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Wüstenwanderung

(erstellt: Januar 2007)

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1. Abgrenzung, Stationen, 40-jährige Dauer

1.1. Von der Wüstenwanderung der Israeliten wird im Anschluss an ihre Errettung am Meer (Ex 13,17-15,21) in Ex 15,22-18,27 und nach der Sinaiperikope (Ex 19,1-Num 10,10) in Num 10,11-21,35 erzählt (vgl. auch Dtn 1-3). Die Siege über die Könige → Sihon und → Og (Num 21,21-35) gehören zwar bereits zu dem Thema → „Landnahme“, da durch sie Israel seine ostjordanischen Gebiete eroberte, aber erst in Num 22,1 beginnt ein neuer Abschnitt mit dem Thema „Israel in den Steppengebieten von Moab“.

1.2. Über den Weg der Israeliten gab es unterschiedliche Vorstellungen. So haben sie z.B. auf ihrem Weg in das Ostjordanland nach Num 20,14-21; Num 21,4a.11ff.* Edom umgangen, dagegen durften sie nach Dtn 2,4-8a durch Edom ziehen. Von wenigen Ausnahmen wie z.B. → Kadesch (‘Ēn el-Qudērāt) abgesehen ist eine Lokalisierung der Angaben über den Aufenthalt der Israeliten in der Wüste umstritten oder nicht möglich. Das gilt auch für das Stationenverzeichnis in Num 33,1-49, das nicht vor der Pentateuchredaktion angesetzt werden kann. In ihm wurden Angaben der Wüstenüberlieferung mit Itineraren verbunden, die vermutlich Handelswege von Ägypten (?) zu dem Hafen Ezjon-Geber am Nordende des Golfs von Aqaba und von dort durch die Araba nach Transjordanien beschrieben.

1.3. Die Auffassung, dass die Wüstenwanderung 40 Jahre dauerte (Dtn 2,7; Dtn 8,2.4; Dtn 29,4; Jos 5,6 u.a.), geht wohl erst auf die Deuteronomistik zurück (vgl. u.a. die deuteronomistische Bearbeitung der Amosüberlieferung Am 2,10; Am 5,25; → Deuteronomismus). Bereits nach der vorpriesterlichen Fassung der Kundschaftergeschichte (Num 13-14*) hatte JHWH der Exodusgeneration (außer → Kaleb) die Landnahme versagt, weil sie sich geweigert hatte, in das verheißene Land zu ziehen (Num 14,23-24). Da die erwachsenen Männer einer Generation in der Regel innerhalb von 40 Jahren starben, setzte die Deuteronomistik für die Wüstenwanderung 40 Jahre an und wirkte damit traditionsbildend. Deshalb war auch nach der → Priesterschrift Israel 40 Jahre in der Wüste (vgl. die Altersangaben für Mose in der Priesterschrift in Ex 7,7 und Dtn 34,7).

2. Die „Murr-Erzählungen“ in Exodus und Numeri

2.1. Die erzählende Überlieferung von dem Aufenthalt in der Wüste zeichnet von Israel in zehn „Murr-Erzählungen“ (teilweise ohne die Wurzel lwn „murren“) ein negatives Bild (→ Exodus; → Numeri). Drei von ihnen werden vor dem Sinai lokalisiert: Das Wasserwunder in → Mara (Ex 15,23-25a), die Wachtel-Manna-Erzählung (Ex 16,1-15) und „Wasser aus dem Felsen“ (Ex 17,1b-7). Die anderen sieben stehen nach dem Aufbruch vom Sinai: Unzufriedenheit des Volkes (Num 11,1-3), die Wachtel-Erzählung (Num 11,4ff.*), der Protest von → Mirjam und → Aaron gegen → Mose (Num 12), die Kundschaftergeschichte (Num 13-14), der Protest von → Datan und Abiram sowie von → Korach mit 250 Männern (Num 16-17), eine weitere Erzählung von Wasser aus dem Felsen (Num 20,1-13) und die Erzählung von der ehernen Schlange (Num 21,4b-9). Die Erzählungen gehören zu verschiedenen literarischen Schichten. Teilweise richtet sich z.B. der Protest nur gegen Mose, mehrfach aber gegen Mose und Aaron. Die Einbeziehung Aarons ist für die priesterliche Schicht charakteristisch. In Num 16-17 hat die Pentateuchredaktion eine vorpriesterliche Erzählung von dem Aufstand Datans und Abirams gegen Mose (Num 16*) mit einer priesterlichen Erzählung über die Rebellion von 250 Männern gegen Mose und Aaron verknüpft, die bereits von einer Korach-Bearbeitung erweitert worden war. Auch sonst wurde verschiedentlich ein Grundbestand ergänzt. So wurde z.B. in Ex 17,1bff.* später der Streit des Volkes mit Mose durch die Einfügung von V. 2b.3.7 zu einer Prüfung JHWHs durch das Volk gesteigert. Deshalb nannte Mose den Ort Massa und Meriba. Teilweise wurden die Erzählungen aus Ortsbezeichnungen entwickelt (Mara, Ex 15,23; Tabera, Num 11,3; Kibrot-Taawa, Num 11,34).

2.2. Für die Murr-Erzählungen ist zwischen zwei Typen zu unterscheiden. In dem einen ist die Existenz der Israeliten durch Mangel an Wasser (Ex 15,23ff.; Ex 17,1bff.; Num 20,1ff.) oder Hunger (Ex 16,1ff.) gefährdet. Dann werden sie von JHWH nicht bestraft, sondern er beseitigt ihren Mangel. In Num 20,1ff. werden zwar Mose und Aaron wegen ihres Unglaubens bestraft (V. 12), aber die Israeliten erhalten Wasser aus dem Felsen. In dem anderen Typ bestraft JHWH das Murren. Hier beklagen sich die Israeliten aus Unzufriedenheit oder Angst (Num 11,1-3; Num 11,4ff.*; Num 13-14; Num 21,4bff.), oder Einzelne (Num 12) bzw. eine Gruppe bestreiten die Sonderstellung von Mose oder von Mose und Aaron (Num 16). In diesem Typ wird verschiedentlich durch die Fürbitte des Mose die Strafe beendet oder abgemildert (Num 11,2-3; Num 12,13-14; Num 14,11ff.; Num 21,7-8). Die Murr-Erzählungen zeigen somit, dass JHWH Israel auch in den Gefahren der Wüste half. Er tolerierte jedoch keinen Protest, wenn die Existenz der Israeliten nicht tatsächlich gefährdet war oder wenn gegen die Sonderstellung von Mose (und Aaron) protestiert wurde.

Ein Abfall zu anderen Göttern wird in diesen Erzählungen nicht erwähnt. Nach dem → goldenen Kalb am Sinai (Ex 32) verehrten die Israeliten erstmals einen anderen Gott (Baal-Peor), nachdem sie bereits die Grenze zum verheißenen Land erreicht hatten (Num 25,1ff.). In der Wüste stellte sich somit für die Israeliten nicht die Alternative „JHWH oder ein anderer Gott“.

3. Weitere Texte

3.1. Auch nach der Hosea-Überlieferung verehrte Israel erstmals nach seiner Ankunft am Baal-Peor, an der Grenze zu seinem Land, einen anderen Gott (Hos 9,10). Ein Murren in der Wüste wird in dieser Überlieferung nicht erwähnt, sondern nach ihr war das Verhältnis zwischen JHWH und Israel in dieser Zeit ungetrübt (Hos 9,10; Hos 13,4-6). Nach dem Heilswort Hos 2,16-17 wird Israel wie in jenen Tagen „antworten“, wenn ihm JHWH nach einem neuerlichen Aufenthalt in der Wüste wieder das Land geben wird. Von der Auffassung der Hosea-Überlieferung über Israel in der Wüste ist wohl Jer 2,1-3 abhängig, wonach Israel in der Wüste treu war und von JHWH geschützt wurde. Diese Sicht hat sich jedoch nicht durchgesetzt.

3.2. Nach Dtn 8,2-16 (Anrede Israels im Singular) hat JHWH Israel in der Wüste geprüft und erzogen. Für die Wohltaten JHWHs wird hier u.a. das Wasserwunder in Ex 17,1bff. genannt (V. 15). Diese Episode wird aber in einem Zusatz in Dtn 6,16 (Anrede im Plural) als negatives Beispiel gebraucht: Die Israeliten dürfen JHWH nicht wie in Massa auf die Probe stellen. In Dtn 9,7ff. (spätdtr.) beziehen sich die Ortsangaben in Dtn 9,22-23 auf vorpriesterliche Erzählungen. Sie und der Abfall zum goldenen Kalb (Ex 32) belegen hier, dass die Israeliten während ihres ganzen Aufenthalts in der Wüste gegen JHWH widerspenstig waren. Das gilt auch nach Ps 95,8-11 für die 40 Jahre in der Wüste. Hier ist in V. 8f. wie in Dtn 6,16 das Verhalten des Volks in Massa (und Meriba) ein negatives Beispiel. Nach Ps 78 und Ps 106 (beide jünger als die Pentateuchredaktion) war Israel ebenfalls während seiner Zeit in der Wüste ungehorsam. Dafür werden – in Ps 106 ausführlicher als in Ps 78 – Erzählungen aus der Wüstenüberlieferung aufgenommen und interpretiert. Dagegen werden in dem späten Volksklagelied Neh 9,6ff. für den Ungehorsam Israels in der Wüste lediglich die Verweigerung der Landnahme (Neh 9,17, vgl. Num 14,4) und der Abfall zum goldenen Kalb (Neh 9,18) genannt. Das → Manna, das Wasser aus dem Felsen (V. 15) und das Wasserwunder in Num 20,1ff. (V. 20) werden hier als Wohltaten JHWHs an Israel aufgeführt. Auch in Ps 105, in dem der Ungehorsam Israels nicht erwähnt wird, werden in V. 40f. Wachteln und Manna und das Wasser aus dem Felsen als Gaben JHWHs genannt.

Diejenigen Murr-Erzählungen, in denen JHWH die Israeliten nicht bestrafte, wurden also später verschieden interpretiert. Sie galten entweder als Beispiele für den Ungehorsam Israels oder sie zeigten die Fürsorge, mit der JHWH sein Volk in der Wüste geleitet hatte. Wie er einst Wasser in der Wüste gab, wird er Israel in der Wüste nach Jes 43,16-21; Jes 48,20-21 auf seinem Weg in eine heilvolle Zukunft Wasser geben.

3.3. Eine einzigartige Beschreibung des Aufenthalts Israels in der Wüste enthält Ez 20,11-26. Danach waren die Israeliten ungehorsam, weil sie nicht die Satzungen und Rechtssätze JHWHs befolgten und seine Sabbate entweihten. In Ez 20,15 wird zwar aus der Wüstenüberlieferung aufgenommen, dass JHWH der Exodusgeneration die Landnahme versagte, aber ansonsten wird hier diese Überlieferung nicht berücksichtigt.

4. Neues Testament

In 1Kor 10,1-13 ist für Paulus die Exodus-/Wüstengeneration der Typos für das wandernde Gottesvolk der Christen. Dabei deutet er den Felsen, aus dem Wasser strömte, allegorisch auf Christus. Eine typologische Auslegung von Ps 95,7b-11 enthält Hebr 3,7-4,13.

Literaturverzeichnis

  • Achenbach, R., 2003, Die Vollendung der Tora (BZAR 3), Wiesbaden
  • Coats, G.W., 1968, Rebellion in the Wilderness, Nashville
  • Davies, G.I., 1979, The Way of the Wilderness (MSSOTS 5), Cambridge
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  • Frankel, D., 2002, The Murmuring Stories of the Priestly School (VT.S 89), Leiden u.a.
  • Schart, A., 1990, Mose und Israel im Konflikt (OBO 98), Freiburg (Schweiz) / Göttingen
  • Schmidt, L., 1993, Studien zur Priesterschrift (BZAW 214), Berlin / New York
  • Schmidt, L., 2004, Das 4. Buch Mose. Numeri Kapitel 10,11-36,13 (ATD 7/2), Göttingen

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