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(erstellt: Januar 2015)

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1. Historische und zeitgeschichtliche Schlaglichter

Der Bildungsbegriff nimmt in der pädagogischen wie religionspädagogischen Diskussion eine wichtige Stellung ein, gleichwohl ist er umstritten und vieldeutig (Preul, 2013, 33-73). Zudem zeigt der Vergleich mit anderen Sprachen, dass der deutschsprachige Begriff Bildung spezifische Besonderheiten besitzt und z.B. in der englischen Sprache ein direktes Äquivalent fehlt.

Zahlreiche Studien rekonstruieren den Bildungsbegriff historisch, wobei insbesondere ein Rekurs auf klassische Texte von Johann Gottfried Herder und Wilhelm von Humboldt (vgl. die Zusammenstellungen von Clemens Menze zu Gottfried Herder, 1985 und Wilhelm Humboldt, 1965) vorgenommen wird. Darüber hinaus kann aber auch Bezug genommen werden auf Texte der Antike (Platon), die Einbildung Gottes in die → Seele des Menschen bei Meister Eckhart sowie auf Klassiker der entstehenden Pädagogik, allen voran Johann Amos Comenius.

Als pädagogischer Begriff entsteht Bildung in der Spätaufklärung, weil der Neuhumanismus in Auseinandersetzung mit pädagogischen Bewegungen der Aufklärung (Philanthropismus) den Begriff der (Menschen-)Bildung für sich entdeckte: „Der wahre Zweck des Menschen […] ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“ (Humboldt, 2002, Bd. 1, 64).

Der Gebrauch des Bildungsbegriffs in dieser „klassischen Epoche“ ist begrifflich uneinheitlich, zugleich aber mit ethischem Pathos erfüllt und setzt hohe Erwartungen in die Bildung des Menschen für die gesellschaftliche Entwicklung. Während eine voraufklärerische Pädagogik Bildung als Aneignung der ganzen Welt (Comenius) versteht, die alle Menschen in gleicher Weise unter Gebrauch einer allen gemeinsamen Vernunft vollziehen können, so richtet sich in den Bildungskonzeptionen des deutschen Idealismus der Fokus auf das erkennende Subjekt. In ihm liegen allseitige Kräfte, mit denen der einzelne Mensch sich seine Welt erschließt beziehungsweise erschafft. Der Weg zu gesellschaftlichem Handeln führt über die gebildete Persönlichkeit. Die Kritik an dieser idealistischen Position sieht in solcher Bildungspraxis jedoch nur Unbildung (Nietzsche, 1988: Über die Zukunft unserer Bildungs-Anstalten) beziehungsweise Halbbildung (Theodor W. Adorno, 1972: Theorie der Halbbildung).

Ludwig Pongratz (2001) erkennt in dem historischen Dreischritt (Comenius, Humboldt, Adorno) grundlegende Dimensionen des Bildungsbegriffs: den Anspruch kritischer Sachkompetenz, die Notwendigkeit individueller Aneignung und das Potenzial zu gesellschaftlicher Veränderung.

Der Begriff der Bildung erlebte auch in der Folge seine Konjunkturen und Tiefpunkte, bildungskritische Einwürfe begleiten seine Geschichte. Nach einer Phase der Nichtbeachtung erfolgte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seine Wiederentdeckung. Eine wichtige Rolle spielte dabei Wolfgang Klafki (1963; 1991). Der Bildungsbegriff ermöglicht es ihm, zwei pädagogische und didaktische Spannungsfelder aufzugreifen und fruchtbar zu vermitteln: die Polarität von Individualität und Gemeinschaftlichkeit im Bildungsvorgang und die Dualität von materialen und formalen Bildungsprozessen. Das Subjekt bildet sich in Aneignungs- und Auseinandersetzungsprozessen mit objektiv-allgemeiner Inhaltlichkeit (Klafki, 1991, 15-41). Darüber hinaus bestimmt er Bildung – die aufklärerische Forderung nach Autonomie aufgreifend – als Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung, welche er um Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit (Klafki, 1991, 40) ergänzt.

Allgemeinbildung wird von Klafki auf dreifache Weise entfaltet (Klafki, 1991, 43-81): Erstens als „Bildung für alle“ (Klafki, 1991, 54), zweitens als „Bildung im Medium des Allgemeinen“ (Klafki, 1991, 56) und drittens als „vielseitige Interessen- und Fähigkeitsentwicklung“ (Klafki, 1991, 69). Letztere sind eine „polare Ergänzung zur Konzentration auf Schlüsselprobleme“ (Klafki, 1991, 69), wobei die epochaltypischen Schlüsselprobleme nach Klafki das sogenannte Kanonproblem der Allgemeinbildung lösen, die Bestimmung dessen, was zum Kanon der Bildungsinhalte gehört. Eine religionspädagogische Schattenseite dessen besteht jedoch darin, dass religiöse Inhalte zu einseitig daran gemessen werden, was sie funktional zur Lösung epochaltypischer Schlüsselprobleme beitragen.

Aus diesem Grund ziehen nicht wenige Religionspädagoginnen und Religionspädagogen gegenwärtig das Bildungsverständnis der PISA-Studie vor, das auf Ausführungen von Jürgen Baumert basiert: Es gibt verschiedene Bereiche von Bildung, vier verschiedene „Modi der Weltbegegnung“ (Baumert, 2002, 113), die in einem nichthierarchischen Verhältnis zueinander stehen und nicht voneinander abgeleitet werden können, weil sie eigene Rationalitätsformen und Praxen darstellen. Nach Baumert (Baumert, 2002, 113) handelt es sich dabei erstens um die „kognitiv-instrumentelle Modellierung der Welt“ (Mathematik, Naturwissenschaften), zweitens um die „ästhetisch-expressive Begegnung und Gestaltung“ (Sprache/Literatur, Musik/Malerei/Bildende Kunst, Physische Expression), drittens die „normativ-evaluative Auseinandersetzung mit Wirtschaft und Gesellschaft“ (Geschichte, Ökonomie, Gesellschaft/Politik, Recht) sowie viertens um „Probleme konstitutiver Rationalität“ (Religion, Philosophie). Religion ist demnach Teil des Bildungskanons, weil sie einen eigenen Weltzugang darstellt, und nicht, weil sie funktional zur Lösung von Problemen beiträgt. Diese Sichtweise kann jedoch gelegentlich so stark akzentuiert werden, dass Zusammenhänge von Religion z.B. mit ethischen oder politischen Fragen zu stark aus dem Blickfeld geraten.

Diese Rückblicke auf die Geschichte des Bildungsbegriffs zeigen, dass die in ihr zutage tretenden begrifflichen Divergenzen nicht nur auf historische Kontexte oder fachlich-positionelle Unterschiede allein zu reduzieren sind, sondern auch pädagogische Grundspannungen benennen. Auch jüngere Bildungstheorien zeigen dementsprechend eine Pluralität der Ansätze: von Bildung als pluraler Kritikfähigkeit (Benner, 2009) über Bildung als offene Identität (Mollenhauer, 1995) bis hin zu Bildung als Umgang mit Widerständigkeiten (Meyer-Drawe, 1990; Dörpinghaus/Poenitsch/Wigger, 2009, 116-126).

2. Gründe für die religionspädagogische Relevanz

Noch stärker als in der Allgemeinen Pädagogik wird gegenwärtig in der Religionspädagogik der „Bildungsbegriff“ zur Geltung gebracht (zum Folgenden Rothgangel, 2014, 34f.; → Bildung, religiöse). Vor allem fünf Gründe sprechen für die Rezeption des Bildungsbegriffs im religionspädagogischen Kontext:

1. Der Begriff Bildung besitzt eine theologische Wurzel (→ Bildung, religiöse), da er erstmals im Kontext der deutschen Mystik bei Meister Eckhart begegnet.

2. Im Gegensatz zu alternativen Begriffen wie → Erziehung bringt der Bildungsbegriff eine subjektorientierte Sichtweise betonter zum Ausdruck. In diesem Sinne definiert z.B. Dietrich Korsch Bildung als „die prozesshafte Vermittlung von Selbst und Welt zum Zwecke selbstbewusster, sozial verantworteter und erfolgreicher Weltgestaltung“ (Korsch, 1997, 135).

3. Der Bildungsbegriff eignet sich im Unterschied zu vermeintlich wertneutralen Begriffen wie Lernen gerade aufgrund seiner normativen Aspekte als eine pädagogische Grundkategorie. Letztere ist notwendig, sollen die pädagogischen Handlungen „nicht in ein unverbundenes Nebeneinander oder gar Gegeneinander von zahllosen Einzelaktivitäten auseinanderfallen“ (Klafki, 1991, 44).

4. Im letztgenannten Sinn legt sich eine Rezeption des Bildungsbegriffs im religionspädagogischen Kontext auch dahingehend nahe, als er die verschiedenen Handlungsfelder der Religionspädagogik (Familie, Kindergarten, Kindergottesdienst, Jugendarbeit, Konfirmandenarbeit, Religionsunterricht, Erwachsenenbildung, Altenbildung und andere (→ Lernorte religiöser Bildung)) zu integrieren vermag (Nipkow, 1990).

5. Bei der Weiterentwicklung der bildungstheoretischen Didaktik zur kritisch-konstruktiven Didaktik sind die berechtigten Einwände der lerntheoretischen Didaktik sowie der Kritischen Theorie konsequent aufgegriffen worden. Empirische und gesellschaftskritische Anliegen werden damit in einem kritischen Bildungsbegriff (Klafki, 1991) berücksichtigt (→ Kritik).

Gleichwohl sollte der Bildungsbegriff nicht absolut gesetzt, sondern das relative Recht des Lernbegriffs, aber auch des Erziehungsbegriffs gesehen werden (Schweitzer, 2011, 113-125). Insbesondere ist es wechselseitig fruchtbar, wenn geisteswissenschaftliche Bildungstheorie mit empirischer Lehr-Lerntheorie verbunden wird. Pointiert kann man sagen: Bildungstheorie ohne empirische Lehr-Lerntheorie ist leer, empirische Lehr-Lerntheorie ohne Bildungstheorie ist blind.

3. Religion und Bildung

Wenn Friedrich Schleiermacher seine Reden an die „Gebildeten“ richtet (Schleiermacher, 1970), so gibt er damit das Stichwort vor, unter welchem in der Folge die Rezeption des Bildungsbegriffs in den theologischen Wissenschaften steht: das Verhältnis von Religion und Bildung. Auffällig ist, dass der ältere Schleiermacher wenig Gebrauch vom Bildungsbegriff macht. Während die einen in ihm deshalb einen klassischen Erziehungstheoretiker sehen (Lämmermann, 1985, 73), versuchen andere zumeist unter Bezug auf seine jüngeren Schriften ihn für eine Bildungskonzeption wiederzugewinnen (Rupp, 1994, 98-183). Damit gibt Schleiermacher (zumindest in der Rezeption) die Ambivalenz im Umgang mit Bildung vor, welche protestantische Theologie und Religionspädagogik kennzeichnet. Der Bildungsbegriff erscheint als korrigierende und begrenzende Maßnahme an der eigentlichen Aufgabe der Erziehung. Paul Platzbecker weist in seiner Studie zum Freiheitsgeschehen als Grundlagen religiöser Bildung darauf hin, dass Bildung und Erziehung wechselseitig aufeinander verweisen und „praktisch nicht getrennt“ werden können (Platzbecker, 2013, 221).

Karl E. Nipkow hat in seinen religionspädagogischen Beiträgen immer wieder auf den Bildungsbegriff zurückgegriffen, vielleicht am deutlichsten in seiner Darlegung der kirchlichen Bildungsverantwortung (Nipkow, 1990). Er versteht ihn als regulativen Begriff, der vor Fehlentwicklungen warnen kann. Seine inhaltliche Füllung erhält er durch fünf Grundmerkmale, welche er in der Geschichte des Nachdenkens über Bildung, insbesondere aber in der klassischen Bildungsphilosophie des Neuhumanismus findet. Bildung wird definiert durch jeweils spezifische Bezüge auf Politik, Utopie, Subjektivität, Tradition und Verständigung (Nipkow, 1990, 32-37). Ein schneller Blick zeigt die Spannungen zwischen jeweils zweien dieser Begriffe: Politisch-gesellschaftliche Gegebenheiten sind für die Möglichkeit von Bildung essenziell und doch können sie überholt werden durch die Sehnsucht nach dem Noch-Ausstehenden. Wird diese Spannung aufgelöst und werden diese Pole isoliert, so zeigen sie spezifische Gefahren: Anpassung an die vorfindliche, gesellschaftliche Wirklichkeit oder Vertröstung auf eine nie einholbare Sehnsucht. In ähnlicher Weise stehen Subjektivität und Tradition in einem spannungsreichen Wechselverhältnis. Beide Aspekte sind auf die Korrektur durch den jeweils anderen angewiesen. Der kommunikative Aspekt der Verständigung wird bei Nipkow zuletzt ausgeweitet: es geht um ein Friedensprojekt (Nipkow, 1990, 37) als Voraussetzung für wechselseitige Verständigung und damit Bildung überhaupt. Am Bildungsbegriff schätzt er dessen kritisch-subjektiven Sinn, da er in besonderer Weise geeignet ist, „davor zu warnen, dass überindividuelle Institutionen wie Staat, Kirche und Gesellschaft ihre Interessen am einzelnen Menschen vorbei durchsetzen wollen“ (Nipkow, 1990, 21).

Für Horst F. Rupp ist es eine „erstaunliche Entdeckung“ (Rupp, 1994, 20), dass der Bildungsbegriff „ursprünglich im Bereich der Religion zuhause“ (Rupp, 1994, 20) war und von hier einen „Ortswechsel“ (ebd.) in die Pädagogik unternommen hat. Er möchte die vernachlässigte „religiös-theologische Dimension“ (Rupp, 1994, 322) des Bildungsbegriffs in einem Diskurs über pädagogisch-anthropologische Entwürfe einbringen. Dieser theologische Beitrag könne – gerecht gewürdigt – „aus selbstbezogener Individualität, Autonomie und Lernfähigkeit des Menschen eine solche gottbezogene Art“ (Rupp, 1994, 332) machen und dem Bildungsbegriff „klare und konkrete“ (Rupp, 1994, 333) Bildstrukturen verleihen.

Peter Biehl führt vor, wie ein solcher Beitrag aussehen kann. Er ist einer der wenigen religionspädagogischen Autoren, welche systematisch-theologisch für die Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Bildung ansetzen. Der Bildungsbegriff setzt dem Menschen die eigene Subjektwerdung zur Aufgabe und zugleich würdigt er die Rolle des Subjektes für und in dieser Aufgabe. Biehl ergänzt aus theologischer Perspektive (unter Bezug auf Eberhard Jüngel) einen zweiten Begriff: die Person. „Subjekt muss der Mensch im Prozess seiner Bildung erst werden, Person ist er immer schon“ (Biehl, 1991, 156). Aufgabe einer theologischen Bildungstheorie ist es, dieses Personsein als (anthropologische) Grundlage, welche der menschlichen Verfügbarkeit entzogen ist und ihr vorausgeht, für den Bildungsprozess fruchtbar zu machen. Das Verständnis von Freiheit, die Rechtfertigungslehre und die eschatologische Vorstellung vom Reich Gottes benennen für ihn jene Perspektiven, unter denen Bildung auch theologisch interpretiert werden kann und die zugleich offen sind für eine pädagogische Bildungstheorie. Unter Bezug auf die oben angesprochene Aufnahme des Bildungsbegriffs bei Wolfgang Klafki zeigt Biehl die Gesprächsfähigkeit einer so verstandenen theologischen Bildungstheorie.

Eine darüber hinausgehende Entfaltung von Bildung in einer ökumenischen und interreligiösen Perspektive ist eine Herausforderung für die Zukunft, wobei sich wichtige Impulse bei Reiner Preul (2013, 381-399) finden.

4. Religionspädagogische Potenziale

Der Bildungsbegriff macht deutlich, dass sich in dem Bestreben, Subjekt zu werden, eine Individualität auszubilden, das Menschsein entscheidet – daher die Hoffnungen, welche sich mit ihm verbinden, aber auch nahebei: die Hybris.

Von Klafki ist zu lernen, dass Bildung als didaktischer Vorgang auf die Vermittlung von Subjekt und Objekt zielt, die doppelseitige Erschließung von Wirklichkeit und Subjekt. Im Gegensatz zur neuhumanistischen Bildungsidee, die eine stabile und geordnete Welt voraussetzt, welche auf Seiten des Subjektes „nur“ angeeignet werden musste, ist die Einsicht wesentlich, dass zum einen diese Welt selbst vorläufig und veränderungsbedürftig ist, um Zukunft zuallererst zu ermöglichen, und zum anderen sich die Entwicklung des Subjekts in Vielfalt und mit Brüchen sowie Diskontinuitäten vollzieht.

Wenn Henning Luther (1992) im Nachdenken über den Menschen in der gegenwärtigen Gesellschaft dessen Existenz als Fragment versteht, so benennt er Spannungsverhältnisse, welche auch den Bildungsbegriff kennzeichnen. Das Subjekt ist gerade durch jene Institutionen gefährdet, welche seine Ausbildung und Entwicklung unterstützten sollen: Gesellschaft, Kultur und Tradition. Er tritt für die Unabschließbarkeit der „Identitätsentwicklung als Bildungsaufgabe“ (Luther, 1992, 177) ein. Er möchte gegenüber einem Bildungsoptimismus, welcher seinen Blick nur nach vorne auf die Zukunft (Utopie) richtet, dazu nötigen, auch die Geschichte des Subjekts ernst zu nehmen. Zu ihr gehören ebenso die Verletzungen, die „Ruinen der Vergangenheit“ und mit vorrückendem Alter kommen die „Ruinen der Zukunft“ (Mulia, 2014, 102), das, was nicht mehr gelebt werden kann, zum Vorschein. Diese Spannung von Utopie und eigener Geschichte ist ein wesentlicher Aspekt des Bildungsgedankens. Die Sehnsucht nach Utopie, das Prinzip Hoffnung, lässt sich nicht auf Dauer stillen. Stellt sich das Nachdenken über Bildung solchen Herausforderungen, dann öffnet es sich auch für Erfahrungen, wie Henning Luther sie für den Glauben in Anspruch nimmt: die Unruhe, die Furcht, das Fremdsein.

Religion kommt hier als Grenzerfahrung in Bildungsprozessen in den Blick. Bildung thematisiert die Konstituierung von Subjektivität, aber auch die Erfahrung von gebrochener Identität, das Zerbrechen und die Fragmentarität. Religion und Bildung verweisen aufeinander und Bildung „hält die Sehnsucht wach, dass die Ankunft des ganzen Menschen noch aussteht“ (Pongratz, 2001, 197).

Im Bildungsbegriff kommen polare Sachverhalte zur Sprache, welche dialektisch zusammenzuhalten sind und welche nicht einseitig auseinandergehen dürfen. Bildung ist das lebenslange „Sich-Selbst-Bilden“ des Menschen in der Begegnung mit der Welt. In diesem Prozess verändern sich beide: das Subjekt und die Welt.

Standardisierungen und deren vergleichende Überprüfung wollen zu mehr → Bildungsgerechtigkeit beitragen. Diese Praxis ist umstritten (Stojanov, 2011). Ein fruchtbares Thema im Überschneidungsfeld von Pädagogik und Theologie eröffnet sich: Bildungsgerechtigkeit. Die Unterscheidung von Anerkennungs- und Verteilungsgerechtigkeit führt hier weiter. Damit rückt der Vorgang der Anerkennung nicht nur in Erziehungsverhältnissen, sondern auch in seinem Beitrag zur Bildungstheorie, für die Reflexion der Subjektentwicklung, ins Blickfeld. Bernhard Grümme hat aus katholischer Perspektive eine religionspädagogische Anthropologie vorgelegt und zuletzt in seiner Monographie zur Bildungsgerechtigkeit das Bildungsthema zugespitzt: mit dem Formulieren eines Menschenrechts auf Bildung. Auch für ihn liegt dem Bildungsbegriff eine spannungsvolle Doppelstruktur zugrunde: Die „Spannung von indukativer und edukativer Dimension, von Vorgabe und Transformation, von Affirmation und Kritik“ (Grümme, 2014, 103).

Nicht weniger komplex ist schließlich das Verhältnis von Menschenwürde und Bildung (Schweitzer, 2011; Schaede, 2014). Dabei ist die theologische Kunst der Unterscheidung gefordert und es bestehen näher betrachtet aus juristischer wie ideengeschichtlicher Perspektive keine unmittelbaren Zusammenhänge zwischen Menschenwürde und Bildung (Schaede, 2014, 16-36). Gleichwohl gilt: „Das Themenfeld Würde bleibt nicht nur der ‚Gewissensstachel einer Rechtsordnung‘, sondern auch der Bildungsstachel, der nicht aufhört, für produktive Irritationen zu sorgen“ (Huber/Tödt, 1988, 362).

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