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Bildungsstandards

(erstellt: Februar 2018)

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1. Bildungspolitische Hintergründe

Das Jahr 2004 markierte durch die Einführung neuer Bildungspläne in Baden-Württemberg einen Paradigmenwechsel in deutschen Schul- und Hochschulsystemen: Mit der Wendung von input- zu outputorientierter beziehungsweise von lernziel- zu kompetenzorientierter Bildung erhoffte man sich eine Qualitätssteigerung in den Bildungsabschlüssen, um den Lernenden Partizipation in der Gesellschaft und bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Hintergrund dieser Entwicklung waren Anstrengungen der EU-Kommission, die sich als Antwort auf Globalisierung im sogenannten Leitziel von Lissabon im Jahr 2000 manifestierten, „die Europäische Union zum wettbewerbfähigsten und dynamischsten [sic!] wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen“ (Lindner, 2008, 43). Diese Zielsetzung sollte das Wirtschaftswachstum unter Sicherung des Standortes Europa im Rahmen globaler Wettbewerbsprozesse fördern.

Internationale Vergleichsstudien, wie zum Beispiel TIMSS oder PISA, die im Auftrag der OECD insbesondere Lesefähigkeiten und mathematische und naturwissenschaftliche Grundbildung der Schülerinnen und Schüler untersuchten (OECD, 2005a, 5; OECD, 2005b, 32), hatten Deutschland lediglich einen Platz im Mittelfeld des Ländervergleichs bescheinigt. Die Kultusministerkonferenz sah infolge dieser Testergebnisse die Notwendigkeit eines grundsätzlichen Umbaus der Bildungssysteme durch Einführung von Bildungsstandards (Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz aus den Jahren 2003/2004: KMK, o.J.).

Zum Testen der Lesekompetenz (literacy) legte das PISA-Konsortium Kategorien von universalisierten Basisqualifikationen vor (Deutsches PISA-Konsortium, 2000, 78), deren Grundprinzip dem der Standardisierung von Lernleistungen entsprach, die zu einem festgelegten Zeitpunkt – zum Beispiel am Ende einer Doppeljahrgangsstufe – erwartetet werden sollten. Diese normativen Entwicklungen zeichneten sich bereits rund zwei Jahrzehnte früher im angelsächsischen Raum ab: Curricular (→ Curriculumtheorie) wurden Standardisierungen in England bereits im Erziehungsgesetz von 1988 (Education Reform Act) ausgearbeitet und hatten erhebliche Folgen im Hinblick auf den Umbau bestehender Bildungssysteme. Zentralisierung, Kompetenzorientierung, Leistungsmessung und Evaluation waren von nun an wichtige Steuerungselemente (Evans, 1997, 551-566; besonders 558). Die Standardisierung der Bildungsangebote sollte den Wettbewerb unter den Schulen in England anregen und landesweite Leistungsmessungen befördern. Dies wurde durch die Einführung eines Nationalen Curriculums ermöglicht, welches neben bestimmten Kernfächern auch den Religionsunterricht in den Kanon aufnahm: „The purpose of the national curriculum is to establish entitlement and standards, and to promote continuity, coherence and public understanding“ (Qualifications and Curriculum Authority, 2003, 14). Der Zunahme zentralisierender Steuerungsprozesse stand die Schwächung von Einflüssen regionaler Bildungsbehörden gegenüber.

1997 wurde ein Benchmarking-System in England eingeführt (Elsenbast/Fischer/Schreiner, 2004, 23), um die Qualität der schulischen Bildung durch allgemeine Normvorgaben und Zielbeschreibungen in detaillierten Kriterienkatalogen zu verbessern. Dieses Benchmarking-System übernahm die EU-Kommission im Jahr 2002 für die Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung in Europa (Lindner, 2008, 77) als Reaktion auf die Testergebnisse der internationalen Vergleichsstudien und vor dem Hintergrund des lebenslangen Lehrens und Lernens, welches bereits im Jahr 1995 im Weißbuch „Lehren und Lernen“ (EU-Kommission, 1995) als Zielsetzung festgelegt worden war. Mit diesen europapolitischen Entscheidungen nahm die Verbreitung der genannten bildungspolitischen Konstruktionen und Normierungen in den einzelnen Mitgliedstaaten ihren Lauf:

„Fünf europäische ‚Benchmarks‘ (= Zielpunkte) für die Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung in Europa [...]:

  1. 1.Bis 2010 sollen alle Mitgliedstaaten die Zahl der Schulabbrecher im Verhältnis zur Quote im Jahr 2000 mindestens halbieren (von derzeit 19 % auf höchstens 9 %).
  2. 2.Bis 2010 haben alle Mitgliedstaaten das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern bei den Hochschulabsolventen/-innen in den Bereichen Mathematik, Naturwissenschaften und Technik mindestens halbiert und auch dafür gesorgt, dass sich die Gesamtzahl der Absolventen gegenüber 2000 signifikant erhöht ... Daher sollen die Bildungssysteme besonders Mädchen motivieren, sich in der Grundschule, der Sekundarstufe II und an der Hochschule für naturwissenschaftliche/technische Fächer zu entscheiden.
  3. 3.Bis 2010 sollen die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass der Anteil der 25- bis 59-Jährigen, die zumindest Sekundarstufe II abgeschlossen haben, im EU-Durchschnitt wenigstens 80 % erreicht.
  4. 4.Bis 2010 ist der Prozentsatz der 15-Jährigen, die im Bereich von Lesekompetenz, mathematischer Grundbildung und naturwissenschaftlicher Grundbildung schlechte Leistungen erzielen, in allen Mitgliedstaaten mindestens zu halbieren.
  5. 5.Bis 2010 sollen sich im EU-Durchschnitt mindestens 15 % der Erwachsenen im erwerbstätigen Alter (Altersgruppe 26-64 Jahre) am lebenslangen Lernen beteiligen“ (Lindner, 2008, 77).

Der Umbau der Bildungssysteme und die Implementierung standardisierter Curricula in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union wirkten sich konsequenterweise auch auf den Hochschulraum aus. Dessen Reformen für die außerschulischen Studiengänge und für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung sollten beitragen zur

  • Erhöhung der Mobilität durch Harmonisierungs- und Angleichungsprozesse der (Aus-)Bildungsstrukturen und der Bildungsabschlüsse im → Bologna-Prozess (in Deutschland umgesetzt aufgrund der Beschlüsse der Kultusministerkonferenz aus dem Jahr 2003 für die Hochschulsysteme),
  • Angleichung der Bildungsstrukturen und -abschlüsse durch die Einführung von modularisierten Studiengängen und Standards,
  • Qualitätskontrolle der Learning Outcomes auf der Grundlage von kontinuierlicher Evaluation,
  • Verbesserung der Einsetzbarkeit von Menschen auf dem Arbeitsmarkt durch Anhebung der Bildungsqualifikationen,
  • Verbesserung der Wirtschaftskraft durch sogenanntes Humankapital, das nach eigenen Angaben verstanden wird als „produktiver Bildungsstand in Form von Arbeitskraft, Fähigkeiten und Wissen“ (Lindner, 2008, 10, dort Anmerkung 15).

Die schulische Bildungspolitik in Deutschland reagierte auf diese Entwicklung mit der Einführung des achtjährigen Gymnasiums, der Ausweisung von nationalen Bildungsstandards für Schulfächer (infolge der Testergebnisse vor allem in Deutsch, Mathematik, Fremdsprachen und Naturwissenschaften) und der Etablierung von zentralen Zwischen- und Abschlussprüfungen. Diesen Prozess regte die Kultusministerkonferenz (KMK) an mit Schulleistungsstudien durch Qualitätssicherungsmaßnahmen, wie zum Beispiel internen und externen Evaluationen, und zentralen Prüfungen. Die KMK sieht einen besonderen Schwerpunkt ihrer Arbeit in der Einführung bundesweit geltender, nationaler, Bildungsstandards. Ebenfalls Folge dieser Prozesse waren Diskussionen um ein Kerncurriculum, das auf der Grundlage eingeführter Mindeststandards zur Sicherung von Grundbildung in den Fächern beitragen sollte.

2. Bildungstheoretische Einordnung

Betrachtet man die dargestellten bildungspolitischen Entwicklungslinien, so kann die klassische Definition für Bildungsstandards, die Eckard Klieme in der Bildungsexpertise aus dem Jahr 2003 niederlegte, in ihrer Gültigkeit bis heute bestätigt werden:

„Standards werden international als normative Vorgaben für die Steuerung von Bildungssystemen verstanden. [...] [Sie] sind ergebnisbezogen. [...] Sie orientieren sich an allgemeinen Bildungszielen, und sie sind prinzipiell umsetzbar (operationalisierbar) in Aufgaben und Testskalen. Außerdem wird empfohlen, im Rahmen von Kompetenzmodellen verschiedene Stufungen von Kompetenzen zu unterscheiden, darunter aber eine bestimmte Kompetenzstufe als Mindeststandard auszuweisen“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2003, 32f., Hervorhebung im Original).

Die Konstruktion dieser normativen Vorgaben beruht auf einem formalen Bildungsbegriff, der im Unterschied zur materialen Bildung die Operationalisierbarkeit und damit die Messbarkeit von Learning Outcomes in den Mittelpunkt stellt und sieben Merkmale aufweist, welche ihre Qualität bestimmen sollen: Fachlichkeit, Fokussierung (auf den Kernbereich), Kumulativität (vernetztes Lernen), Verbindlichkeit für alle am Lernprozess Beteiligten, Differenzierung zwischen Kompetenzstufen, um Lernentwicklungen verstehbar zu machen, Verständlichkeit und Realisierbarkeit (Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2003, 24-29). Damit hat die Bildungspolitik einen kumulativen Wissensbegriff in den Mittelpunkt gestellt, der – im wörtlichen Sinn – die Anhäufung von Gelerntem ausdrückt. Andere Ausrichtungen, wie zum Beispiel kompilierende, kontemplative, kontextuelle, analytisch-kritische oder hermeneutische Verfahren, sind nicht im Blick, diese gehören jedoch auch zum Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten bis hin zum kritischen Denken: „Kompetenzorientiertes Lernen vollzieht sich nicht einfach als Addition von Wissenselementen und Teilfähigkeiten, auch nicht schlicht linear, sondern in entwicklungspsychologisch bedingten Stufen, mit Brüchen und Transformationen“ (Obst, 2008, 201). Wichtig wäre außerdem eine sinnvolle Kombination von Fachlichkeit beziehungsweise Fachwissen mit Orientierungswissen im Sinne eines breit angelegten Bildungsbegriffs, der über die bloße Kumulation von Informationen hinausgeht. Wissen, Information und Orientierung müssen aufeinander bezogen bleiben, um kritisches Urteilsvermögen herausbilden zu können.

Ungeklärt bleibt zudem die Frage, wie das Verhältnis von geforderter Fachlichkeit und wahrnehmungspsychologischer Ausrichtung am Lernenden als Individuum prozessual empirisch beobachtet und didaktisch adäquat begleitet werden kann. Bis heute fehlen empirisch valide Messergebnisse über die tatsächliche Wirksamkeit dieser normativen Vorgaben und ihrer Kompetenzorientierung in Lehr- und Lernprozessen beim einzelnen Subjekt (Rothgangel, 2009, 103). Für die empirische Forschung (→ Empirie) in der religiösen Bildung kann das Berliner DFG-Projekt herangezogen werden, das Dietrich Benner und Rolf Schieder 2006 unter dem Titel durchführten: „Konstruktion und Erhebung von Religiösen Kompetenzniveaus im Religionsunterricht am Beispiel des Evangelischen Religionsunterrichts (ev. RU)“ (Benner u.a., 2011). Aber auch hier liegt der Fokus auf der Erhebung von Kompetenzniveaus und nicht auf der Erfassung der Entwicklung von Kompetenzen in Lernprozessen. Diese repräsentative empirische Untersuchung wurde durchgeführt im Bereich religiöser Deute- und religiöser Partizipationskompetenz. Hierzu wurde die religiöse → Kompetenz der Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe I aufgrund von Testaufgaben gemessen und anhand von Kompetenzniveaus analysiert bezüglich der Teilkompetenzen religiöse Deutung und religiöse Partizipation, die sie zu einem bestimmten Messzeitpunkt erworben hatten. Die Testaufgaben wurden so formuliert, dass unterschiedliche Anforderungsniveaus damit ausgedrückt werden konnten (Nikolova u.a., 2007, 79). Zur hermeneutischen Kompetenz wurden die Niveaustufen sehr genau ausdifferenziert und kumulativ strukturiert (Nikolova u.a., 2007, 81). Diese Vorgehensweise greift somit die unterschiedlichen Lerneigenschaften und -stände der Schülerinnen und Schüler auf und stellt eine übertragbare Umgangsweise mit der Erfassung von Lernständen auf der Grundlage eines Kompetenzmodells vor.

Während die Bildungsexpertise die Ausweisung von Mindeststandards empfiehlt (Nikolova u.a., 2007, 27), sind in den meisten Lehrplänen Regelstandards zu finden, um ein Durchschnittsniveau der zu erreichenden Leistungserwartungen festzulegen. Diese Entwicklung hat jedoch heute insbesondere angesichts der Zunahme heterogener Lernvoraussetzungen in den Klassen und Kursen und erst recht in inklusionspädagogischen Kontexten (→ Inklusion) zu erheblichen Schwierigkeiten geführt, weil es hier vor allem um die Ausweisung differenzierter Lehr- und Lernleistungen geht. Die Unterrichtenden streben vor allem eine Balance zwischen gemeinsamen und individuellen Lernprozessen an, welche die unterschiedlichen Lernwege und -tempi der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt. Hier wäre es sinnvoll, wie im Berliner Modell, für die erwarteten Lernleistungen zunächst einmal von Mindeststandards auszugehen, danach Regel- und Maximalstandards weiterzuentwickeln, um auf diesen drei Ebenen Niveaukonkretisierungen auszudifferenzieren (die meisten Bundesländer verfügen lediglich über Regelstandards, die den Herausforderungen heterogener Lerngruppen nicht gerecht werden, in Baden-Württemberg sind Niveaukonkretisierungen – allerdings hier auch auf mittlerem Anforderungsniveau – bereits curriculare Praxis). Dazu wäre ein weiter Inklusionsbegriff zielführend, der Lernende mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen, mit verschiedenen (Erst-)Sprachen und unterschiedlichen kulturellen und religiösen Hintergründen aufgrund von Flucht- und Migrationserfahrungen, mit Hochbegabung und auch im Hinblick auf Genderaspekte (→ Gender) gleichermaßen berücksichtigt.

In der praktischen Umsetzung von Bildungsstandards im Schulalltag liegt eine weitere Schwierigkeit in der mangelnden begrifflichen Trennschärfe zwischen Bildungsstandard, Bildungsziel und Kompetenz.

3. Bildungsverantwortung für den Religionsunterricht

Die deutsche Bischofskonferenz reagierte auf die KMK-Vorgaben durch „Kirchliche Richtlinien zu Bildungsstandards für den katholischen Religionsunterricht in den Jahrgangsstufen 5-10/Sekundarstufe I (Mittlerer Schulabschluss)“, indem sie sich auf den Beschluss der Würzburger Synode „Der Religionsunterricht in der Schule“ (1974) und die Verlautbarung der Deutschen Bischöfe „Die bildende Kraft des Religionsunterrichts“ (1996) bezog (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 2004, 8f.). Damit greift die katholische Kirche die KMK-Entwürfe zu den nationalen Bildungsstandards auf und erläutert „die Bedeutung und die Grenzen von Bildungsstandards im kirchlichen Konzept religiöser Bildung“ (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 2004, 5). Diese Richtlinien entwerfen den Teil der Ziele des katholischen Religionsunterrichts, der durch Bildungsstandards gefasst werden kann, und formulieren gleichzeitig den Mehrwert, der über bloßes Informationswissen hinausgeht:

„[Die Schülerinnen und Schüler] sollen Religion als einen zentralen Bereich menschlicher Wirklichkeit und menschlicher Lebensvollzüge wahrnehmen und verstehen lernen und wesentliche Inhalte des christlichen Glaubens sowie die Orientierungsleistung der christlichen Religion für die menschliche Lebensgestaltung kennen lernen. Dabei geht es im Religionsunterricht ‚nicht nur um Bescheidwissen über Religion und Glaube, sondern immer auch um Ermöglichung von Religion und Glaube selbst‘“ (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 2004, 9).

Damit grenzt sich der Text im Sinne einer → Bildungsverantwortung gegenüber einem vornehmlich formalen kompetenzorientierten Bildungsbegriff ab, welcher in erster Linie auf Operationalisierbarkeit und Evaluierbarkeit von Wissen beruht.

„Dabei liegt der Fortschritt des Ansatzes

  • in der Bereitschaft, das bildungspolitische Konzept der Bildungsstandards samt seinen Implikationen (Überprüfung, Evaluation, Kerncurricula etc.) zu übernehmen und auf den RU anzuwenden,
  • in der Verhältnisbestimmung von Kompetenzen und übergeordneter religiöser Bildung,
  • in der Begrenzung der Reichweite der Kompetenzen und Standards,
  • in der Ausdifferenzierung von Teilkompetenzen religiöser Bildung,
  • in der Betonung des Zusammenhangs von domänenspezifischer Kompetenzentwicklung und Auseinandersetzung mit konkreten fachlichen Inhalten“ (Obst, 2008, 81).

Durch den Entwurf „Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung. Zur Entwicklung des evangelischen Religionsunterrichts durch Bildungsstandards für den Abschluss der Sekundarstufe I“ (Fischer/Elsenbast, 2006) reagierte das Comenius-Institut auf die KMK-Vorgaben:

„Religion ist als Ausdruck von Glaube nicht nur wie ein besonderer Wissensbereich zu erschließen. Es geht im Religionsunterricht um die Reflexion einer Praxis und um den urteilsfähigen Zugang zu dieser Praxis: zur Religion als zu einer Kultur des Verhaltens zum Unverfügbaren“ (Fischer/Elsenbast, 2006, 14, in Bezug auf Lübbe, 2004). Der Religionsbegriff wird auf der Grundlage einer Binnen- und Außenperspektive reflektiert als Vollzug einer Religion (learning from religion) und in Form des distanzierten Nachdenkens über Religion (learning about religion), wobei die Konjunktion „und“ auch die Fähigkeit des Wechsels zwischen den beiden Perspektiven freisetzt. Die Verfasser entwerfen ein Modell „Grundlegende[r] Kompetenzen religiöser Bildung“, indem sie Dimensionen beziehungsweise Domänen der Erschließung von Religion (Perzeption, Kognition, Performanz, Interaktion und Partizipation) Gegenstandsbereichen (Subjektive Religion, Bezugsreligion des Religionsunterrichts, Andere Religionen und/oder Weltanschauungen und Religion als gesellschaftliches Phänomen) zuordnen. Damit greift diese Konstruktion die Parameter Identität und Verständigung der gleichlautenden Denkschrift der EKD (Kirchenamt der EKD, 1994) auf.

Beide kirchlichen Texte führen die Diskussion um Bildungsstandards auf einen kompetenzorientierten Religionsunterricht zu und eröffnen die Perspektive auf die Entwicklung eines Kerncurriculums als inhaltsbezogenes Grund- und Basiswissen religiöser Bildung, das am Lernort Schule in ein schulinternes Curriculum überführt werden kann. Dieses ist im Dreischritt Kompetenzmodelle, Bildungsstandards und Kerncurricula (Rothgangel, 2009, 105f.) zu sehen, dabei stellen Bildungsstandards „gewissermaßen eine domänenspezifische ‚Hochsprunglatte‘ dar, mit deren Hilfe gemessen werden kann, ob Schülerinnen und Schüler Kompetenzen einer Domäne erworben haben“ während Kerncurricula als inhaltliches Trainingsprogramm bezeichnet werden können, „damit Schülerinnen und Schüler jene domänenspezifischen Kompetenzen erwerben, um die Bildungsstandards eines Faches ‚überspringen‘ zu können“ (Rothgangel, 2009, 106).

4. Schlussfolgerungen

Im Bereich empirischer religionspädagogischer Forschung wären Projekte hinsichtlich der Frage weiterführend, wie sich die Entwicklung von Kompetenzen in religiösen Lehr- und Lernprozessen messen lässt, um Bildungsstandards hinsichtlich ihrer normativen Wirkung auf die Praxis überprüfen und entsprechend neu anpassen zu können. Hier täte der Religionspädagogik ein Blick in die empirische Bildungsforschung gut, die die Messbarkeit von Kompetenzen in den Blick nimmt. Allerdings ist es auch wichtig, die Grenzen von Kompetenzorientierung und Standardisierung zu erkennen, die sich insbesondere dort erweisen, wo im Religionsunterricht Räume eröffnet werden für eine Begegnung mit persönlichen und/oder intersubjektiven Glaubens- und Weltanschauungsfragen. Hier ist das pädagogische Überwältigungsverbot zu beachten, das Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte gleichermaßen schützt vor operationalisierbaren Übergriffen auf die eigene Person und Identität. Bildungsstandards bleiben als training on the test blind gegenüber der Eigenlogik subjektiver Bildung (Gruschka, 2006, 18). Im Religionsunterricht ereignet sich ein solcher Mehrwert der Bildung, wo Lehrende und Lernende gemeinsam zum Beispiel glaubensbezogene Fragestellungen, ästhetische Ausdrucksformen, biblische Narrationen und Symbolzuschreibungen oder interreligiöse Begegnungen erleben, durch die sie einerseits kognitiv herausgefordert, andererseits emotional berührt werden, auch das sind – vielleicht die entscheidenden – Bildungserfahrungen.

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