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Geschlechtergerechtigkeit

(erstellt: Februar 2017: letzte Änderung: Februar 2024)

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1. Begriffsbestimmung und rechtliche Basis

1.1. International

Dieser Begriff basiert auf der Differenzierung von Sex und Gender und allen damit verbundenen weiteren Differenzierungen sowie auf den Ergebnissen von Genderforschung und Genderstudies in allen Fachrichtungen (→ Gender). Auf der UN-Weltfrauenkonferenz 1985 international diskutiert, wurde der Begriff Gender Mainstreaming 1995 auf der 4. UN-Weltfrauenkonferenz in Peking geprägt für die Erkenntnis, dass es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt und dass Männer und Frauen sehr unterschiedlich von gesellschaftlichen, politischen, sozialen, administrativen u.a. Entscheidungen betroffen sein können. Übersetzt wird Gender Mainstreaming mit „Geschlechtergerechtigkeit“, das bedeutet: „bei allen gesellschaftlichen und politischen Vorhaben die unterschiedlichen Auswirkungen auf die Lebenssituationen und Interessen von Frauen und Männern grundsätzlich und systematisch zu berücksichtigen“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2016, ohne Seite), mit dem Ziel der praktischen Verwirklichung der formalen Gleichstellung der Geschlechter.

Im Amsterdamer Vertrag vom 1. Mai 1999 wurde zum ersten Mal auf der Ebene der Europäischen Union der Gender Mainstreaming-Ansatz verbindlich festgeschrieben. Im Vertrag von Lissabon 2008 ist die Verpflichtung der EU zu Gender Mainstreaming in Artikel 8 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union fixiert.

1.2. Deutschland

Für Deutschland ist die Verpflichtung des Staates für eine aktive und wirkungsvolle Gleichstellungspolitik im Grundgesetz (Grundgesetz, Artikel 3 Absatz 2 Satz 1f) festgehalten. 1999 wurde Geschlechtergerechtigkeit als durchgängiges Leitprinzip von Regierungshandeln anerkannt, nach § 2 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO) haben alle Ressorts der Bundesregierung das Leitprinzip der Geschlechtergerechtigkeit bei allen politischen, normgebenden und verwaltenden Maßnahmen der Bundesregierung zu berücksichtigen (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2016).

2. Umfassendes Konzept von Geschlechtergerechtigkeit

Geschlechtergerechtigkeit markiert also den Zugang zu allen Lebensmöglichkeiten ohne Eingrenzung aufgrund des Geschlechts oder der Zweigeschlechtlichkeit. Sie ist Aufgabe aller an der Gesellschaft beteiligten Kräfte und basiert auf dem Konzept von Heterogenität, Diversity und Inklusion, das heißt, dass die Verschiedenheit im Blick auf sozialen, familiären, kulturellen Hintergrund sowie im Blick auf Alter, Geschlecht, Bildung, Begabungen u.a. die Normalität ist und dass alle Menschen in ihrer Verschiedenheit Zugang zu allen gesellschaftlichen und politischen Prozessen haben. Faktische Gleichstellung umfasst alle Lebensbereiche und erfordert Maßnahmen in allen Bereichen der Gesellschaft.

3. Geschlechtergerechtigkeit im pädagogischen Kontext

Ziel geschlechtergerechter Bildung ist der barrierefreie Zugang zu allen Bildungsmöglichkeiten sowie der soziale Anschluss und die gesellschaftliche Integration für Männer und Frauen. Geschlechtergerechtigkeit nimmt die Individualität der Lernenden im Sinne lebenslangen Lernens in den Mittelpunkt und fördert deren Entwicklung mit vielfältigen Möglichkeiten (→ Bildung). Dies erfordert eine „Pädagogik der Vielfalt“ (Prengel, 2006).

Geschlechterungerechtigkeit im Bildungsbereich ist im unterschiedlichen Erfolg in Bildungsprozessen sichtbar, während Mädchen bessere Ausbildungsabschlüsse erzielen, sind Jungen im Berufsleben bzgl. Einkommen und Fortkommen erfolgreicher. Fächerspezifische Zuordnungen sind nach wie vor ebenso vorhanden wie Unterschiede im sozialen Verhalten sowie in der Anzahl diagnostizierter Auffälligkeiten u.a.m. (→ Mädchen/Frauen; → Jungen/Männer).

Geschlechtergerechte Bildung nimmt die Rahmenbedingungen von Bildung in den Blick und schafft ressourcenorientierte Maßnahmen (z.B. finanziell, zeitlich). Geschlechtergerechtigkeit im pädagogischen Kontext schließt geschlechtersensibles und geschlechterbewusstes Bewusstsein und Handeln ein, die aktive und erkennbare Berücksichtigung der jeweiligen Situation von Mädchen und Jungen, Frauen und Männern wurzelt in der Erkenntnis, dass es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt. Pädagogisch-didaktisch bedeutet es eine Abkehr von lehrerinnen- und lehrerzentriertem Frontalunterricht, offene Unterrichtsgestaltung mit verschiedenen Lernangeboten ermöglicht ein Lernen in Vielfalt, auch in der Vielfalt von Gender. Konkrete Umsetzung im Bereich von Schule geschieht z.B. durch

  • Individualisierung der Lernangebote für Schülerinnen und Schüler,
  • Überprüfen von Lehrplänen und Schulbüchern, von Inhalten und Lernwegen unter Genderperspektive,
  • durch die konsequente Verwendung von geschlechtergerechter Sprache,
  • durch Diskussion, Reflexion und Korrektur eigener und kollektiver Geschlechterbilder,
  • durch die modellhafte Genderbewusstheit der Lehrpersonen und der Schule insgesamt
  • u.a.m.

4. Geschlechtergerechtigkeit im religionspädagogischen Kontext

Neben allen Aspekten, die für die Pädagogik gelten, wird der Blick im Religionsunterricht ergänzt durch die bewusste Gender-Reflexion der jeweiligen Religion in Tradition und Gegenwart, der religiösen Inhalte und der religiösen Praxis sowie durch die kritische Reflexion der Genderfrage im religionskundlichen Dialog.

Auch im Blick auf außerschulische Lernorte ist Geschlechtergerechtigkeit eine bedeutsame Perspektive, wenn es z.B. entlang der Sakramente und zentralen Feiern im Verlauf des Lebens um Rollenbilder von Mann und Frau geht, um Familienbilder und Erwartungen bezüglich geschlechtsspezifischem Verhalten gegenüber Jungen und Mädchen. Oder wenn es in der Jugendarbeit um gendergerechte und gendersensible Angebote, z.B. in freizeit- und erlebnispädagogischen Angeboten, geht.

Literaturverzeichnis

  • Becker, Ruth/Kortendiek, Beate (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden 2004.
  • Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Strategie „Gender Mainstreaming“, o.O. 19.02.2016. Online unter: http://www.bmfsfj.de/BMFSFJ/gleichstellung,did=192702.html, abgerufen am 19.2.2016.
  • Budde, Jürgen/Scholand, Barbara/Faulstich-Wieland, Hannelore, Geschlechtergerechtigkeit in der Schule. Eine Studie zu Chancen, Blockaden und Perspektiven einer gender-sensiblen Schulkultur, Veröffentlichungen der Max-Traeger-Stiftung 44, Weinheim 2008.
  • Herwartz-Emden, Leonie (Hg. u.a.), Mädchen in der Schule. Empirische Studien zu Heterogenität in monoedukativen und koedukativen Kontexten, Leverkusen 2010.
  • Knauth, Thorsten (Hg. u.a.), KU – weil ich ein Junge bin. Ideen – Konzeptionen – Modelle für jungengerechten RU, Gütersloh 2002.
  • Obenauer, Andreas, Reli für Jungs. Didaktische Impulse für einen jungengerechten Religionsunterricht, Göttingen 2014.
  • Pemsel-Maier, Sabine (Hg.), Blickpunkt Gender. Anstöß(ig)e(s) aus Theologie und Religionspädagogik, Frankfurt a. M. 2013.
  • Pithan, Annebelle (Hg. u.a.), Gender – Religion – Bildung. Beiträge zu einer Religionspädagogik der Vielfalt, Gütersloh 2009.
  • Prengel, Annedore, Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik, Wiesbaden 3. Aufl. 2006.
  • Qualbrink, Andrea/Pithan, Annebelle/Wischer, Mariele (Hg.), Geschlechter bilden. Perspektiven für einen genderbewussten Religionsunterricht, Gütersloh 2011.
  • Rendtdorff, Barbara, Bildung der Geschlechter, Stuttgart 2011.
  • Wacker, Marie-Theres/Rieger-Goertz, Stefanie (Hg.), Mannsbilder. Kritische Männerforschung und Frauenforschung im Gespräch, Berlin u.a. 2006.
  • Walgenbach, Katharina, Heterogenität – Intersektionalität – Diversity in der Erziehungswissenschaft, Stuttgart 2014.

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