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Gemeinwohl

(erstellt: Februar 2016)

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1. Begriffsgebrauch

Der Begriff Gemeinwohl zielt auf den Ausgleich divergierender Interessen zwischen Einzelnen und Gruppen. Ursprünglich in staatsrechtlichen und staatsethischenKontexten zu finden, wird er heute mehr und mehr in politischen sowie in sozial-, wirtschafts- und bioethischen Zusammenhängen verwendet. Auf allen Bedeutungsebenen geht es darum, Partikularinteressen gegenüber Universalinteressen auszugleichen, um das Wohl des Gemeinwesens zu stärken. Der Begriff Gemeinwohl hat eine doppelte Aussage: Er zielt zum einen auf die Voraussetzung für den Zusammenhalt pluraler Gesellschaften (Wohl der Gemeinschaft im Sinne eines genitivus subiectivus, Klammer-Hinzufügung H.L.), zum anderen auf das Resultat funktionierender gesellschaftlicher Austauschprozesse (Wohl für die Gemeinschaft im Sinne eines genitivus obiectivus, Klammer-Hinzufügung H.L.) (Herrmann/Neuberth, 1998, 49). Kritisch muss hierzu auch die Frage betrachtet werden, ob es generell einen Vorrang der Gemeinschaftsinteressen gegenüber den Rechten der → Person geben kann: „Wie weit reicht das Gemeinwohlziel zur Legitimation von Herrschaft und zur Beschränkung individueller Freiheit?“ (Fetzer/Gerlach, 1998, 142).

Die Fähigkeit Einzelinteressen auch unter dem Blickwinkel von Gemeinschaftsinteressen sehen zu können, stellt einen Bildungs- und Erziehungsauftrag dar, der sich schon seit den Reformatoren herauskristallisierte und heute beispielsweise im allgemeinen Teil von Lehrplänen (→ Lehrplan) für Schulen unter der Formulierung „Selbstverwirklichung in sozialer Verantwortung“ niedergeschlagen hat (Der Kultusminister des Landes NRW, 1981, 14).

2. Gesellschaft und Theologie

2.1. Gemeinwohl in der Sozial- und Wirtschaftsethik

Die Bindung und Rückbindung der Menschen als aufeinander bezogene Wesen werden naturrechtlich nach Oswald von Nell-Breuning als ein „im Schöpferwillen Gottes fundiertes soziales Grundprinzip“ aufgefasst (Meireis, 2015, 288). Hierbei handelt es sich nach katholischer Deutung nicht um ein Strukturprinzip, sondern um ein Seinsprinzip von → Solidarität (Meireis, 2015, 289). Mehr zum Gemeinwohlbegriff in der katholischen Soziallehre, siehe unter Utz, 1987, 83-117), wonach Menschen dazu bestimmt sind, diese wechselseitige Beziehung auch handelnd zu realisieren: „Gemeinverstrickung und Gemeinhaftung erfließen mit Notwendigkeit aus der Natur des Menschen […] Es gibt keine Gemeinschaft und es kann keine geben, in der das Solidaritätsprinzip nicht gilt“ (Meireis, 2015, 289). Unterschiedliche Ausprägungen des Gemeinwohls entstehen dadurch, dass sich die Gemeinschaften durch ihr jeweiliges Gemeingut, ihre gesellschaftliche Zielsetzung, voneinander unterscheiden (ebd.). In der Denkschrift „Gemeinwohl und Eigennutz“ von 1991 wird die Einbindung von Eigennutz in die Ordnung der Gegenseitigkeit durch das Gebot der → Nächstenliebe thematisiert (Kirchenamt der EKD, 1991, 99). Daraus resultiert in wirtschaftsethischer Hinsicht eine Verantwortung der Sozialparteien, also der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften, im Sinne des Leitbildes der Sozialpartnerschaft (Jähnichen, 2015, 381). Auf Basis der im → Grundgesetz in Artikel 9 verankerten Vereinigungsfreiheit sollen in der Idee der Sozialpartnerschaft, die sich im Betriebsverfassungsgesetz von 1952 niederschlägt, unterschiedliche Interessen ausbalanciert und „der Orientierung am Gemeinwohl untergeordnet werden“ (Jähnichen, 2015, 382). Somit trägt die Sozialpartnerschaft maßgeblich zum sozial-irenischen Charakter der Marktwirtschaft bei, indem sich die Sozialparteien am Gemeinwohl zur Aufrechterhaltung und Stabilisierung des sozialen Friedens orientieren (ebd.). Die Kultur der Mitverantwortung und der Sozialpartnerschaft stellen zentrale Gedanken evangelischer Sozialethik (→ Ethik) dar. In einem gemeinsamen Papier „Für eine Zukunft in Solidariatät und Gerechtigkeit“ haben sich beide Kirchen für einen sozial gerechten Ausgleich in Hinsicht auf ein friedliches und gedeihliches Zusammenleben aller Menschen in der Gesellschaft ausgesprochen (Kirchenamt der EKD/Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 1997, 48). Die Gegenseitigkeit von Eigeninitiativen, von Arbeitsleistung Einzelner und gemeinschaftsorientiertem Handeln im Sinne des Gemeinwohls aller funktioniert aber nur dann, wenn dem Prinzip der Solidarität auch das der → Subsidiarität zur Seite gestellt wird, indem „einzelne und kleinere Gemeinschaften den Freiraum bekommen, den sie benötigen, um sich eigenständig und eigenverantwortlich entfalten zu können“ (Kirchenamt der EKD/Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 1997, 48). Die Einbindung und das Zusammenwirken von Sozialpartnern spiegelt sich heute im dualen beruflichen Schulsystem (→ Religionsunterricht, Berufliche Bildung) in Deutschland wider (Jähnichen, 2015, 383).

2.2. Gemeinwohl in Recht und Politik

Die aufklärerische Ethik ordnet die Einzelinteressen nicht nur dem Gemeinwohl unter, sondern formuliert Zielvorstellungen, nach denen das Gemeinwohl die Konsequenz des rational reflektierten Handelns des Einzelnen ist (Anselm, 2015, 205). Dies bezieht sich imperativisch in den allgemeinen Maximen von Immanuel Kant auf ein Handlungs subjekt: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (Kant, WA VII, 140). Allgemein bezeichnet dementsprechend die Gültigkeit dieser Gesetzgebung für jeden Menschen; denn das Gesetz wird als prinzipiell gegeben angesehen aufgrund der reinen Vernunft und nicht etwa als ein empirisch aufweisbares auf der Grundlage von konkreten Einzelfällen (Kant, WA VII, 141). Dementsprechend hat der Gedanke des Allgemein-Gültigen Einzug im Prinzipienrecht deutschsprachiger Länder erhalten und steht in Kontrast zum Case-Law des angelsächsischen Rechts (Lindner, 2008, 164). Aus dieser Handlungsmaxime, die das Wollen des Subjekts dem Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung unterwirft, entsteht im Idealfall sowohl ein solidarisches Zusammenleben aller Gruppierungen in der Gesellschaft, als auch auf der Ebene des Gemeinwesens subsidiär die Sicherstellung der Entfaltungsfreiheit des Einzelnen (Kirchenamt der EKD/Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 1997, 48). Mit dem Prinzip der Subsidiarität werden also Gemeinschaftsanliegen zugunsten von Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen beschränkt, was ebenfalls Ausdruck und Anliegen des Gemeinwohlgedankens ist. Diese Verhältnisbestimmung drückt sich – gleichsam als Generalschlüssel des Staatskirchenrechts (→ Kirche, Staat) – im Gedanken der → Neutralität aus, dass sich der Staat „auf säkulare Rahmennormen zum Schutz des religiösen Selbstverständnisses in den Schranken des Gemeinwohls“ (Huber, 2015, 187) zu beschränken hat. Die Neutralität des Staates hat eine positive Seite, indem dem Einzelnen und den Religionsgemeinschaften entfaltungsrechtlich die → Religionsfreiheit ermöglicht wird (Lindner, 2008, 254), und eine negative, die staatliche Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften fernhält (Huber, 2015, 187). Zwischen diesen staatkirchenrechtlichen Koordinaten konstituiert sich der Religionsunterricht (→ Religionsunterricht, Recht) nach Artikel 7 (3) des Grundgesetzes.

Ein Gemeinwesen kann politisch nur dann funktionieren, wenn auch zivilgesellschaftliche Engagements entsprechend gewürdigt werden. Daher lässt sich in Weiterentwicklung der Fünften These aus der Barmer Theologischen Erklärung das eigenständige Bürgerengagement im Staat als Ausdruck einer partizipativen Gesellschaft herausstellen (Anselm, 2015, 227): „Wenn wir heute von der nach ‚göttlicher Anordnung‘ dem Staat zukommenden Aufgabe (Barmen V) sprechen, dann richtet sich diese ‚Anordnung‘ in einer Demokratie in erster Linie an die politische Verantwortung der Bürger, die den Staat bilden“ (EKD, 1985, 17).

3. Gemeinwohl im Kontext von Bildung und Erziehung

Eine gemeinwesenorientierte Religionspädagogik (Schröder, 2012, 701-702) kann einen Beitrag leisten zur Initiierung von und Mitwirkung in Verein(-igung)en, wie zum Beispiel in Stadtteilprojekten, zur interkulturellen Verständigung oder zu gemeindekulturellen Angeboten, und somit das ökumenische Lernen (→ Ökumene) für eine Erziehung zur Toleranz fördern. Damit ist bildungstheoretisch ein funktionaler Bildungsbegriff impliziert, der bereits in der Reformationszeit (→ Reformation) auf den Nutzen für die Gesellschaft ausgerichtet ist. Für Martin Luther geht es dabei stets um Erhalt und Verbesserung bestehender Ordnungen, der sozialen Systeme und Gefüge (Preul, 2013, 112). Die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten der jeweiligen Akteure werden in seiner Zwei-Regimenter-Lehre transparent – danach richtet sich das Gesamtziel der christlichen Erziehung auf ein für das bonum commune förderliches Handeln (Preul, 2013, 114). Alle Ämter und die ihnen möglichen guten Werke wirken zum gemeinsamen Wohl zusammen, „die Eltern sollen die Auswirkungen der Erziehung in Familie, Kirche und Schule auf das gesellschaftliche Gesamtleben erkennen“ (Preul, 2013, 115) und auch „gerade die Kinder armer Leute [sind] durch Bildung zur Übernahme gesamtgesellschaftlicher Verantwortung von Gott berufen“ (Preul, 2013, 116). Umgekehrt ist die allgemeine Wohlfahrt für Luther vom Vorhandensein gebildeter Personen/Christenmenschen abhängig (Preul, 2013, 116). Der Übergang zur heutigen Kompetenzorientierung (→ Kompetenzen, religionspädagogische; → Kompetenzorientierter Religionsunterricht) in der Pädagogik ist fließend: „Wenn Bildung zu Gottes Dienst befähigen soll, dann muss sie Bildung zum rechten Gebrauch und Verständnis der ‚Freiheit eines Christenmenschen‘ sein. Ausübung der Freiheit geschieht durch Handeln. Von daher dürfen wir Luther grundsätzlich für unser kategoriales Bildungsverständnis – Bildung als gesteigerte und über sich selbst ins Bild gesetzte Handlungsfähigkeit – in Anspruch nehmen“ (Preul, 2013, 117). Diese reformatorische Erkenntnis lässt sich auch heute bildungspolitisch als eine reflexive → Bildungstheorie verstehen (Nipkow, 2003, 156), welche die gegenseitige Verflochtenheit von Pädagogik und Theologie in ihrem gesamtgesellschaftlichen Kontext offen legt. Vor diesem Hintergrund sprechen die zentralen Bildungsdenkschriften der EKD und der Deutschen Bischöfe von einer (Mit-)Verantwortung der → Kirche für die Zukunft der jüngeren Generation (EKD, 1994, 20f.; DBK 1996, 17; EKD, 2003, 26). Die Kirchen beteiligen sich am öffentlichen Bildungsauftrag zugunsten einer gesellschaftlichen Erneuerung im Sinne des Gemeinwohls. Dies geschieht durch alle Formen und Institutionen religiöser Bildung und Erziehung, die seitens der Kirchen angeboten werden.

Literaturverzeichnis

  • Die Deutschen Bischöfe (DBK, Hg.), Die bildende Kraft des Religionsunterrichts. Zur Konfessionalität des katholischen Religionsunterrichts, Bonn 1996.
  • EKD, s.u. Kirchenamt der EKD.
  • Fetzer, Joachim/Gerlach, Jochen, Berechtigtes Anliegen und verschleiernde Rhetorik. 10 Thesen zum „Gemeinwohl“, in: Fetzer, Joachim/Gerlach, Jochen, Gemeinwohl – mehr als gut gemeint? Klärungen und Anstöße, Gütersloh 1998, 142-149.
  • Herrmann, Ute/Neuberth, Rudi, Gemeinwohl als Produkt gesellschaftlicher Austauschprozesse betrachtet – ein Ausblick, in: Fetzer, Joachim/Gerlach, Jochen (Hg.), Gemeinwohl – mehr als gut gemeint? Klärungen und Anstöße, Gütersloh 1998, 49-50.
  • Huber, Wolfgang, Rechtsethik, in: Huber, Wolfgang/Meireis, Torsten/Reuter, Hans-Richard (Hg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, 125-193.
  • Huber, Wolfgang/Meireis, Torsten/Reuter, Hans-Richard (Hg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015.
  • Jähnichen, Traugott, Wirtschaftsethik, in: Huber, Wolfgang/Meireis, Torsten/Reuter, Hans-Richard (Hg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, 331-400.
  • Kant, Immanuel, Kritik der praktischen Vernunft, WA VII, Weischedel, Wilhelm (Hg.), Frankfurt a. M. 1974.
  • Kirchenamt der EKD (Hg.), Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft. Eine Denkschrift, Gütersloh 2003.
  • Kirchenamt der EKD (Hg.), Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität, Eine Denkschrift, Gütersloh 1994.
  • Kirchenamt der EKD (Hg.), Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln in Verantwortung für die Zukunft, Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1991.
  • Kirchenamt der EKD (Hg.), Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe, Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Hannover 1985.
  • Kirchenamt der EKD/Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Für eine Zukunft in Solidariatät und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, Hannover/Bonn 1997.
  • Der Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Richtlinien für die gymnasiale Oberstufe in Nordrhein-Westfalen, Evangelische Religionslehre, Köln 1981.
  • Lindner, Heike, Bildung, Erziehung und Religion in Europa. Politische, rechtshermeneutische und pädagogische Untersuchungen zum europäischen Bildungsauftrag in evangelischer Perspektive, Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs 6, Berlin/New York 2008.
  • Meireis, Torsten, Ethik des Sozialen, in: Huber, Wolfgang/Meireis, Torsten/Reuter, Hans-Richard (Hg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, 265-329.
  • Nipkow, Karl E., Zur Bildungspolitik der evangelischen Kirche. Eine historisch-systematische Studie, in: Biehl, Peter/Nipkow, Karl E., Bildung und Bildungspolitik in theologischer Perspektive, Schriften aus dem Comenius-Institut 7, Münster 2003, 153-262.
  • Preul, Reiner, Evangelische Bildungstheorie, Leipzig 2013.
  • Schröder, Bernd, Religionspädagogik, Tübingen 2012.
  • Utz, Arthur F., Der Gemeinwohlbegriff der katholischen Soziallehre und seine Anwendung auf die Bestimmung der Wohlfahrt, in: Müller, J. Heinz (Hg.), Wohlfahrtsökonomik und Gemeinwohl, Rechts- und Staatswissenschaftlich Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, Neue Folge Heft 51, Paderborn 1987, 83-118.

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