet, so wird durch neuere Hermeneutiken des Fremden stärker das bleibend Irritierende, Außer-Ordentliche und Fremde betont, das in Lernprozessen wahrgenommen und reflektiert werden muss. Damit weitet sich der Fokus über eine Subjektorientierung interreligiösen Lernens, die weitgehend auf Schülerinnen und Schülern des Religionsunterrichts christlicher Konfessionen ausgerichtet ist, zunehmend auch auf damit einhergehende Subjektivierungsprozesse aus. Der (Re-)Konstruktions- und (Re-)Produktionsprozess von Fremdheit gerät somit verstärkt in den Blick. Vorstellungen von in sich abgeschlossenen Weltreligionen werden damit obsolet (Meyer, 2019, 22-39), machtkritisch müssen intersektional entsprechende Subjektivierungsprozesse in Beobachtungen zweiter Ordnung reflektiert und dekonstruiert werden. Dies kann auch bedeuten, gegebenenfalls stellvertretend unterdrückte Perspektiven zu artikulieren, „besonders wenn die Individuen, um die es geht, dies nicht selbst tun können“ (Freuding, 2022, 388).

Die skizzierten Ansätze einer Hermeneutik des Fremden unterstreichen die Komplexität und die damit einhergehenden hohen Herausforderungen für Lernende und Lehrende. Hierdurch wird die Relevanz von (Selbst-) Reflexionskompetenzen der Lehrkräfte (Simojoki/Khorchide/Lindner/Roggenkamp/Sajak, 2022, 235) deutlich. Neben dem Erwerb religionsbezogenen Professionswissens ist daher in der Religionslehrerinnen- und -lehrerbildung die Reflexion religionsbezogen-epistemischer Überzeugungen zentral (Lindner/Freuding, 2022, 100f.).

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