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Turmbauerzählung

(erstellt: November 2006)

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1. Der Titel „Turmbauerzählung“

Turmbau 1

Der herkömmliche Titel „Turmbauerzählung“ für Gen 11,1-9 ist irreführend. Die Erzählung erwähnt nicht nur ein Bauprojekt, sondern zwei: „Stadt“ und „Turm“ (Gen 11,4.5). Das Hauptaugenmerk liegt zudem auf „der Stadt“ (Gen 11,8). Überschriften wie „Der Turmbau zu Babel“ (Lutherbibel; Einheitsübersetzung) stehen im Bann der breiten Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte. Diese Geschichte hat aus der Themenbreite der Erzählung (s.u.) am stärksten den „Turm“ gewichtet. Solche Einseitigkeit lässt sich von der frühjüdischen Literatur an beobachten (vgl. den jüdisch-hellenistischen Historiker Eupolemos, den sog. samaritanischen Anonymus [Anfang 2. Jh. v. Chr.]: „der bekannte Turm“; s. Eusebius [263-339 n. Chr.], Praeparatio evangelica IX 17,2f; Text Kirchenväter 3), setzt sich bei den Kirchenvätern fort (Justin [… 165 n. Chr.], Dialog mit Tryphon 102; vgl. 127,2; Text Kirchenväter) und prägt mittelalterliche sowie neuzeitliche bildliche Darstellungen (Ebstorfer Weltkarte [13. Jh.]; John Martin: Fall of Babylon [1835]).

Man wollte schon in der Antike die sichtbaren Überbleibsel kennen, die der Turm hinterlassen haben soll (vgl. im babylonischen Talmud Traktat Sanhedrin 109a; Text Talmud). Im 19./20. Jh. versuchte ein historisches Interesse, die Stätte des Turmbaus exakt zu lokalisieren; geraume Zeit war die These akzeptiert, dass die Zikkurat (der Stufenturm) von Babylon namens „Etemenanki“ der biblische Turm gewesen sei (Soden 1971).

Doch schon die Übersetzung von מִגְדָּל migdāl mit „Turm“ (Gen 11,4) ist unsicher:

1) Das hebräische Wort, das sonst nie für ein sakrales Gebäude steht, bezeichnet oft eine Zitadelle (vgl. Ri 9,46f.49).

Turmbau 2

2) Die auffällige Wortverbindung in Gen 11,4 עִיר וּמִגְדָּל ‘îr ûmigdāl „Stadt und Zitadelle“ (vgl. Gen 11,5) kann eine ummauerte Stadt meinen, in der eine erhöhte, weithin sichtbare Zitadelle / Akropolis existiert. Das entspricht Bildern, wie sie aus dem alten Vorderasien und aus Altägypten vorliegen. In solch einer Zitadelle konnten Stadtpalast, Haupttempel und noch andere Gebäude liegen.

2. Struktur

Turmbau 3

Der kompositorische, facettenreiche Aufbau macht literarische Akzentuierungen der Erzählung deutlich:

Die Verteilung der Leitworte und lautlicher Anklänge im Hebräischen zeugen von einer sorgfältigen Komposition der Erzählung. Sie gliedert sich in zwei Teile, die sowohl parallel aufgebaut als auch konzentrisch aufeinander ausgerichtet sind. Im Zentrum steht die erste Erwähnung JHWHs in Gen 11,5.

1) In gleicher Folge werden Worte aus Gen 11,1-4 nacheinander in Gen 11,6-9 wiederholt (parallelisiert), wodurch JHWHs Inspektion der Bauprojekte (Gen 11,5) ins Zentrum rückt und die eintretende Wende betont wird (vgl. Kikawada [1974]: ABCDEF A'B'C'D'E'F' – „eine Rede“ Gen 11,1.6; „dort“ Gen 11,2.7; „einer … sein Nächster“ Gen 11,3.7; „Stadt … bauen“ Gen 11,4.8; „Name/ihr Name“ Gen 11,4.9; „[nicht] zerstreuen über das Angesicht der ganzen Welt“ Gen 11,4.9).

2) Zugleich sind Worte und Gleichklänge so platziert, dass sie den Satz „und JHWH stieg herab, um zu sehen“ (Gen 11,5) wie Ringe umlagern (konzentrischer Aufbau). Das hebt ähnlich JHWHs Aufbruch zur Inspektion hervor (vgl. Raddy [1972]: ABCDEFGH X H'G'F'E'D'C'B'A' – „Stadt und … Turm“ Gen 11,4.5; „bauen“ Gen 11,4.7; „wohlan ziegeln /… verwirren wir“ Gen 11,3.7; „einer … sein Nächster“ Gen 11,3.7; „dort/von dort“ Gen 11,2.8; „Erde/Welt“ Gen 11,2.8; „Rede“ Gen 11,1.9; „alle Welt“ Gen 11,1.9).

Die narrative Gestalt hingegen akzentuiert eine gerahmte Doppelstruktur. Nach Westermann (1974; vgl. Bost 1985) „handeln und reden“ zuerst die Menschen (Gen 11,2-4), dann Gott (Gen 11,5-8), und Gen 11,1 sowie Gen 11,9 bilden dazu einen Rahmen. Ebenso kann man von einem achterlastigen Rahmen in Gen 11,1 und Gen 11,8-9 ausgehen.

1) Auf Ortswechsel (Gen 11,2) und zwei Reden (Gen 11,3a.4) der Weltbevölkerung folgen Ortswechsel (Gen 11,5) und eine Rede JHWHs (Gen 11,6-7). Dabei wird Gott als Gegenüber zur Bevölkerung etabliert; in seiner Rede hallen ihre Reden („wohlan, wir“ Gen 11,3.4.7) und ihr Verhalten („einer … sein Nächster“ Gen 11,3.7) wider.

2) Im Rahmen korrespondieren der Anfangs- und der Endzustand, da es von der gemeinsamen Rede der Weltbevölkerung (Gen 11,1) zur Verwirrung ihrer Sprache (Gen 11,9a) kommt. Darin liegt die zentrale Wende.

3) Zugleich werden im Schlussteil Linien zusammengeführt und Themen abschließend koordiniert: Die Bauabsicht sowie -vorbereitung (Gen 11,3-4) und der Baufortschritt (Gen 11,5) enden mit dem Bauabbruch (Gen 11,8b), der die Reaktion auf bzw. Folge (Gen 11,8b) von Gottes Eingriff (Gen 11,8a) darstellt. Dieser Eingriff in Form der Zerstreuung eröffnet (Gen 11,8a) und beendet den Schluss (Gen 11,9b) und hebt so die göttliche Durchkreuzung der menschlichen Bestrebung hervor, nicht zerstreut zu werden (Gen 11,4b). Durch das eingeschlossene Motiv der Verwirrung der Rede (Gen 11,9a) werden Gottes realisierte Absicht („Rede“ Gen 11,7; vgl. „eine Rede“ Gen 11,6) und seine entsprechende Formung der menschlichen Kommunikation als Mittel zur Zerstreuung angezeigt. Damit verbunden kommt die doppelte Bedeutung von ארץ im Text als „Bevölkerung“ und als „(alle) Welt / Land(e)“ am Schluss zum Tragen: „Alle Weltbevölkerung“ (Gen 11,1) siedelte in einem „Land“ („in der Ebene … Schinar“ Gen 11,2), wollte nicht verteilt „die Fläche der ganzen Welt“ bewohnen (Gen 11,4b), bildete „ein Volk“ (Gen 11,6 hier עם); am Schluss handelt Gott an „der ganzen Weltbevölkerung“ (Gen 11,9a) und verteilt sie „über die Fläche der ganzen Welt“ (8a.9b). Wollten die Bauunternehmer sich zunächst einen eigenen Namen „schaffen“ und dadurch zusammenbleiben (Gen 11,4), steht dem letztlich der Beiklang eines Namens gegenüber, der ihre verwirrte Kommunikation festhält: Der Ortsname wird als „vermengte“ Rede (Gen 11,9a) verstanden.

Hinzu kommen in der Erzählung Alliterationen (hebr. Buchstaben B, L und N in Gen 11,3f.9), Paronomasien („Ziegeln wir Ziegel“ Gen 11,3a) und Wortspiele (im Hebr. klingt „Bitumen“ ähnlich wie „Mörtel“ Gen 11,3b). Das alles zwang die Forschung, der durchdachten Struktur der Erzählung detailliert nachzugehen. Doch die Forschungsergebnisse differieren. Kein Modell kann alle Phänomene integrieren. Z.B. übergehen die obigen Modelle des Parallelismus und der Konzentrik zentrale Wendungen oder glätten die Thesen zur narrativen Gestalt zwischen Zustands- und Handlungsaussagen (Gen 11,1.9). Die literarische Kunstfertigkeit der Erzählung entzieht sich dem alles erklärenden analytischen Zugriff durch Modelle, darf aber von der Auslegung nicht übergangen werden.

3. Bedeutungsaspekte

3.1. Sprache und Sprachvermengung

Akzente beim Thema Sprache wurden mittlerweile als bedeutender Gesichtspunkt für das Textverständnis erkannt (Berges 1994, 2002; Diße 2001).

Im Text geht es zunächst wohl nicht um eine Einzelsprache oder ein Sprachsystem (Gen 11,1.6 wörtlich „eine Lippe“, vgl. Gen 11,7ab.9), sondern um intentionale „Einstimmigkeit“ (Uehlinger 1990), etwa in dem Sinne, dass „einer zum anderen“ dasselbe redet (vgl. Gen 11,3), um „Wirklichkeitserschließung“, die „einheitlich(e)“ ausfällt (Seebass 1996; vgl. Kass 2000) oder um einen Sprachvollzug, bei dem man sich widerspruchslos versteht (vgl. Berges 1994, 2002). In diese Richtungen kann auch der zweite Ausdruck in Gen 11,1 gehen, falls er „einerlei (gleiche) Wörter“ bedeutet (Uehlinger; anders Seebass).

Mit solch „einer (gleichen) Rede“ korrelieren gemeinsames Wohnen und Handwerken, verbindendes Bauprojekt (Gen 11,2-4) sowie das göttliche Urteil, „ein Volk“ zu sein (Gen 11,6). Die Reden der Menschen bestehen fast nur aus Selbstaufforderungen (5mal; 2mal „wohlan!“). Gegenreden und explizite Dialoge tauchen in der Erzählung nicht auf, weder unter den Menschen noch zwischen JHWH und Menschen. Im Selbstgespräch JHWHs hallen stattdessen die menschlichen Selbstaufforderungen wider (Gen 11,7 2mal; 2mal „wohlan!“). Die Kommunikationen im Text bleiben alle eindimensional. Das ist angesichts des breiten Themas Sprache von Gewicht. Weder Anrede noch Gespräch eröffnen die Chance, eine eingeschlagene Richtung zu korrigieren. Stattdessen folgt auf die menschliche Aktion einfach die göttliche Reaktion.

Dabei „vermengt“ (statt Lutherbibel und Einheitsübersetzung „verwirrt“) JHWH „ihre Lippe“, was bedeuten kann, dass JHWH in die „eine gleiche Rede“ etwas hineinmischt (Jacob 1934). Das Resultat soll sein, „dass sie sich nicht verstehen, einer die Rede seines Nächsten“ (Gen 11,7). Verstehensdifferenzen zwischen Sprecher und Adressaten prägen fortan die Kommunikation und endlich bewohnt die „Weltbevölkerung“ die „Fläche der ganzen Welt“ (s.o.). Damit und zugleich durch den Kontext Gen 10 kommt der Aspekt der verschiedenen Einzelsprachen hinzu (Smith 1996; → Völkertafel).

Die Kriegsrolle von → Qumran lobt Jahrhunderte später die „Sprechvermengung“ (wörtl. „Vermengung der Zungen“; vgl. Gen 10,5.20.31 und Gen 11,7.9) und die „Teilung der Völker“ als Gottes Schöpfungstat (1QM 10,14).

3.2. Hybris, Schuld oder andere Gründe

Die traditionelle Auslegung ging bei den planenden und bauenden Menschen von einer Hybris und/oder von einer Schuld bzw. Sünde aus. Doch diese Auslegung wusste auch darum, dass „in der Erzählung das, worin nun eigentlich die Sünde der Menschen bestand, doch nicht mit der letzten Deutlichkeit ausgesprochen ist“ (von Rad 1948). Neuere Auslegungen sind bei der Kennzeichnung des Menschenwerkes als Schuld und Hybris behutsamer geworden oder rücken von solchen Thesen ab (Uehlinger 1990; Berges 1994, 2002; Diße 2001; vgl. Jacob 1934). Entscheidend für entsprechende Einschätzungen ist dabei, was einzelne Wendungen bedeuten können.

Zwei Richtungen wurden eingeschlagen: Wenn die Zitadelle mit „ihrer Spitze an den Himmel“ (Gen 11,4) reichen soll, könnten die Erbauer mit einem „unerhörten Plan … die himmlische Sphäre“ (Ruppert 1992) erreichen wollen. Doch kann die Wendung auch nur hyperbolisch das Eindruck machende Ausmaß des Baus meinen (vgl. Dtn 1,28; Dtn 9,1; von Rad 1948).

Mit dem Bau eng verbunden ist das Ziel: „Machen wir uns einen Namen“ (Gen 11,4). Derartiges Streben nach Ruhm könnte „das begrenzte Maß vergänglichen Lebens“, das Gott gesetzt hat, sprengen wollen (Zimmerli 1943). Aber zu beachten ist: „Der Erzähler deutet durch nichts an, dass die Absicht, sich einen Namen zu machen, als solche verwerflich sei“ (Westermann 1974; vgl. 2Sam 8,13).

Das Ziel der Bauprojektanten, Zerstreuung zu verhüten (Gen 11,4), erachtet ein Teil der Auslegungen als gegen Gottes Absicht gerichtet, dass Menschen die Erde füllen (Wenham 1987: Gen 1,28; Gen 9,1), oder als ein Stemmen gegen einen natürlichen Lauf der Dinge (vgl. Gen 9,19; Gen 10). Doch ebenso gut kann dieser letzte Satz der Menschen einfach ihre Furcht vor einer Teilung ausdrücken (Delitzsch 1872; Bost 1985), die sich dann auch als berechtigt herausstellt (vgl. Gen 11,8-9).

Die Worte Gottes in Gen 11,6 wurden so verstanden, dass sie von weiteren – schlimmeren – Werken der Menschen ausgehen (von Rad). Doch „dies ist ihr Beginnen zu tun. Und jetzt wird ihnen nicht unausführbar bleiben, alles, was sie planen zu tun“ (Gen 11,6) kann auch lediglich auf den Bau der Stadt und der Zitadelle und auf seinen Fortgang bezogen sein (Jacob; Cassuto 1964).

So kann ein Teil der Auslegungen in JHWHs Eingriff problemlos eine „Strafe“ erkennen (Procksch 3. Aufl. 1924; von Rad 1948; Westermann 1974; Ruppert 1992). Wo aber Auslegungen im menschlichen Projekt und Sinnen keine oder kaum moralisch negative Momente erblicken, stehen sie vor dem Problem zu erklären, worin das Motiv für JHWHs Eingriff liegt. Die Thesen reichen von anthropologischen über theologische bis hin zu politischen Erklärungen: JHWH wolle den Menschen vor den Gefahren und Folgen seiner großartigen Unternehmungen schützen (Seebass 1996). Gott setze sein Ziel durch, dass die Menschheit alle Welt bevölkere (Jacob). JHWH interveniere gegen eine „sich im Bau von 'Stadt und Turm' konkret manifestierende Form politischer Organisation“, gegen „Weltherrschaftsansprüche überhaupt“ (Uehlinger 1990); Gott richte sich gegen die „Konzentration aller kollektiven Kräfte auf den einen Ort“, es gehe um „Distanz zu den Großmächten“ (Berges 2002). Auch die neueren Exegesen kommen letztlich nicht daran vorbei, dass JHWH einen gewissen Missstand oder ein gewisses Defizit unter den Menschen korrigiert.

3.3. Schinar und Babylon

Mit der „Ebene im Land Schinar“ (Gen 11,2) wird eine Landschaft des Zweistromlandes evoziert. Die bautechnischen Ausdrücke in Gen 11,3 wollen für das Handwerk in Mesopotamien zutreffen (z.B. „Bitumen“ für die Backsteinbauweise). Die relativ offenen Ortsangaben „dort“ (Gen 11,2.7) sowie „von dort“ (Gen 11,8; vgl. 9b) werden erst fast am Schluss pointiert präzisiert, als über das Geschehen hinausgegangen und die Gegenwart einbezogen wird („deshalb nennt man“ Gen 11,9a). Der Name „Babel“ (bābæl) wird dabei vom ähnlich klingenden „vermengen“ (bālal) her erklärt. Das geht an der Namensdeutung vorbei, wie sie die Babylonier selbst vorgenommen haben: Sie wollten Bābili(um) als bāb ili / ilī „Tor Gottes bzw. der Götter“ verstehen (aus der Langform bāb ilāni entstand griech. Βαβυλών Babylōn). Einerseits gibt die → Ätiologie in Gen 11,9a dem Namen (vgl. Gen 11,4) der bekannten Großstadt einen despektierlichen Beiklang. Andererseits kann nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Text die babylonische Namensinterpretation voraussetzt: Babylon wurde das Einfallstor für JHWH, Menschen auf die „Fläche der ganzen Welt“ zu bringen (Berges 1994; Sals 2004).

4. Entstehung

4.1. Schichtung

Gunkel (1901.1910) ging von zwei Quellen aus, die der Erzählung zu Grunde liegen: ein „Stadtbericht“ mit dem Thema Sprachverwirrung (Gen 11,1.3a.4a*.5a*.6a*.7.8b.9a) und eine „Turmbaurezension“ mit dem Thema Zerstreuung (Gen 11,2.4a*.b.3b.5a*.b.6a*.8a.9b). Gunkels These wurde vielfach übernommen und modifiziert (Skinner 1910; Chaine 1948; Wallis 1966; Schreiner 1975; vgl. Rose 2004).

Weitere literarhistorische Erklärungen kamen hinzu: Man nahm eine Verflechtung der unterschiedlichen Themen auf der traditionsgeschichtlichen Ebene an, in einer Vorgeschichte der Erzählung also (Zimmerli 1943; von Rad 1948; Westermann 1974; Bost 1985; Seebass 1996). Andere wollten auf der schriftlichen Ebene einen bis drei redaktionelle Eingriffe erkennen (Weimar 1977; Neveu 1984; Uehlinger 1990; Ruppert 1992), wobei derartige Modelle recht unterschiedlich ausfallen: Beispielsweise meinte Seybold (1976), eine „ätiologische Babelgründungsaussage“ mit dem Thema Sprachverwirrung sei zuerst gerahmt, ergänzt und zu einer Urzeiterzählung gestaltet („Jahwist“ Gen 11,1.6*.9a*) und dann mit dem Thema Zerstreuung glossiert (Gen 11,4b.8a.9b) worden. Hingegen nahm Witte (1998) an, eine weitaus kürzere „Babelätiologie“ sei von einem Redaktor (der Urgeschichte Gen 11,1.2*.3.4b.5b[?].6-7.8ab[?]9a*.b) umfangreich ergänzt worden.

Budde (1925), Jacob (1934) und Cassuto (1964) gingen von der Einheitlichkeit der Erzählung aus. Der Text wird teilweise bewusst als Einheit gelesen (Harland 1998), oder von der Frage nach dem Wachstum wird einfach abgesehen (Auffret 1981; Croatto 1998; Wolde 2000).

Das uneinheitliche Bild in der Forschung rührt von der Beurteilung her, ob Spannungen (z.B. zwei Motive, den Turm zu bauen: einen Namen machen – nicht zerstreut werden Gen 11,4), Dopplungen (zweimal steigt JHWH herab Gen 11,5.7) usw. vorliegen, die nur von einer Entstehungsgeschichte her erklärt werden können (Diße 2003), oder ob sich derartige Phänomene anders verstehen lassen (Westermann 1974). Hinzu kommt die Vermutung, dass die kunstvolle Struktur literarhistorische Fragestellungen erübrigen würde (Fokkelman 1975).

4.2. Historische Einordnung

Die zeitliche Einordnung der Erzählung wurde von der Forschung lange anhand von übergeordneten Erklärungsmodellen vorgenommen, wie der → Pentateuch entstanden sei (→ Pentateuchforschung). Dabei schrieb man die Erzählung meist dem sogenannten → Jahwisten zu. Ende des 20. Jh.s nahmen dann Forscher präzise zeitliche Zuschreibungen vor:

Uehlinger (1990) bot für sein redaktionsgeschichtliches Modell die detaillierteste historische Zuschreibung: Der Verfasser einer Grundschicht habe den Machtzuwachs des → assyrischen Reiches unter den Königen → Tiglatpileser III. (745-727 v. Chr.) und → Sargon II. (721-705 v. Chr.) gesehen, um den plötzlichen Fall Sargons, um die damit verbundene Aufgabe der neuen Hauptstadt Dur-Šarrukin gewusst und daraus ein Paradigma für JHWHs Opposition gegen menschliche Weltherrschaftsansprüche entwickelt. Der erste Bearbeiter (Gen 11,1b.3*.9a) habe den Text auf die Großmacht Babylon bezogen und in der Exilszeit oder kurz danach kritisch auf die Baumaßnahmen → Nebukadnezzars II. (605-562 v. Chr.) in Babylon und die Weltherrschaftsansprüche dieses Königs geantwortet. Der Einbau in die vorpriesterliche → Urgeschichte (Gen 11,2) habe die politische Erzählung in eine mythologische Frühzeiterzählung umgewandelt. Ein weiterer Bearbeiter (Gen 11,4b.8a.9b) übernehme (wohl im 5. Jh. v. Chr.) von den persischen Königen die Weltreichsidee und bewerte die Sprach- und Völkervielfalt wie die → Völkertafel Gen 10positiv. Uehlinger kann dabei teilweise altorientalisches Material und entsprechende Traditionen als Verstehenshorizonte aufzeigen. Doch weist in Gen 11,1-9 nichts auf das Königtum hin (so Seebass 1996); assyrische und persische Hintergründe kann man bestenfalls indirekt erschließen

Witte versteht die Arbeit der umfangreichen Redaktion (s.o.) vom Versuch Alexanders d. Gr. (336-323 v. Chr.) her, mit 10.000 Soldaten Babylon und seine Zikkurat wieder zu errichten, als Hauptstadt des makedonischen Reiches auszubauen und damit seine „kulturelle Verschmelzungspolitik zu stützen“. Gen 11,1-9 richte sich gegen solche „Einheitskultur“. Doch scheint Gen 11,1-9 von der Neugründung einer Metropole auszugehen (so Uehlinger 2002). – Alle exakten zeitgeschichtlichen Thesen zur Erzählung haben weitgehend hypothetischen Charakter (Ruppert 1992; Seebass 1996).

Abgesehen von der Entstehungszeit ist das zeitgeschichtliche Ambiente zu beachten, welches mit den Namen „Schinar“ und „Babel“ etabliert werden soll. Beim Ambiente ist ein Durchschimmern der Exils- und/oder Nachexilssituationen möglich (vgl. Sals 2004). Dieses Ambiente muss nicht pragmatisch im und für den gemeinten „exilischen bzw. nachexilischen“ Zeitraum entstanden sein, es kann auch paradigmatisch für analoge Situationen gelesen werden. Das Exil eines Unterdrückers wie Babylon werde den „Exilierten“ bzw. territorial Entwurzelten prognostiziert (vgl. Croatto 1998); „Baustopp und Zerstreuung“ könnten befreiend auf solche wirken, die sich mit den aus Israel, Juda und den Nachbarvölkern Deportierten identifizieren können (vgl. Berges 2002); dabei klingt eine „Befreiung vom Joch eines verhassten Zwangsstaates“ mit an (Krauss / Küchler 2003).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001

2. Kommentare

  • Cassuto, U., 1964, Commentary on the Book of Genesis II. From Noah to Abraham, Genesis VI 9-XI 32, Jerusalem
  • Delitzsch, F., 1872, Neuer Commentar über die Genesis, Leipzig
  • Gunkel, H., 1901 (3. Aufl. 1910; Nachdruck 7. Aufl. 1966), Genesis (HK I/1), Göttingen
  • Jacob, B., 1934 (Nachdruck Stuttgart 2000), Das erste Buch der Tora Genesis übersetzt und erklärt, Berlin
  • Krauss, H. / Küchler, M., 2003, Erzählungen der Bibel. Das Buch Genesis in literarischer Perspektive. Die biblische Urgeschichte (Gen 1-11), Freiburg (Schweiz)
  • Procksch, O., 3. Aufl. 1924, Die Genesis übersetzt und erklärt (KAT 1), Gütersloh
  • Rad, G. v., 1948 (12. Aufl. 1987), Das erste Buch Mose. Genesis (ATD 2-4), Göttingen
  • Ruppert, L., 1992, Genesis. Ein kritischer Kommentar und theologischer Kommentar, 1. Teilband: Genesis 1,1-11,26 (fzb 70), Würzburg
  • Seebass, H., 1996, Genesis I. Urgeschichte (1,1-11,26), Neukirchen-Vluyn
  • Skinner, J., 1910 (2. Aufl. 1930), Critical and Exegetical Commentary on Genesis (ICC), Edinburgh
  • Wenham, G. J., 1987, Genesis 1-15 (WBC 1), Waco Texas
  • Westermann, C., 1974 (4. Aufl. 1999), Genesis. 1. Teilband: Genesis 1-11 (BK I/1), Neukirchen-Vluyn
  • Zimmerli, W., 1943 (4. Aufl. 1984), 1. Mose 1-11. Urgeschichte (ZBK.AT 1.1), Zürich

3. Weitere Literatur

  • Auffret, P., 1982, Essai sur la structure littéraire de Gn 11,1-9, in: ders., La sagesse a bâti sa maison. Études de structures littéraires dans l'Ancien Testament et spécialement dans les psaumes (OBO 49), Freiburg (Schweiz) / Göttingen, 69-90
  • Berges, U., 1994, Gen 11,1-9: Babel oder das Ende der Kommunikation, BN 74, 37-56
  • Berges, U., 2002, Die befreiende Gabe der Vielfalt. Eine exegetische Analyse der Erzählung vom Baustopp, KatBl 127, 248-253
  • Borst, A., 1957-1963, Der Turmbau zu Babel. Geschichte der Meinungen über den Ursprung und die Vielfalt der Sprachen der Völker. Bände I-IV, Stuttgart
  • Bost, H., 1985, Babel. Du texte au symbole (Le Monde de la Bible), Geneve
  • Budde, K., 1925, Einheitlichkeit und Erhaltung von Gen. 11,1-9, in: ders., Vom Alten Testament (FS K. Marti; BZAW 41), Berlin, 45-51
  • Chaine, J., 1945, La Tour de Babel (XI 1-9), in: Mélanges E. Podechard, Lyon, 63-69
  • Croatto, J. S., 1998, A reading of the story of the tower of Babel from the perspective of non-identity. Genesis 11:1-9 in the context of its production, in: Segovia, F. F., Tolbert, M. A. (Hgg.), Teaching the Bible. The discourses and politics of Biblical pedagogy, Maryknoll, NY, 203-223
  • Diße, A., 2001, Turmbau oder Sprachverwirrung? Von der Exegese zur Religionspädagogik, in: A. Michel / H.-J. Stipp (Hgg.), Gott, Mensch, Sprache (FS Walter Groß; ATS 68), St. Ottilien, 23-44
  • Fokkelmann, J. P., 2. Aufl. 1991, Narrative Art in Genesis. Specimens of stylistic and structural analysis, Sheffield
  • Harland, P. J., 1998, Vertical or horizontal. The sin of Babel, VT 48, 515-533
  • Kass, L. R., 2000, The humanist dream: Babel then and now, Gregorianum 81, 633-657
  • Kikawada, I. M., 1974, The Shape of Genesis 11:1-9, in: J. J. Jackson (Hg.), Rhetorical criticism (FS James Muilenburg), Pittsburgh, Pa., 18-32
  • Neveu, L., 1984, Avant Abraham. Genèse I-XI, Angers
  • Raddy, Y. T., 1972, Chiasm in Tora, LingBibl 19, 12-23
  • Rose, C., 2004, Nochmals: Der Turmbau zu Babel, VT 54, 223-238
  • Sals, U., 2004, Die Biographie der „Hure Babylon“. Studien zur Intertextualität der Babylon-Texte in der Bibel (FAT 26), Tübingen
  • Schreiner, J., 1975, Heillos verwirrt und verstreut (Gen 11,1-9), in: A. Rosenberg (Hg.), Der babylonische Turm. Aufbruch ins Maßlose, München, 16-34
  • Seybold, K., 1976, Der Turmbau zu Babel. Zur Entstehung von Genesis XI,1-9, VT 26, 453-479
  • Smith, D., 1996, What hope after Babel? Diversity and community in Gen 11:1-9; Exod 1:1-14; Zeph 3:1-13 and Acts 2:1-3, Horizons in biblical theology 18, 169-191
  • Soden, W. v., 1971, Etemenaki vor Asarhaddon nach einer Erzählung vom Turmbau zu Babel und dem Erra-Mythos, UF 3, 253-263
  • Swiggers, P., 1999, Babel and the confusion of tongues (Genesis 11:1-9), in: Lange, A., Lichtenberger, H., Römheld, D. (Hgg.), Mythos im Alten Testament und seiner Umwelt (FS Hans-Peter Müller, BZAW 278), Berlin, 182-195
  • Uehlinger, C., 1990, Weltreich und „eine Rede“. Eine Deutung der sogenannten Turmbauerzählung (OBO 101), Freiburg (Schweiz) / Göttingen
  • Uehlinger, C., 2003, „Bauen wir uns eine Stadt und einen Turm …!“, BiKi 58, 37-42
  • Wallis, G., 1966, Die Stadt in den Überlieferungen der Genesis, ZAW 78, 133-148
  • Weimar, P., 1977, Untersuchungen zur Redaktionsgeschichte des Pentateuch (BZAW 146), Berlin
  • Witte, M., 1998, Die biblische Urgeschichte. Redaktions- und theologiegeschichtliche Beobachtungen zu Genesis 1,1-11,26 (BZAW 290), Berlin
  • Wolde, E. v., 2000, The Earth Story as Presented by the Tower of Babel Narrative, in: N. C. Habel / S. Wurst (Hgg.), The Earth story in Genesis, Sheffield, 147-157

Abbildungsverzeichnis

  • Der Turmbau zu Babel (Französischer Meister im Stundenbuch des Herzogs von Bedford; 1423).
  • Stadt und Zitadelle auf einem neuassyrischen Palastrelief aus Nimrud. Aus: Uehlinger, 1990, 378 Abb. 02; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
  • Der Turmbau zu Babel (Peter Bruegel d. Ä.; 1563).

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