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Bibeldidaktik, diskursiv

(erstellt: Februar 2019)

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Bibeldidaktik diskursiv 1

Bibeldidaktik diskursiv 2

Im einfachen Schema (Abb. 1) ist die Bibeldidaktik eine Brücke, die die → Bibel in ihrer Welt und den Menschen in seiner Welt miteinander verbindet. Zwischen beiden wird ein Graben angenommen – der Zeit, des Raums, der Weltanschauung. Das zweite Bild (Abb. 2) ist komplexer: Es fragt nach der Gestalt der Bibel (Bibelerzählungen, die Bibel als Gesamterzählung, Bibelversionen, die Bibel als Heiliges Buch), nach der Situation der Rezipientinnen und Rezipienten (Erfahrungen, Erwartungen, Bedürfnissen), nach der Konstruktion der Brücke (informelles oder formales Lernen, Intentionen, Methoden) (Zimmermann/Zimmermann, 2013, 7-10). Im Folgenden soll, ausgehend von den Fragen, die das bibeldidaktische Dreieck aufruft, erläutert werden, was unter diskursiver Bibeldidaktik verstanden werden kann.

1. Bibeldidaktische Entscheidungen

Im Folgenden wird als exemplarische Lernsituation die Lerngruppe im konfessionellen Religionsunterricht angenommen, zu Zeiten von Kompetenz-, Subjekt- und Erfahrungsorientierung (→ Kompetenzorientierter Religionsunterricht). Wie sich dann die oben gestellten Fragen beantworten, wird in 1.1. bis 1.3. entfaltet.

1.1. Die Brücke

1.1.1. Intentionen

Es handelt sich um formales Lernen, verantwortet von einer professionellen Lehrkraft, die doppelt gebunden ist: an den Bildungsauftrag des Staates sowie Bekenntnis und Inhalt seiner Kirche. Unter der Perspektive → Bildung ist die Bibel Kulturgut (Theißen, 2003, 36-46), Urkunde einer Religion, ein Pool von Lebenserfahrungen (Theißen, 2003, 46-62). Unter der Perspektive der Glaubensgemeinschaft ist sie „Heiliges Buch“, mehrheitlich verstanden als „Gottes Wort im Menschenwort“ (Berg, 2017, 17; Schambeck, 2017, 35).

Unter der Perspektive Bildung ist nach Gegenwart- und Zukunftsrelevanz der zu gestaltenden Begegnungen zwischen Bibel und Schülerin oder Schüler zu fragen. Dabei kommen drei Dimensionen in den Blick: die Bibel als Objekt des Lernens („Bibellernen“); als Quelle von Lernstoffen (Lernen mit der Bibel); als Grund und Anlass des Lernens (Lernen an der Bibel).

Zu 1. gehören etwa: der Erwerb von Sachwissen über das Buch Bibel (Allgemeinbildung) und über das religiöse Phänomen Bibel (religiöse Bildung); zu 2. die Auseinandersetzung mit biblischen Worten und Geschichten (Selbst- und Sozialkompetenz) sowie mit dem Konzept „Heilige Schrift“ (religiöse Kompetenz; Verständigung über Glauben); zu 3. Erfahren und Verstehen, wie religiöse Erzählungen funktionieren (Narrationskompetenz; Diskurskompetenz).

Unter der Perspektive der Glaubensgemeinschaft tritt ein Moment hinzu, das die Begegnungen vertieft: Der Lehrende befindet sich selbst im Innenraum Bibel. Er ist nicht neutral, sondern lebt, atmet, denkt in ihr (Theißen, 2003, 15). Er traut der Bibel zu, dass sie die Brücke, die er lehrend gestaltet, aus sich heraus mit baut: „Ihrem Grund nach sei sie ‚Anrede‘, Einladung zum Glauben“ (Berg, 2017, 17), das Wort Gottes sei „in ihnen [biblischen Geschichten MS] auffindbar“ (Schambeck, 2017,15).

Um beiden Perspektiven gerecht zu werden, wird die Lehrkraft ihre eigene Haltung und Erwartung gegenüber der Bibel offenlegen und zugleich relativieren: „So glaube ich; andere glauben anders“. Die Lernenden sind eingeladen, im Diskurs mit der Lehrkraft und dem, was sie von der Bibel zu sehen bekommen, eigene Positionen zu nennen oder zu erproben.

Beide Perspektiven stehen unter dem Dach des Beutelsbacher Konsenses, der für jegliche Behandlung weltanschaulicher Positionen in Bildungszusammenhängen gilt (Wehling, 1977, 179f.): 1. Es ist nicht erlaubt, die Schülerin oder den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der Gewinnung eines selbständigen Urteils zu hindern (…). 2. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen (…). 3. Die Schülerin oder der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren (…). Entsprechend formulieren moderne Bibeldidaktiken ihre Intentionen unter Aussetzung des Gottes- bzw. Glaubensaspekts, z.B.: „Biblisches Lernen erreicht nicht erst dort sein Ziel, wo Menschen die Worte der Bibel als Wort Gottes lesen, dass auch an sie selbst gerichtet ist“; es „ist schon dort gelungen, wo Schüler/innen um biblische Erzählungen, Deutungen und vom Wort Gottes geprägte Lebensentscheidungen wissen, sie verstehen und beurteilen können, um so eine eigene, begründete Position in Bezug auf den Gehalt und die Gestalt biblischer Aussagen zu gewinnen“ (Schambeck, 2017, 28). Der Rest ist Möglichkeit, nicht Absicht, nicht Planung: „Wer bereit und fähig ist, in diesem Menschenwort die Anrede Gottes zu hören, findet den spirituellen Zugang zur biblischen Überlieferung, sie wird für ihn zu Gottes Wort“ (Berg, 2017, 17).

1.1.2. Methoden

Als Methoden kommen in Betracht: ein weites Spektrum an Präsentationsmöglichkeiten, Stationenarbeiten, Bibelregal und Besuch eines Bibelmuseums; in der Auseinandersetzung mit Bibeltexten: erfahrungsbezogene Zugänge, Erzählen, Schreiben, Gestalten, Spielen. Unter dem Gesichtspunkt des Überwältigungsverbots ist es wichtig, dass rituelle Zugänge stets auf einer Metaebene reflektiert werden (performativ) und emotionale Zugänge (wie das → Erzählen) immer auch Distanzierungsmöglichkeiten anbieten (z.B. durch bewusste Durchbrechungen der Suggestion und offene Stellen im Gefüge der Erzählung). Alles, was in einem solchen Religionsunterricht mit der Bibel erlebt und erfahren wird, bedarf der reflexiven Distanz, z.B. im Theologischen Gespräch oder im offenen Diskurs.

1.2. Die Adressatinnen und Adressaten

Der Charakter des konfessionellen Religionsunterrichts als corpus permixtum bringt es mit sich, dass ihn sowohl Schülerinnen und Schüler besuchen, die wie die Lehrkraft konfessionell gebunden sind, als auch „alle“.

1.2.1. Die Lerngruppe

Dabei ist die Varianz kaum groß genug zu denken: „Dort, wo einst eine recht homogene Gruppe evangelischer und katholischer Schüler*innen saß, ist heute alles möglich. Längst schon haben wir als Religionslehrkräfte auch im konfessionell ausgerichteten Religionsunterricht ‚bunte’ Lerngruppen, und dies auf ganz unterschiedliche Weise: Da sind getaufte Kirchenmitglieder, gläubig oder auch nicht, religiös sozialisiert oder auch nicht. Da sind Kinder und Jugendliche anderer christlicher Konfessionen, da sind Schüler*innen anderer Religionen, da ist die sogenannte Gruppe der Bekenntnislosen – ein Pool für viele Variationen religiöser und weltanschaulicher Einstellungen“ (Eisenhardt/Kürzinger/Naurath/Pohl-Patalong, 2018).

Ein Beispiel aus der praktischen Arbeit illustriert das im Blick auf Voraussetzungen für das Lernen von, mit und an der Bibel: Eingangs einer Unterrichtseinheit zur Bibel als einem „Buch des Lebens“ (Lehrplanplus Bayern, Realschule, 2016) werden Schülerinnen und Schüler einer fünften Klasse gefragt: „Was denkst du über die Bibel?“ Die Antworten (Zitate aus: Steinkühler 2017a, 28) bilden eine große Bandbreite von Haltungen ab: neutral („hat mehr als 1000 Seiten“), kulturell-wertschätzend („schöne Geschichten“, „wertvoll“), ethisch-wertschätzend („hilft bei Entscheidungen“), dogmatisch („wahr“, „wichtigstes Buch der Erde“), subjektiv („lese gern in der Bibel“), relational („Meine Oma erzählt mir immer aus der Bibel“), kritisch („Die Schriftsteller widersprechen sich“), ablehnend („Ich glaube nicht an die Bibel“). Die Frage, was die Bibel zur „heiligen Schrift“ mache, wird ebenfalls facettenreich bedacht: ihr Alter, ihre (kulturelle, ethische, emotionale) Bedeutung für Menschen, ihre Geltung als Glaubensbuch. „Die Bibel ist ein Buch von Gott“, wird als Einziges mehrfach formuliert. Das ist ein zwar nicht repräsentativer, aber doch bemerkenswerter Befund: Schülerinnen und Schüler in einem evangelischen Religionsunterricht 2017 vertreten das gesamte Spektrum von Haltungen zur Bibel, die auch in der Öffentlichkeit angetroffen werden: Quelle des Glaubens, historische Quelle, literarische Quelle, „wahr“ oder „unwahr“, „innen“ und „außen“.

1.2.2. Die Lebenswelt

Zu den Signaturen der Gegenwart gehören → Pluralisierung, Individualisierung, das Ende zwar nicht der „großen Erzählungen“ (Lyotard), wohl aber der selbstverständlichen Verbindlichkeit solcher Erzählungen; die Verantwortung, aus vielen Optionen so zu wählen, dass das Leben gelingt, sowie die Überforderungen, die dies mit sich bringt, einschließlich der Möglichkeiten zu scheitern („Zwang zur Häresie“, P. Berger, „Risikogesellschaft“, U. Beck). Der Imperativ, mit dem eine Mehrzahl von Kindern und Jugendlichen aufwächst, ist nicht „Gehorche!“, sondern „Prüfe!“. Statt „Frag nicht“ heißt es: „Wer nicht fragt, bleibt dumm“. Zum Lebensgefühl gehören das Switchen zwischen digitalen und realen Welten; die Skepsis gegenüber Erzählungen und zugleich die Sehnsucht nach Verlässlichem, wie sie etwa in populären Songtexten und Poetry Slams zum Ausdruck kommen. Als Gegenbewegung zum überfordernden Zwang zur eigenen Entscheidung ist ein Modus der Unverbindlichkeit zu beobachten: Entscheidungen, wie z.B. zur Berufswahl, werden aufgeschoben, provisorisch getroffen, bis auf Weiteres.

Solche Aussagen sind jedoch nur unter Vorbehalt gültig. Sie beschreiben einen (post-)modernen Mainstream, zu dem es Gegenbewegungen gibt. Peter L. Berger weist daraufhin, dass aus Pluralisierung mit Gewissheit nur eines folge, nämlich Relativierung: „Für den Einzelnen heißt das, dass die Weltanschauung vorhergehender Generationen nicht mehr selbstverständlich ist und er sich stattdessen zwischen verschiedenen Weltanschauungen, die in seinem Milieu angeboten werden, entscheiden muss“ (Berger, 2011, 15). Auf diese zu reagieren gebe es grundsätzlich zwei Wege: sich die Relativierung zu eigen zu machen – das nennt er „Relativismus“ – oder zu versuchen, „eine absolut gewisse Weltanschauung zu reparieren oder neu zu schaffen“ (Berger, 2011, 39); das nennt er – in zunächst neutralem Sinn – „Fundamentalismus“. Für die Betrachtung der heterogenen Lerngruppe im konfessionellen Religionsunterricht ist diese Analyse aufschlussreich: Die Lerngruppe besteht keineswegs ausschließlich aus Schülerinnen und Schülern, die wenig oder keine Erfahrung mit Religion und Glauben haben, sondern auch aus solchen, die in einen geschlossenen oder sogar wenig reflektierten Glauben hineingewachsen sind.

1.3. Die Gestalt der Bibel

Angesichts der vielen Perspektiven auf die Bibel, der → Heterogenität der Lerngruppe, der Subjekt- und Kompetenzorientierung des Religionsunterrichts sowie seines doppelten Interesses, in Glaubensdingen sprach- und urteilsfähig zu machen, ohne zu überwältigen, wird hier vorgeschlagen, die Bibel als Erzählung und als Sammlung von Erzählungen in den Mittelpunkt der Begegnung zu stellen. Im Interesse der Fokussierung und Öffnung zum Diskurs gehören zum Lernarrangement sowohl altersentsprechende Schulbibeln als auch Versionen, die zusätzlich eingebracht werden, wie Rahmen-, Alternativ- und Neuerzählungen. Hinzu kommen andere Medien, die Aspekte des Erzählens und erzählten Glaubens verdeutlichen.

1.3.1. Doppeldeutig

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Das Bilderbuch „Opas Engel“ von Jutta Bauer (2001/2003) erzählt eine doppelte Geschichte: Die Erzählfigur, ein alter Mann, der dem Tod entgegengeht, erzählt seinem Enkel sein Leben unter der Deutungsperspektive: „Ich hatte Glück“. Mit ihren Illustrationen erzählt die Autorin eine andere Geschichte: „Ein Engel hat ihn begleitet“. Besser lässt sich kaum zeigen, wie die Bibel in ihrer großen Geschichte von Gott (und ihren vielen kleinen) erzählt: Da ist die Geschichte der Menschen, des Volkes Israel, der Juden und Christen; und da ist die Meta-Geschichte Gottes mit der Welt, dem Menschen, dem Volk und Jesus Christus. In der Bibel sind sie zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen. Die biblische Erzählstimme spricht weitgehend aus der unnahbaren Perspektive eines Allwissenden, der beide Geschichten kennt. Der Hörer scheint keine andere Möglichkeit zu haben, als mitzugehen (oder auszusteigen), zumal Erzählungen ganzheitlich wirken, auch unter Umgehung des kritischen Verstandes. Freilich: Wer sich bewusst macht, dass Erzählungen Deutungen sind und religiöse Erzählungen erzählter Glaube, kann die ineinandererzählten Geschichten trennen so wie Jutta Bauer in „Opas Engel“. Zusammen mit den Schülerinnen und Schülern wäre eine solche Arbeit zum Beispiel an den Erzelterngeschichten möglich: Was Sara, Rebekka, Josefs Brüder tun, sieht aus menschlicher Perspektive ganz anders aus als aus himmlischer. Die Schülerinnen und Schüler entdecken beide Versionen, erkunden sie im Diskurs und für sich selbst.

1.3.2. Anstößig

1. Wunder. Biblische Geschichten setzen viel voraus: nicht nur das Einverständnis „Gott ist dabei“, sondern auch die Zumutung, die Grenzen menschlichen Verstandes fortwährend zu überschreiten: Wunder geschehen, als wäre es nichts. Abraham hört eine Stimme und folgt (Gen 12); ein Aussätziger wird für rein erklärt und ist es (Mk 1); eine Frau empfängt achtzigjährig das lang ersehnte Kind (Gen 21), ein Toter steht auf (Lk 7). Solche Erzählungen zu „entschärfen“, hieße, sie zu zerstören. Was sie für den Diskurs öffnen kann, sind neue Perspektiven, (fiktive) Erzählpersonen, die befragbar sind. Erzählversionen bieten sich an, in denen aus der Innenperspektive der Geschichte erzählt wird (z.B. kann Mirjam erzählen, wie sie den Durchzug durchs Schilfmeer erlebt hat); oder aus der persönlichen Perspektive eines „ersten Erzählers“ der Geschichte (z.B. ein Priester, die Weisen, der Evangelist Lukas). In Kinderbibeln und Bibelerzählungen für den Unterricht finden sich dafür Vorlagen (Steinkühler, 2015; Schindler, 2015; ter Linden, 2011; Landgraf, 2011; Klöpper/Schiffner, 2004). Dabei entsteht Diskursivität innerhalb der Erzählung – sei es, dass eine Passantin sich über eine Heilung wundert (Steinkühler, 2017a, 144f.); sei es, dass Hagar eine eigene Perspektive auf Abrahams Aufbruch hat (Steinkühler, 2015, 10; vgl. Abb. 4) – sowie im Gegenüber zu der Geschichte (Steinwede, 1982, 100; vgl. Abb. 5). In beiden Fällen sind die Schülerinnen und Schüler herausgefordert und ermutigt, sich selbst mit dem Phänomen Wunder bzw. Religion auseinanderzusetzen.

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2. Widersprüche. Gen 1 erzählt anders von der Schöpfung als Gen 2, Lukas anders von Jesu Tod als Markus. In der Vergangenheit hat man Kindern dies lieber „erspart“, um die Autorität der Bibel nicht zu schmälern. Spannender und gewinnbringender ist es, Widersprüche nicht nur beizubehalten, sondern sogar bewusst hervorzuheben, z.B. durch Nebeneinandersetzen der markinischen und der lukanischen Erzählung vom Tod Jesu (z.B. Wiemer, 2014, 228f.). Die beiden Texte treten miteinander in den Diskurs. Indem die Schülerinnen und Schüler die Widersprüche aushalten, machen sie wiederum Erfahrungen damit, dass Erzählen Deuten ist und Gottes Geschichte in Menschengeschichten nicht aufgeht.

3. Dunkle Seiten Gottes. Ähnliches gilt für Erzählungen, in denen Gott anders handelt, als Religionspädagoginnen und Religionspädagogen es sich von ihm wünschen. Auch hier hilft das Bewusstsein der Narrativität biblischer Texte. Es ermöglicht, solche Texte als Herausforderung an das je eigene Gottesbild zu begreifen, es nicht „weg“-, sondern weiterzudiskutieren (Fricke, 2005, 259-279). Die hermeneutisch produktive Frage lautet: „Warum wird das so von Gott erzählt?“ (nicht: „Warum hat Gott das getan?“).

1.3.3. Vielstimmig

Kinderbibeln (wenn sie von Fachleuten geschrieben sind) sind häufig in dem Bemühen verfasst, eine theologisch und pädagogisch besonders „richtige“ Version der biblischen Gesamterzählung herzustellen. Empfehlungslisten bewerten solche Werke nach transparenten Kriterien. Immer wird auch deutlich: „Absolut perfekte Kinderbibeln gibt es nicht“ (Landgraf, 2009, 43). Für eine Bibeldidaktik, die Wert auf Diskurse legt, sind zehn ziemlich gute Kinderbibeln besser als die eine „ideale“. Wer Schülerinnen und Schüler möglichst früh mit verschiedenen Versionen konfrontiert, fördert das Bewusstsein für die Deutbarkeit von Erzählungen (z.B. „Kain und Abel“; Beispiele bei Porzelt, 2012 unter der Überschrift „Bildsame Ratlosigkeit“, 137-144). Sie tut das zudem mit dem guten Gefühl, etwas der Bibel sehr Angemessenes zu tun: Den überlieferten Text mit Kommentaren und Versionen zu umgeben, das ist bereits innerhalb der Bibel und dann im rabbinischen Judentum gang und gäbe.

2. Bibel im Diskurs

Die Fragen nach Absicht, Adressat und Weg (Abb. 1) sind für eine Bibeldidaktik, die den Diskurs sucht, so beantwortet: Im konfessionellen Religionsunterricht machen heterogene Gruppen anhand von Begegnungen und Diskursen mit ausgewählten Bibeltexten Erfahrungen mit der Gattung religiöse Erzählung und mit erzähltem Glauben. Die Erfahrungen befähigen sie, mit biblischen Geschichten angemessen umgehen zu können; darüber hinaus helfen sie ihnen in Diskursen um Glauben und Wahrheit, die sie in anderen Kontexten zu bestehen haben, sei es im interreligiösen Dialog oder angesichts von Werbung und fake news. Jedoch: Ist dieses Verfahren der Bibel angemessen? Darf die Bibel der ihr im Kanon eingeschriebenen Autorität so beraubt, ihre Wahrheit so zum Diskurs freigegeben werden? Wo bleiben Bekenntnis, Verkündigung, Missionsbefehl?

2.1. Die Bibel selbst macht es vor

„Ja, sollte Gott gesagt haben …?“ (Gen 3,1). Die zweite Äußerung eines Geschöpfes in der Bibel (nach Adams Jubel beim Anblick der Frau, Gen 2,23) ist eine Einladung zum Diskurs. Die Frau geht darauf ein; es entspinnt sich ein Gespräch über Gott. Was die Schlange der Frau nahelegt, ist: Prüfe die Erzählung vom Paradies, in die du eingebunden bist. Glaube nicht einfach, sondern probiere. Das steht am Anfang eines Werkes, dessen Thema der Glaube ist. Auch wenn der Rat der Schlange ambivalent ist und von Gott verworfen wird, setzt er doch etwas in Gang, das in die Bibel mit eingeschrieben ist. Von da an gibt es immer wieder Diskurse über Gott und Menschen, die Beweise fordern. Als Thomas dem Auferstandenen begegnet, hält der ihm seine Hände hin mit der Aufforderung, er solle „begreifen“, was wirklich ist. Thomas antwortet mit dem Bekenntnis: „Mein Herr und mein Gott“. Und Jesus spricht zu ihm: „Weil du mich gesehen hast, glaubst du, Thomas. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“ (Joh 20,28f.). Auch hier geht es um Glauben und Probieren. Prüfen ist menschlich. Glauben macht selig.

„Du sollst dir kein Bildnis machen“ (Ex 20,4) – und doch ist die Bibel voller Bilder, immer wieder neuer Bilder für Gott, Himmelreich und das, worauf es ankommt. Es geht um Glauben und Verstehen, um Bekennen und Überzeugen, um Sehen und Hören, Erleben und Erfahren. So gelesen ist die Bibel aus sich selbst heraus immer wieder auch eine Herausforderung zum Diskurs. Dabei lässt sie niemanden darüber im Unklaren, was es kostet, sich darauf einzulassen: das Paradies, die Seligkeit. Der Mensch kann nicht anders, auch das ist ihre Botschaft. – Dass dies ungemein anschlussfähig an die Gegenwart ist, muss wohl damit zusammenhängen, dass Lebensfragen und -motive zeitlos wahr sind (Theißen, 2003, 193-202).

2.2. Das Bekenntnis hat einen wichtigen Platz im Diskurs

Sinn und Zweck von Diskursen ist es, eine eigene Position zu finden (und sei es auch nur probehalber und provisorisch). Dazu braucht es einerseits Offenheit, insbesondere Freiheit von Voraussetzungen und Vorannahmen, andererseits authentische Vorbilder und Zeugen. Diese sind im konfessionellen Religionsunterricht durchaus vorhanden (und das ist seine Stärke): die Lehrkraft und diejenigen Mitschülerinnen und Mitschüler, die religiös erzogen wurden bzw. sich selbst als christlich verstehen. Beides gehört zusammen: Bibeltexte werden diskursiv gelesen; zugleich werden Positionen in den Diskurs mit eingebracht: „Für mich persönlich bedeutet das …“, „Was mich betrifft, ich glaube …“ Wichtig ist, dass dabei deutlich Ich-Botschaften formuliert werden (nicht: „man muss“, „man soll“).

2.3. Ohne Selbstreflexivität geht es nicht

Nach Peter L. Berger gibt es zwei Möglichkeiten: Die eigene Wahrheit absolut zu setzen (Formen des Fundamentalismus) oder zu riskieren, dass es verschiedene Sichten auch auf Wahrheit gibt (Formen des Relativismus) (Berger, 2011, 31). Nur im zweiten Fall seien echte Begegnungen möglich. Für alle Spielarten des interreligiösen und interkulturellen Gesprächs stellt sich die Frage nach Zweck und Ziel. Berger schlägt hier den Begriff und die Form der „dialogischen Auseinandersetzung“ vor (Berger, 2011, 47). In Abgrenzung von vier anderen Typen des Dialogs – missionarisch, gelehrt, empathisch und politisch motiviert – verfolge diese das „Ziel, das eigene Begreifen der Wahrheit zu erweitern“ (Berger, 2011, 47). Berger nennt Voraussetzungen, die für alle Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner gelten müssen:

  1. 1.darauf gefasst sein, dass das Gespräch die eigene Sichtweise verändern könnte (55);
  2. 2.in der Lage sein, das Elementare ihres Glaubens von den Adiaphora zu unterscheiden (59);
  3. 3.das Prinzip der Freiwilligkeit in religiösen Angelegenheiten akzeptieren (65);
  4. 4.die „Gültigkeit moderner historischer Wissenschaft“ auch für die eigene religiöse Tradition akzeptieren (68f.);
  5. 5.im Gesprächspartner einen Gefährten „auf der Suche nach Sinn in einem ziemlich chaotischen Universum“ sehen (77);
  6. 6.die Freiheit haben, offen nein zu sagen zu Vorstellungen, die mit ihrer Überzeugung nicht übereinstimmen (79).

Diese Voraussetzungen gelten auch für Gelingen und Berechtigung diskursiver Begegnungen mit der Bibel, vielleicht mit einer Einschränkung: Ein solches Gespräch führt zwar beim Einzelnen zu Perspektiverweiterung (in nicht planbarer und nicht vorhersehbarer Hinsicht), jedoch nicht zu einem Verhandlungs-Ergebnis der Lerngruppe in Sinn eines gemeinsamen Glaubens. Was freilich ausgehandelt wird, ist ein Grundverständnis der gegenseitigen Anerkennung subjektiver Wahrheiten und des ernsthaften Ringens, um das, was „uns unbedingt angeht“ (Tillich).

2.4. Zum Schluss

In den methodischen Baukasten diskursiver Bibeldidaktik gehören

  1. 1.Neuerzählungen mit Perspektivwechseln, bewussten Provokationen und offenen Fragen, die in die Auseinandersetzung drängen (Steinkühler, 2017b). Als Hinweis auf die Narrativität der Texte und ihre Mittelbarkeit sind „Abstandhalter“ bzw. „Aufmerksamkeitsmarker“ hilfreich, z.B. „Es wird erzählt“, „So wird es erzählt“, „So habe ich es gehört“ (Steinkühler, 2017c, 7),
  2. 2.Verschiedene Versionen in Bild und Text, auch Rezeptionen und Aktualisierungen,
  3. 3.Eigene Erzählungen der Schülerinnen und Schüler, z.B. Weiter- und Parallelerzählungen, Verfremdungen (Berg, 2017, 156-168),
  4. 4.Gemeinsame hermeneutische Arbeit an intratextuellen Diskursen der Bibel (Schambeck, 2017).

Diskursivität in der Bibeldidaktik lädt dazu ein, mit der Bibel und mit anderen ins Gespräch zu kommen, Unterschiede und Varianzen wahrnehmen und als Chance zu begreifen, sich zu üben im Perspektivwechsel mit und an der Bibel; dabei Erfahrungen zu sammeln und Kompetenzen zu erwerben für eine gebildete Auseinandersetzung mit Glaubensfragen und Wahrheiten in der globalen Welt.

Literaturverzeichnis

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  • Zimmermann, Mirjam/Zimmermann, Ruben (Hg.), Handbuch Bibeldidaktik, Tübingen 2013.

Abbildungsverzeichnis

  • Zimmermann/Zimmermann, 2013, 7.
  • Zimmermann/Zimmermann, 2013, 9.
  • Bauer, 2003.
  • Steinkühler, 2015, 10.
  • Steinwede, 1982, 100.

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