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Ziege / Ziegenbock

(erstellt: November 2010)

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1. Zoologisch

Ziege 01
Ziegen (Capra) gehören zur Familie der Hornträger (Bovidae). Zu ihnen zählen u.a. die Wild- und Hausziege sowie der → Steinbock. Ihr robuster Körperbau, die Form ihrer Hufe und ihre Genügsamkeit (Gräser, Kräuter, Blätter) ermöglichen es Ziegen, in unwirtlichen gebirgigen und trockenen Gebieten zu leben. Sowohl Ziegenweibchen als auch Männchen verfügen über Hörner, wobei die Hörner der Männchen deutlich länger (bis über einen Meter), stärker nach hinten gebogen und in sich gedreht sind. Die Männchen tragen außerdem ein charakteristisches Bärtchen. Oft sind Ziegen dämmerungsaktiv und gehen besonders in warmen Gebieten in den frühen Morgenstunden oder am späten Nachmittag auf Nahrungssuche. Während die Weibchen häufig mit ihrem Nachwuchs in Gruppen leben, sind die Männchen Einzelgänger oder schließen sich in Junggesellengruppen zusammen. Zur Paarungszeit schließen sie sich den Weibchengruppen an und versuchen durch zum Teil heftige Kämpfe das Paarungsvorrecht zu erringen.

2. Wirtschaftliche Bedeutung

Ziege 02

Die palästinische Hausziege (Capra aegagrus hircus) stammt von der vorderasiatischen Bezoarziege (Capra aegagrus aegagrus) ab, die in biblischer Zeit in Palästina vermutlich bereits ausgestorben war. Typisch für die palästinische Hausziege sind die herabhängenden Ohren und die schwarze Färbung sowie ihre gekrümmten Hörner, die kleiner sind als die der Wildziege.

Neben dem Hund ist die Ziege das älteste domestizierte Tier Palästinas. Die Domestizierung der Ziege erfolgte vermutlich noch vor dem 11. Jahrtausend, auf jeden Fall aber vor mindestens 9000 Jahren im Vorderen Orient, in der Levante oder im Zagros. Im Irak weisen zwei Funde wohl auf eine Domestizierung hin: In Ganǧ Dareh zeigen Funde von 9000-7500 v. Chr., dass bevorzugt männliche Jungtiere getötet wurden, die zudem kleiner waren als heutige wilde Ziegen. In Ali Koš (7500-5500 v. Chr.) sind ebenfalls Skelette vor allem von Jungtieren gefunden worden, die eine charakteristische Veränderung des Skeletts aufweisen. In Jericho zeugen Funde von Ziegenknochen aus dem vorkeramischen Neolithikum (ca. 7000 v. Chr.) von der Domestizierung der Ziege in Palästina.

Ziegen gehören mit Schafen zum Kleinvieh. Auch heute noch bilden Kleinvieherden eine wichtige Lebensgrundlage für Nomaden in Israel-Palästina, da sie auch in Gebieten leben können, in denen das Halten von Rindern nicht möglich ist. Ziegen liefern Fleisch und Milch sowie Leder und Fell. Ikonographische Zeugnisse belegen, dass sie zuweilen sogar als Zugtiere vor dem Pflug verwendet wurden.

Die Bedeutung der Ziege als Haustier zeigt sich in den biblischen Texten daran, dass sie an verschiedenen Stellen in einer Reihe mit → Rind und → Schaf genannt wird (Num 18,17; Dtn 14,4; Lev 17,3; vgl. KAI 69; 74). Fleisch und Milch der Ziegen dienten als Nahrungsmittel (vgl. Spr 27,27; Ex 23,19; Ex 34,26; Dtn 14,21). Es wurde zu besonderen Anlässen (Gen 27,9) zubereitet und um Gäste zu ehren (Ri 13,15). Ziegenhaar wurden gesponnen (Ex 35,26) und zu Stoffen gewebt, die als Decken für Zelte (auch die → Stiftshütte, Ex 26,7; Ex 36,14) verwendet wurden oder wohl auch für Trauerkleidung, sowie für andere Dinge des Alltagsgebrauchs (Num 31,20; vgl. Hhld 1,5; Hebr 11,37; → Michal ahmt mit Ziegenhaar menschliche Haare nach, um die Boten → Sauls in die Irre zu führen [1Sam 19,13]. Das Fell des für seinen Vater zubereiteten zarten und schmackhaften Ziegenböckchens verwendet → Esau, um → Isaak zu täuschen [Gen 27,16]). Auch Schläuche für Wasser und Wein wurden vermutlich aus Ziegenleder hergestellt (Gen 21,14-29; Jos 9,4.13; Ri 4,19; 1Sam 1,24; Ps 119,83; vgl. Mk 2,22).

Der Besitz von Ziegen zeigt schon in biblischer Zeit Reichtum an, so bei → Nabal (1Sam 25,2), der 3000 Schafe und 1000 Ziegen besitzt (vgl. Gen 38,17). Die Tatsache, dass → Jakob als Entlohnung für seinen Dienst bei dem geschäftstüchtigen → Laban lediglich die gesprenkelten oder gescheckten Tiere erhalten soll, zeigt, dass diese weit seltener als die schwarzen Exemplare vorkamen und vielleicht auch weniger wertvoll waren (Gen 30,32f.35). Geschlechtsreife Ziegenböcke waren ein wichtiges Handelsgut (Ez 27,21). Nach 2Chr 17,11 dienten Böcke als Währung für arabische Tributzahlungen an → Joschafat. Ziegenböckchen können ebenfalls als Zahlungsmittel eingesetzt werden, so in der Erzählung von → Tamar und → Juda (Gen 38,17.20). Der Wert eines Ziegenböckchens zeigt sich auch in seiner Verwendung als Geschenk (Ri 15,1), sogar an den König (1Sam 16,20). → Esau erhält von → Jakob zur Versöhnung 200 Ziegenböcke (Gen 32,15). Nach Tob 2,12.14 (Lutherbibel: Tob 2,20) bekommt Tobits Frau für ihre Arbeit eine Ziege als Geschenk. → Tobit vermutet allerdings eine Bezahlung seiner Frau für Prostitution (vgl. Gen 38,17.20) und verurteilt daher das Geschenk.

3. Ikonographie

Ziegen, Widder und → Gazellen spielen seit dem Neolithikum eine wichtige Rolle im Bildprogramm des Alten Orients und in Syrien-Palästina. Sie finden sich nicht nur in natürlichen Jagdszenen (→ Jagd), sondern auch in religiös konnotierten Bildkontexten. Capriden („Ziegenartige“) repräsentieren einerseits aggressive Stärke, andererseits stehen sie für Fruchtbarkeit und Lebenskraft. Besonders der zweite Aspekt ist über den gesamten altorientalischen Raum über einen langen Zeitraum hinweg verbreitet.

3.1. Capriden als Symbol für Stärke

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Capriden werden in Palästina seit dem Chalkolithikum dargestellt, zum Teil auf den Aspekt der Hörner – wohl als Zeichen von Virilität – reduziert. Die in der Wüste lebenden Tiere stehen für besondere Kraft und Überlebensfähigkeit, wobei vor allem Ziegenböcke aufgrund ihrer langen schwarzen Haare und ihres kampflustigen Verhaltens zunächst negativ konnotiert sind. Als bezwungene Tiere werden Capriden im Bildmotiv des → „Herrn der Tiere“ dargestellt, doch ist das Motiv in dieser Kombination in Palästina nur selten belegt, es findet sich aber in der ramessidischen Massenware und hält sich bis in die Eisenzeit.

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Aus der Gegend um → Samaria oder aus → Bet-Schemesch stammt ein Skaraboid mit einem Herrn oder einer Herrin der Capriden. Nicht feststellen lässt sich das Geschlecht „des Herrn / der Herrin der Capriden“ auf zwei Rollsiegeln aus → Taanach und → Hazor. Dass beide Szenen von Bäumen gerahmt werden, könnte auf eine Göttin deuten.

Ziege 06

Das Vorkommen von Capriden in Darstellungen vom Typos des „Herrn der Tiere“ lässt vermuten, dass sie für Kräfte stehen können, die von einer Gottheit, einem Helden oder einem König beherrscht werden. Die Unterwerfung von Capriden wird auch in Tierkampfszenen dargestellt, in denen Capriden nicht als Angreifer, sondern nur als Opfer von Angriffen auftreten. So gibt es Darstellungen von Capriden, die vom Pharao erschlagen werden. Häufig ist der Capride Opfer eines angreifenden → Löwen, der möglicherweise den König in seiner Funktion, Feinde niederzuschlagen, darstellt.

Ziege 07

Bestimmte Darstellungen des „Herrn der Capriden“ könnten dafür sprechen, in den Capriden nicht nur unterworfene Mächte zu sehen, sondern auch Repräsentanten der Kraft der „Herren“. Ein Rollsiegel aus → Bet-Schean (ausgehendes 8., frühes 7. Jh.), zeigt den von einem Capriden und einem Greif flankierten Lebensbaum. Das Rollsiegel kombiniert drei Aspekte der Capridendarstellung: Im oberen Register zielt ein Bogenschütze auf einen springenden Capriden, daneben hält eine geflügelte „Herrin (?) der Tiere“ zwei Capriden an ihren Hinterläufen fest. Die Szene wird vielleicht mit Astralsymbolik kombiniert, falls die abgebildeten vier Punkte → Sterne darstellen sollen.

Die Gottheit kann auch hinter einem Capriden am → Baum stehen und den gespannten Bogen auf einen Löwen richten. In solchen und ähnlichen Darstellungen tritt der „Herr“ bzw. die „Herrin der Capriden“ als wohl als Beschützer(in) der zugeordneten Tiere auf. Es scheint, dass positiv-schützende (und mit Fruchtbarkeit verbundene) Darstellungen des „Herrn der Tiere“ vor allem mit Capriden verbunden sind.

3.2. Capriden als Symbol für Leben, Heil und Fruchtbarkeit

Eine andere Konnotation von Capriden, nämlich die Verbindung mit Fruchtbarkeitssymbolik, ist im gesamten Vorderen Orient verbreitet. Im Bildprogramm des Vorderen Orients gelten Capriden von den → Sumerern bis in die → Perserzeit als Repräsentanten der (nackten) → Göttin bzw. als Symbol der →

Ziege 09

Besonders der liegende Capride mit zurückgedrehtem Kopf findet sich auf altsyrischen Siegeln häufig in Verbindung mit der nackten Göttin. Seit der Bronzezeit werden Zweig, Capride und Göttin kombiniert: Auf den Beinen einer spätbronzezeitliche Figurine von Tell Ḥărāšīm sind je ein Capride an einem → Baum abgebildet. An den Brüsten der Frau, die ihre Hände öffnend an ihre Scham hält, saugen zwei menschliche Figuren (Kinder?). Auf einem altsyrischen Rollsiegel kniet ein Mischwesen mit widderartigem Kopfschmuck vor der nackten Göttin, die ihren Mantel öffnet. Das Bild zeigt außerdem → Skorpion und → Taube, die wohl als Fruchtbarkeitssymbole fungieren (Abb. 8), ein geflügelter Greif dient vielleicht als Schutzsymbol.

Ziege 10

Die Beziehung von Baum bzw. Zweig zur Fruchtbarkeitssymbolik zeigt sich auf verschiedenen Skarabäen der Mittelbronzezeit IIA, die die nackte Göttin von Zweigen flankiert darstellen bzw. so, dass Zweige aus ihrer Scham sprießen.

Ab der Eisenzeit wird die Göttin nicht mehr dargestellt. Statt dessen finden sich Bildkompositionen, die die Attribute der Göttin (Capriden, Lebensbaum, Zweig) kombinieren. So können auf → Siegelamuletten Adoranten vor einem Capriden dargestellt werden.

Ziege 11

Ebenso lassen sich Darstellungen von Verehrern am Baum finden. Dabei wird der ursprüngliche → Lotusbaum auf grob in die Eisenzeit II-III datierbaren palästinischen Stempelsiegeln zur → Palme stilisiert dargestellt. Baum und Ziegen werden im Motiv „Capriden am Lebensbaum“ kombiniert. Dieser bereits auf altsyrischen Siegeln belegte Bildertyp hält sich in Syrien-Palästina bis in die Eisenzeit III (Abb. 10).

Ziege 12

Wohl weil beide Tiere schwarz sind, werden → Schlange und Ziege in der Ikonographie ähnlich konnotiert. Die enge Verbindung zeigt sich bereits in der Ikonographie des Ziegengottes der Urukzeit. Auf Siegeldarstellungen ist der ziegengestaltige Gott gemeinsam mit Schlangen abgebildet.

Schlange 07

Sowohl Schlangen als auch Capriden wird „aggressive Lebendigkeit“, „Lebenskraft“ sowie „Heilkraft“ zugeschrieben (Keel, 1992a, 208). Daher dienen sie auch als Attributtiere weiblicher Gottheiten. So können Capriden im Bildtypos der Qudschu (→ Göttin) die Göttin rahmen. In späterer Zeit werden sie durch die – ebenfalls schwarze – Schlange ersetzt.

Ziege 14

Dass Göttin und Capriden zusammengehören und als Zeichen für → Fruchtbarkeit und Leben dienen, wird schließlich in einem Bildtypos aufgenommen, der ab der Eisenzeit I vorkommt. Ziegen oder Wildziegen und Steingeißen werden als Muttertiere dargestellt, die ihre Jungen säugen. Das säugende Muttertier und die Capriden am Zweig sind auch in Eisenzeit IIB noch beliebt. Dabei können die säugenden Capriden zu zweit, zusammen mit der Göttin und einem Verehrer, mit → Skorpion oder einzeln schreitend dargestellt werden. In einer Parallele aus dem 8. Jh. aus → Sidon wird der Skorpion durch das ankh-Zeichen ersetzt. Ein Siegel aus der Eisenzeit IIB zeigt einen Capriden mit Jungtier und Astralsymbolen, möglicherweise ein weiterer Hinweis auf den himmlisch-göttlichen Aspekt des Bildes.

4. Altes Testament

4.1. Begriffe

Der Ziegenbock kann mit verschiedenen Begriffen bezeichnet werden. גְּדִי gədî heißt der junge Ziegenbock, עַתּוּד ‘attûd meint wohl den geschlechtsreifen Leitbock, metaphorisch auch menschliche Machthaber und Anführer. Ferner benennen צָפִיר zāfîr, תַּיִשׁ tajîš und שָׂעִיר śā‘îr den Ziegenbock. עֵז ‘ez bezeichnet sowohl männliche als auch weibliche Ziegen.

1) Ziege / Ziegenbock (עֵז): Die Etymologie des gemeinsemitischen Wortes עֵז ‘ez „Ziege“ (vgl. ugaritisch ‘z „Ziege[nbock]“) ist unsicher. Die Ableitung von עזז ‘zz „frech / stark sein“ wird von der neueren Forschung bestritten. Statt dessen wird vorgeschlagen, dass es sich um ein Primärnomen handelt, das auf ein ursprüngliches *anzu oder *inzu mit der Bedeutung „Ziege“ zurückgeht (vgl. jungaramäisch ‘izzā’; syrisch ‘ezzā’; arabisch ‘nz; akkadisch enzu / ezzu; jeweils „Ziege“). Das Wort עֵז ‘ez kann außerdem das Fell der Ziege bezeichnen (Ex 25,4; Ex 26,7; Ex 35,6.23.26; Ex 36,14; Num 31,20). Zur genaueren Spezifizierung wird der Begriff עֵז ‘ez in verschiedenen Wortverbindungen verwendet: a) „Ziegenböckchen“: In Verbindung mit גְּדִי gədî bezeichnet der Begriff das Ziegenböckchen (Gen 27,9.16; Gen 38,17.20; Ri 6,19; Ri 13,15.19; Ri 15,1; 1Sam 16,20). b) „Ziegenbock“: In der → Priesterschrift bezeichnet עֵז ‘ez nach שָׂעִיר śā‘îr den „Ziegenbock“ (Gen 37,31; Lev 4,23; Lev 9,3; Lev 16,5; Lev 23,19; Num 7,16.22.28.34.40.46.52.58.64.70.76.82.87; Num 28,15.30; Num 29,5.11.16.19.25; Ez 43,22; Ez 45,23), עֵז ‘ez mit צָפִיר zāfîr meint ebenfalls den „Ziegenbock“ (Dan 8,5.8; 2Chr 29,21; Esr 6,17). c) „Ziege“: Auf weibliche Ziegen bezieht sich die Constructus-Verbindung שְׂעִירַת עִזִּים śə‘îrat ‘izzîm (nur Lev 4,28; Lev 5,6). d) „Ziegenlämmer“: Ziegenlämmer werden in 2Chr 35,7 durch die Verbindung mit בְּנֵי bənê bezeichnet.

2) Ziegenbock (שָׂעִיר): Das Wort שָׂעִיר śā‘îr bedeutet eigentlich „Haariger“ (vgl. שׂער I ś‘r „behaart“; akkadisch šārtu(m) „Haare / Fell“; ägyptisch ś’r „Gestrüpp“) und bezieht sich auf das Aussehen der Ziegenböcke.

3) Leitbock (עַתּוּד): Der Begriff עַתּוּד ‘attûd ist im Alten Testament 29-mal und ausschließlich im Plural (עַתּוּדִים ‘attûdîm) belegt. Die Etymologie ist unsicher (vgl. akkadisch atūdu „wildes Schaf“; arabisch ‘atūd „Jährlingsziege“). Gesenius und KBL2 geben – allerdings ohne Deutung – eine Wurzel ‘td II mit Verweis auf akk. atūdu („wildes Schaf“) an. Landsberger (1934, 97) vermutet einen Bezug zu ‘td I „bereit sein“ und versteht unter עַתּוּד ‘attû einen jungen Schafbock, der altersmäßig zwischen dem Jungtier גְּדִי gədî und dem ausgewachsenen Widder (אַיִל ’ajil) steht. Nach Gen 31,10.12 handelt es sich bei den עַתּוּדִים ‘attûdîm um geschlechtsreife Ziegenböcke. Der Gebrauch des Begriffs in Jes 14,9 und Jer 50,8 legt nahe, dass Leitböcke, d.h. wohl kräftige und für zur Zucht besonders wertvolle Tiere gemeint sind (vgl. Dtn 32,14). Die Tatsache, dass die עַתּוּדִים ‘attûdîm meist gemeinsam mit Widdern (אֵילִים ’êlîm; Ez 37,17; Ps 66,15) oder mit Widdern und Lämmern (כָּרִים kārîm; Dtn 32,14; Jes 34,6; Jer 51,40; Ez 27,21; Ez 39,18 bzw. כְּבָשִׂים kәvāśîm; Num 7,17-88; Jes 1,11) genannt werden, spricht dagegen, dass עַתּוּד ‘attûd auch den Widder (eigentlich אַיִל ’ajil) bezeichnet. Das Wort meint also wohl den starken und geschlechtsreifen Leitbock einer Ziegenherde.

4) Ziegenbock (צָפִיר): Das Wort צָפִיר zāfîr bezeichnet vermutlich den mächtigen und starken Ziegenbock. Er kommt im Alten Testament an vier Stellen vor (Dan 8,4-8.21; Esr 6,17; Esr 8,35; 2Chr 29,21). Der Begriff ist vielleicht von aramäisch səfîr(ā’*[?]) „Ziegenbock“ entlehnt.

5) Ziegenbock (תַּיִשׁ): Der Begriff תַּיִשׁ tajîš bezeichnet an vier Stellen (Gen 30,35; Gen 32,15; Spr 30,31; 2Chr 17,11) allgemein den Ziegenbock.

6) Böckchen (גְּדִי): Das Lexem גְּדִי gədî „Ziegenböckchen“ (Etymologie ungeklärt) bezeichnet, wenn es allein steht, allgemein das Jungtier von Schaf oder Ziege (vgl. ugaritisch gd(j) „Zicklein“; akkadisch gadû „Böckchen“). Das weibliche Zicklein heißt גְּדִיָּה gədîjjāh (Hhld 1,8).

7) weitere Begriffe: Wie die in Dtn 14,5 genannten Tierbezeichnungen אַקּוֹ ’qqô (Steinbock?; Wildziege?) und זֶמֶר zæmær (Wildziege?; Wildschaf?) zu übersetzen sind, ist fraglich. Schafe und Ziegen im Herdenverband können gemeinsam mit den Nomen שֶׂה śæh oder צוֹאן ṣo’n („Kleinvieh“) bezeichnet werden.

4.2. Bildsprache

4.2.1. Macht und Stärke

Der Ziegenbock dient im Alten Testament als Bild für Macht und Stärke. In Jes 14,9 werden in Parallele zu „allen Königen der Völker“ „alle Mächtigen (עַתּוּדִים ‘attûdîm) der Erde“ genannt (vgl. Dan 8,5.8.21; Spr 30,29-31). Jer 50,8 befiehlt den Judäern, aus Babylon zu fliehen und auszuziehen „wie Leitböcke vor dem Kleinvieh her“. Der Leitbock, der beim Öffnen des Gatters als erster hinausdrängt, dient hier als Bild für schnelles und vorbildliches Handeln. Spr 30,31 vergleicht den König mit einem Ziegenbock. Hier wird nicht das Wort עַתּוּד ‘attûd, sondern der Begriff תַּיִשׁ tajîš verwendet. Der Ziegenbock schreitet neben → Löwe und → Hahn stolz und stattlich einher. Dan 8,4-8.21 verwendet für die Macht der griechischen Herrschaft Alexander des Großen ebenfalls das Bild eines Ziegenbocks (צָפִיר zāfîr), dem vier Hörner wachsen und den Widder (→ Meder und → Perser) überwindet.

Dem Leitbock עַתּוּד ‘attûd kann auch eine negative Konnotation zugeschrieben werden, da dieser seine Vormachtstellung nur durch den Kampf mit seinen Konkurrenten erhält. Ez 34,17 spricht von Widder und Ziegenbock als von starken und fetten Tieren, die die schwachen und mageren Schafe von ihrem Weidegrund vertreiben (vgl. Mt 25,33). Nach Sach 10,3 entbrennt der Zorn Jahwes gegen Hirten und Leitböcke, die ihre Herde, das Volk der Judäer, ins Verderben führen. Ez 39,17-20 erzählt von einem Strafgericht gegen Gog, an dem die Feinde Israels wie Opfertiere geschlachtet und anschließend von allen Vögeln und wilden Tieren gefressen werden. Von einem ähnlichen Blutrausch spricht auch Jes 34,6 im Gerichtsbild gegen → Edom. Das Schwert Jahwes wird triefen vom Fett und vom Blut der Lämmer, Böcke und Widder (vgl. Jer 46,19). Gemeinsam mit Lämmern und Widdern werden die Bewohner → Babylons in einem gegenüber Jes 34 und Ez 39 abgeschwächten Bild ebenfalls zu Schlachtbank geführt werden.

4.2.2. Schwäche und Zartheit

1Kön 20,27 vergleicht die Krieger Israels mit einem elenden Häuflein Ziegen (עֵז ‘ez).

In dem Friedensbild von Jes 11,6 zeigt sich das friedliche und opfergleich Image des Böckchens (גְּדִי gədî). Es wird in einem Parallelismus mit dem Lamm (כֶּבֶשׂ kævæṣ) Raubtieren gegenübergestellt. In der Gesamtreihe der Tiere, die in Jes 11,6-9 als Jäger und Gejagte einander gegenüberstehen, finden sich auf der Seite der Opfer ausschließlich Herdentiere, die in Palästina als Haustiere fungierten. In der Erzählung vom Helden → Simson (Ri 14,5-6), dessen Begabung mit dem göttlichen Geist sich daran offenbart, dass er einen → Löwen zerreißt wie ein (gekochtes) Böckchen, zeigt sich ebenfalls, dass man mit dem Böcklein Zartheit assoziierte.

4.2.3. Schönheit

Das → Hohelied vergleicht das schwarze Ziegenhaar (עֵז ‘ez) mit dem Haar der Geliebten: So wie eine Herde Ziegen vom Gebirge → Gilead herabstürmt, fällt der Geliebten das lange, schwarze Haar vom Kopf herab (Hhld 4,1; Hhld 6,5; vgl. Hhld 1,5). Der Vergleich dient dazu, die unzählbare Menge an Haaren sowie Vitalität und vorwitzige Zähigkeit der Geliebten zu unterstreichen (vgl. Keel, 1992b, 132f.).

Wenn im Hohenlied (Hhld 1,8) der Geliebte seine Freundin anweist, „ihre Zicklein“ (גְּדִיָּה gədîjāh) beim Lager der Hirten zu weiden, könnte hinter dem Begriff ein Euphemismus für die Brüste der Frau stehen (vgl. Hhld 4,5), die in ihrer Schönheit und Zartheit besungen werden.

4.3. Kult

4.3.1. Kultgerät

Die Decken des Stiftzeltes bestanden nach Ex 26,7; Ex 36,14 aus Ziegenhaar (עֵז ‘ez). Um sie zu weben, sind nach Ex 35,26 weise, kunstfertige Frauen nötig.

4.3.2. Opfer

1) Sündopfer: Im Zusammenhang mit dem Sündopfer (חַטָּאָת chāṭṭā’t) ist meist von שָׂעִיר śə‘îr „Ziegenbock“ die Rede (שְׂעִיר עִזִּים śə‘îr ‘izzîm in Lev 4,23; Lev 9,3; Lev 16,5; Lev 23,19; Num 7,16-87; Num 15,24; Num 28,15.30; Num 29,5-25; Ez 43,22; Ez 45,23; שְׂעִיר חַטָּאָת śə‘îr chāṭṭā’t in Lev 9,15; Lev 10,16; Lev 16,15.27; Num 28,22; Num 29,28-38; Ez 43,25; 2Chr 29,23; ansonsten steht der Begriff שָׂעִיר śə‘îr nur noch in Gen 37,31, in der die Szene, in der Josefs Brüder sein Kleid in das Blut eines geschlachteten Ziegenbocks [שְׂעִיר עִזִּים śə‘îr ‘izzîm] tauchen). Sündopfer mit Ziegenböcken werden in der Priesterschrift und ihr nahe stehenden Texten dargebracht, um Wohnstätten einzuweihen (Num 7,16-82) oder um unbewusste Verfehlungen zu sühnen. Der König sühnt diese mit einem makellosen einjährigen Bock (Lev 4,23; שְׂעִיר עִזִּים śə‘îr ‘izzîm), während andere Menschen eine weibliche, fehlerfreie Ziege (שְׂעִיר עִזִּים śə‘îrat ‘izzîm) darbringen (Lev 4,28; vgl. Num 15,27; Lev 22,19.27). Nach Lev 5,5-6 soll der schuldig gewordene Mensch vor dem Opfern seine Schuld bekennen. Als Sündopfer fungieren Ziegenböcke auch beim Monatsopfer (Num 28,15), beim → Wochenfest (Num 28,30; Lev 23,19) sowie am 1., 10. und 15. des 7. Monats (Num 29,5.11.16) und am darauf folgenden 7tägigen Fest (Num 29,19.25) sowie am Versöhnungstag (Lev 16,5; → Jom Kippur). In dem Reinigungsritual Lev 16 wird ein Ziegenbock als → Sündopfer für Jahwe geopfert und ein zweiter lebendiger Ziegenbock in die Wüste geschickt (→ Sündenbock). Nach Ez 45,21-25 soll an jedem der sieben Feiertage zu → Passa ein Ziegenbock als Sündopfer dargebracht werden (vgl. Esr 8,35). Auch für die Weihung des → Altars sollen nach Ez 43,22 sieben Tage lang Opfer dargebracht werden (vgl. 2Chr 29,21), am zweiten Tag ein Ziegenbock (שְׂעִיר עִזִּים śə‘îr ‘izzîm) als Sündopfer (vgl. Lev 16,18f. [שָׂעִיר śā‘îr]).

Nur in Esr 6,17 wird im Zusammenhang mit einem Sündopfer der Ziegenbock nicht שָׂעִיר śā’îr, sondern צָפִיר zāfîr genannt. Bei der Einweihung des Zweiten → Tempels werden neben Stieren, Widdern und Lämmern für die Zahl der Stämme Israels zwölf Ziegenböcke geschlachtet (vgl. 2Chr 29,21).

2) Brandopfer: Nach Lev 1,10 gehören makellose männliche Schafe oder Ziegen (עֵז ‘ez) zum privaten → Brandopfer (עוֹלָה ‘ôlāh). Als Opfertier gelten für die Ziege in den Opfergesetzen der → Priesterschrift besondere Bestimmungen: Die → Erstgeburt von → Rind, → Schaf und Ziege darf nicht ausgelöst werden. Ihr Blut wird an den Altar gesprengt, das Fett als Brandopfer dargebracht (Num 18,17; vgl. Num 15,11). Hier zeigt sich wiederum dieselbe Reihung von → Rind, → Schaf und Ziege wie schon in den Reinheitsgeboten Dtn 14,4 und der Schlachtanweisung Lev 17,3.

In nichtpriesterschriftlichen Zusammenhängen fungiert auch der Leitbock עַתּוּד ‘attûd als Brandopfer. Ps 66,15 verspricht, gemästete Tiere zu opfern und Widder, Rinder und Ziegenböcke zuzubereiten. Zwei kultkritische Texte sprechen vom „Blut der Ziegenböcke“: Jes 1,11 verurteilt die Opfer, die in einer gesellschaftlichen Situation voll Unrecht und Unterdrückung dargebracht werden. Solche Opfer sind Gott zuwider. Ps 50,7-15 betont, dass Gott, dem alle Tiere gehören, nicht auf die Opfer von → Stieren und Ziegenböcken (עַתּוּדִים ‘attûdîm; Ps 50,9) angewiesen ist und die Opfertiere ihm nicht als Nahrung dienen.

Das → Richterbuch erzählt an zwei Stellen von der Umdeutung eines Gastmahls in ein Opfer für Gott: In Ri 6 wird die von → Gideon für den Boten Gottes zubereitete Gabe (מִנְחָה minchāh), nämlich ein Ziegenböckchen (גְּדִי gədî) und ungesäuertes Brot, zu einem Brandopfer umfunktioniert. Das Feuer für das Brandopfer wird von dem Boten durch eine Wunderhandlung entfacht (→ Wunder). Das von Manoach in Ri 13 für den → Boten Gottes zubereitete Ziegenböckchen wird gemeinsam mit einem Speiseopfer (מִנְחָה minchāh) von himmlischem Feuer verzehrt. Aus dem Felsen, auf den Manoach die Speisen legt, wird ein → Altar, der Ziegenbock und das Speiseopfer werden zum Brandopfer. Wohl ebenfalls als Opfergabe bringen die drei Männer in 1Sam 10,3 drei Böckchen, drei Brote und einen Weinschlauch nach → Bethel.

3) Heilsopfer: An 18 Stellen wird עַתּוּד ‘attûd „Ziegenbock“ als Opfertier aufgeführt. In priesterschriftlichen Texten dient er speziell als → Heilsopfer (זֶבַח הַשְּׁלָמִים zævach haššəlāmîm). Zur Altarweihe am Sinai brachten nach der Kulttheologie in Num 7,17-88 die zwölf Stämme Israels an zwölf Tagen jeweils Gaben und Tiere, die auf dem Altar als Brand-, Sünd- und Heilsopfer dargebracht wurden. Als Heilsopfer dienen 2 Rinder, 5 Widder, 5 Ziegenböcke und 5 einjährige Lämmer. Lev 3,1-17 spricht im Zusammenhang von Opferbestimmungen für das Heilsopfer unspezifisch von einer Ziege (עֵז ‘ez; Lev 3,12). Ihr soll der Opfernde vor dem Schlachten die Hände auf den Kopf legen (Lev 3,13; vgl. Lev 4,24.29).

4) Hebopfer: Das wertvolle Ziegenhaar (עֵז ‘ez) ist Teil des Hebopfers (Ex 25,4; Ex 35,6.23; → Opfer).

5) Gen 15,7-21: Umstritten ist die Interpretation des Vorgangs in Gen 15,7-21, der mit dem Bundesschluss zwischen Gott und Abram endet. Abram schlachtet eine „dreijährige Jungkuh“, eine „dreijährige Ziege“ (עֵז ‘ez), einen „dreijährigen Widder“, eine „Turteltaube“ und eine „junge Taube“ und zerteilt die Säugetiere in zwei Hälften. Ob es sich dabei um einen Opfervorgang handelt, ist unsicher (vgl. Westermann, 3. Aufl. 2003, 267f.; dagegen Zobel, ThWAT 1199).

6) Ziegen als Opfertiere in Qumran: Auch in Qumran fungiert die Ziege als Opfertier zu verschiedenen Festen. Tempelrolle 52,5 legt fest, dass trächtige Tiere als fehlerhafte Tiere gelten und nicht geopfert werden dürfen. Die Bestimmungen von Dtn 12 werden in der Hinsicht präzisiert, dass Rinder, Schafe und Ziegen zu profanen Zwecken nicht in Städten geschlachtet werden dürfen, die näher als drei Tagesreisen von Jerusalem entfernt sind.

4.3.3. Speisevorschriften

Als Paarhufer und Wiederkäuer gehören Ziegen nach Dtn 14,4 (vgl. Lev 11,3) neben Rindern und Schafen zu den reinen Tieren.

Nach der → Priesterschrift soll das Tier, das zu → Passa verzehrt wird, ein makelloses einjähriges männliche Jungtier von Schaf oder Ziege (עֵז ‘ez) sein (Ex 12,5). Lev 7,23 behält das Fett der Ziegen (עֵז ‘ez) Gott als Opfer vor. Lev 22,27 bestimmt, dass eine Ziege (עֵז ‘ez) oder ein → Schaf nach der Geburt sieben Tage bei der Mutter bleiben muss, bevor es geopfert werden darf.

Das Verbot, das Böcklein (גְּדִי gədî) in der Milch seiner Mutter zu kochen, findet sich in Ex 23,19; Ex 34,26 und Dtn 14,21. Die Bestimmungen in Ex 23 und Ex 34 stehen im Zusammenhang mit den Bestimmungen der Festkalender für die drei Wallfahrtsfeste Mazzot, Erntedank und Weinlese. Die deuteronomistische Rezeption in Dtn 14,21 stellt dieser Gebote in den allgemeinen Kontext der Speisegebote.

Der Grund für diese Bestimmung ist ungeklärt. Lange hielt sich die These, dass es sich hier um die Abgrenzung zu alten Fruchtbarkeitsriten handle. Diese These wurde begründet mit einer (vermeintlichen) Parallele zu dem ugaritischen Šaẖar-Šalim-Text (KTU 1.23,14f.), der von dem siebenmaligen Kochen eines Böckchens in Milch berichtet, um El zu neuen Kräften zu verhelfen. Botterweck (1973, 926) vermutet daher, dass das Verbot in Ex 23 seinen Grund darin hat, eine synkretistische Verwechslung mit dem Passalamm zu verhindern, das nicht in Milch und Wasser gekocht werden durfte. Als diese Gefahr nicht mehr gegeben war, sei das Gebot an die Speisegebote in Dtn 14 angeschlossen worden. Jedoch ist der Sitz im Leben des ugaritischen Textes ungeklärt und die Parallelität zu Ex 23 zweifelhaft. Haran (1979; 1985) sieht daher in dem Gebot eine allgemein-humane Regel, die von einem Respekt vor der Bindung zwischen Mutter- und Jungtier zeugt. Keel (1980) denkt an eine Tabuvorstellung, die in dem Respekt vor der Weitergabe des Lebens gründet und verbietet, das Muttertier mit seinem Jungen zu opfern. Mit dem Verbot solle verhindert werden, dass die Beziehung zwischen Muttertier und Jungem sofort nach der Geburt zerstört werde. Dieser Ansatz wird von Knauf (1988) weitergeführt, der vermutet, dass das Tabu ursprünglich auf die (Mutter-)göttinnen Anat und Aschtart bezogen gewesen sei und durch das Deuteronomium als Abgrenzung gegen den außerisraelitischen Brauch, Fleisch in Milch zu kochen, aufgenommen wurde. Milgrom (1991, 741) wiederum vermutet hinter dem Verbot den Versuch, die Vermischung von Leben und Tod zu verhindern. Das tote Jungtier soll nicht in der ihm als lebensspendenden Stoff zugedachten Nahrung gekocht werden. Textkritische Vorschläge (Heckl, 2002; Sasson, 2002) wollen statt „Milch“ (חָלָב chālāv) „Fett“ חֶלֶב chælæv lesen. Nach Schorch (2010) hingegen verbieten Ex 23,19 und Ex 34,26, ein Böckchen zu kochen, solange es in der Milch seiner Mutter ist, d.h. noch gesäugt wird. Dtn 14,21 rezipiert diese syntaktisch mögliche Lesart und stellt sie nicht nur in den allgemeinen Zusammenhang der Speisegebote, sondern korrigiert auch die Opfergesetze, wie sie in Ex 22,29 und Lev 22,27 (Opferung des Böckchens jeweils am achten Lebenstag) gegeben werden: Erst Jungtiere, die nicht mehr gesäugt werden, dürfen verzehrt werden (vgl. Dtn 15,19-20 ohne Altersangabe).

4.4. Bocksdämonen?

Die Pluralform שְׂעִירִים śə‘îrîm wird an vier Stellen des Alten Testaments (Lev 17,7, Dtn 32,2, Jes 13,21, 2Chr 11,15) oft mit „Bocksdämonen“ übersetzt. In Jes 34,14, der eigentlichen Referenzstelle für die Bestimmung der שְׂעִירִים śə‘îrîm als „Bocksdämonen“, steht der Singular שָׂעִיר śā‘îr. Bei einer genauen Analyse der Befunde zeigt sich jedoch, dass von „Bocksdämonen“ im Alten Testament keine Rede sein kann. Der Begriff שְׂעִירִים śə‘îrîm bezeichnet vielmehr Ziegenböcke, die in Jes 13,21-22 und Jes 34,14 zu den Bewohnern von Trümmern gehören. In Lev 17,7 und 2Chr 11,15 sind Fremdgötter gemeint, über deren Charakter kaum Aussagen gemacht werden können. Möglicherweise steht hinter der Polemik die enge Verbindung von Capriden mit der Göttin, deren Verehrung so abqualifiziert wird.

Das frühe Judentum hat die שְׂעִירִים śə‘îrîm als → Dämonen verstanden und in seine Dämonologie integriert (so die Targume zu Jes 13,21; Lev 17,7; Jes 34,14; 2Chr 11,15; vgl. Babylonischer Talmud, Traktat Berakhot 62b; Traktat Baba Batra 25a [Text Talmud] zu Dtn 32,2 [„Das ist der Ostwind, der durch die Welt fegt wie ein śā‘îr“]; Sifra 17,7 [330a]). Azazel wird zum bocksgestaltigen Wüstendämon und gilt als einzig namentlich benannter Bocksdämon als deren Anführer (→ Sündenbock). Im Anschluss an diese Tradition charakterisiert Fischer (2002, 90 [Anm. 399]) die „Bocksgeister“ folgendermaßen: „Hier handelt es sich wohl um bocksgestaltige Dämonen, Satyre, Bocksdämonen oder Haarige (…). Die Israeliten fürchten bocksgestaltige Felsdämone [sic] (…) und bringen ihnen Opfer dar (…) ähnlich den šedîm (→ Dämonen)". Staubli (1991, 177) bezieht auch die ikonographischen Zeugnisse mit ein: „Das lebenslustige, trotzige Starksein und die dämonisch gehörnte Haarigkeit gaben dem Tier im AO eine symbolische Dimension: einerseits als Ziege am Lebensbaum (…) und andererseits als Bocksgeist (…). Nach Meinung des Volkes hausen diese Dämonen gerne in verfallenen und versteppten Städten (…). Aufgrund dieses dämonischen Aspekts fand der Ziegenbock Verwendung im großen Sühneritual des israelitischen Volkes (Lev 16,10.21f.), da seine Beseitigung die Beseitigung der Sünden darstellte.“

Jedoch zeigt sich bei der getrennten Betrachtung von Texten und ikonographischen Zeugnissen folgendes Bild: In der Bildkunst Syrien-Palästinas werden Capriden ambivalent dargestellt. Sie gelten einerseits als Tiere, die gebändigt werden müssen, und dienen so auch als Podesttier, andererseits gehören sie in die Sphäre der Göttin und sind eng mit Fruchtbarkeit, Lebens- und Heilkraft verbunden. Besonders der zweite Aspekt ist über den gesamten altorientalischen Raum über einen langen Zeitraum verbreitet. In den alttestamentlichen Texten wird der Begriff auf zwei unterschiedliche Weisen verwendet: Die negativen Eigenschaften der śə‘îrîm bestehen nach Lev 17,7 und 2Chr 11,15 darin, dass sie der Ausschließlichkeit der Jahwe-Verehrung widersprechen. Dass sie von den sie verehrenden Menschen gefürchtet worden wären, erschließt sich aus Lev 17,7 bzw. 2Chr 11,15 nicht. Die hier angewandte Polemik assoziiert die śə‘îrîm mit der Todessphäre, die den Bereich außerhalb des kultisch reinen Gebiets kennzeichnet. Als Furcht einflößende Tiere erscheinen die śə‘îrîm bzw. der śā’îr hingegen in Jes 13,21-22 und Jes 34,14. Hier gehören die śə‘îrîm zum Topos der von der Zivilisation abgeschnittenen gegenmenschlichen Welt und befinden sich als Einwohner der Ödnis immer in Gesellschaft anderer unheimlicher, weil peripherer Wesen. Diese Belegstellen legen es gerade nicht nahe, den śə‘îrîm Kräfte zuzusprechen, die ihre Verehrung sinnvoll machen.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

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  • Biblisch-historisches Handwörterbuch, Göttingen 1962-1979
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  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
  • Biblisches Reallexikon, 2. Aufl., Tübingen 1977
  • Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 5. Aufl., München / Zürich 1994-1995
  • Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
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  • Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 2006

2. Weitere Literatur

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Abbildungsverzeichnis

  • Ziegen an einem Baum. © public domain (Foto: Klaus Koenen, 1999)
  • Hirte mit Kleinviehherde aus Schafen und Ziegen. © Katholisches Bibelwerk, Linz
  • Schaf- oder Ziegenbälge wurden am Hals und an den Beinen zugeschnürt, um als Schläuche zum Transport von Getränken zu dienen. © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
  • Herr der Steinböcke (Akko; Mittelbronze IIB). Aus: Keel, 1997, 537, Abb. 18; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
  • Herr oder Herrin der Capriden zwischen Bäumen (Taanach; Eisenzeit IIB). Aus: O. Keel / Chr. Uehlinger, Götter, Göttinnen und Gottessymbole (QD 134), Freiburg, 5. Aufl. 2001, Abb. 197b; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
  • Der Pharao erschlägt einen Capriden (Ägypten; Mittelbronze II B). Aus: Keel, 1990, 30, Abb. 2; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
  • Geflügelte Herrin (?) der Capriden, Jagd, Greif und Capride am Baum, Adorationszene (Bet-Schean; Eisenzeit IIC). Aus: O. Keel / Chr. Uehlinger, Götter, Göttinnen und Gottessymbole (QD 134), Freiburg, 5. Aufl. 2001, Abb. 308; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
  • Nackte Göttin mit Widderköpfigem, Taube, Skorpion und Greif (altsyrisch). © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
  • Göttin mit Widderhörnern und Zweigen (Jericho; Mittelbronze IIB). Aus: O. Keel / Chr. Uehlinger, Götter, Göttinnen und Gottessymbole (QD 134), Freiburg, 5. Aufl. 2001, Abb. 2; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
  • Verehrer vor Capride (Tell Mubārak; Eisenzeit IIA). Aus: O. Keel / Chr. Uehlinger, Götter, Göttinnen und Gottessymbole (QD 134), Freiburg, 5. Aufl. 2001, Abb. 178b; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
  • Capriden am Baum; nackte Göttin (Akko; Spätbronze). Aus: O. Keel / Chr. Uehlinger, Götter, Göttinnen und Gottessymbole (QD 134), Freiburg, 5. Aufl. 2001, Abb. 53; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
  • Ziegengott mit Schlangen (Westzagros; Urukzeit). Aus: Keel, 1992a, 261, Abb. 269; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
  • Nackte Göttin mit Schlangen und Capriden auf Löwe (Mīnet el-Bēdā; Spätbronze I/IIA). Aus: O. Keel, Das Recht der Bilder gesehen zu werden. Drei Fallstudien zur Methode der Interpretation altorientalischer Bilder (OBO 122), Freiburg (Schweiz) / Göttingen 1992, 246, Abb. 218; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
  • Säugende Ziege mit Skorpion (Taanach; Eisenzeit IIA). Aus: O. Keel / Chr. Uehlinger, Götter, Göttinnen und Gottessymbole (QD 134), Freiburg, 5. Aufl. 2001, Abb. 175a; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz

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