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Schreien

(erstellt: März 2010)

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1. Worte und Äquivalente

Ein Schrei ist eine laute Äußerung von Mensch oder Tier. Schreien unterscheidet sich vom sinnverwandten „Rufen“ durch Heftigkeit und Erregung, vom „Brüllen“ durch deutlichere Artikulation. Diese im Deutschen plausibilisierten Unterscheidungen treffen mit den hebräischen Lexemen nicht exakt überein. Folglich gibt es im Hebräischen unterschiedliche Verbalwurzeln, die im Deutschen als „Schreien“ wieder gegeben werden:

Der am häufigsten mit „schreien“ zu übersetzende Ausdruck ist זעק z‘q / צעק ṣ‘q. Er hat – inklusive der Derivate צעקה ṣə‘āqāh / זעקה zə‘āqāh – 168 Belege (davon ein aramäischer: Dan 6,21) und wird neben „schreien“ noch mit „rufen“ oder „lärmen“ verbunden. Alle weiteren Konnotationen von „Schreien“ werden in diesem Begriff aufgenommen.

Seltener und zugleich spezifischer ist der Begriff des Hilfeschreis שׁוע šw‘ bzw. שׁועה šaw‘āh. Er bezeichnet vor allem das Schreien zu Gott (vgl. Ps 5,3; Ps 18,7; Ps 22,25; Ps 28,2; Ps 30,3; Ps 31,23; Ps 34,16; Ps 39,13; Ps 40,2; Ps 72,12; Ps 88,14; Ps 102,2; Ps 145,19; Hi 24,12; Hi 30,20; Jes 38,13; Jes 58,9; Jer 8,19; Klgl 3,56; Jon 2,3). Nur an wenigen Stellen fehlt ein exakter Adressat des Schreis, nur dort kann der Schrei ambivalent auf Gott oder Menschen bezogen oder gar als Schrei ohne Gegenüber verstanden werden (vgl. Hi 29,12; Hi 30,24.28; Jes 22,5).

Weitere, zuweilen im Sinne von „schreien“ zu verstehende Verben sind, meist in Gebeten, קרא qr’ (2Sam 22,7; Ps 18,7; Ps 69,4; Jer 3,4; Jer 11,14; Ez 8,18; Jon 2,3) und רוע rw‘ mit einigen Belegen aus dem militärischen Bereich (Jos 6,5.10.16.20; 1Sam 17,20.52; 2Chr 13,15; Jes 15,4; Jes 42,13; Jer 50,15), Schreien des Erschreckens und Leidens (Ri 7,21; Hi 30,5; Mi 4,9), aber auch des Jubels (Ri 15,14; 1Sam 4,5; 1Sam 10,24; Ps 41,12; Jes 16,10; Zef 3,14; Sach 9,9; im Gegenüber zu JHWH: Ps 47,2; Ps 60,10; Ps 65,14; Ps 66,1; Ps 81,2; Ps 95,1.2; Ps 98,4.6; Ps 100,1; Ps 108,10; Hi 38,7; Esr 3,11.13; Jes 44,23).

Auf tierische Laute beziehen sich folgende Verben: שׁאג š’g / שׁאגה šə’āgāh beschreibt zumeist das Gebrüll von Löwen (Ri 14,5; Jes 5,29; Jer 2,15; Jer 51,38; Ez 22,25; Am 3,4; Am 3,8; Zef 3,3; Sach 11,3; Ps 22,14; Ps 104,21; Hi 4,10), aber auch – und dann wohl metaphorisch – das Brüllen JHWHs (Jer 25,30; Hos 11,10; Jo 4,16; Am 1,2; Hi 37,4) oder das der Feinde (Ps 74,4). Zugleich wird es als Ausdruck menschlichen Leidens verwendet (Ps 22,2; Ps 32,3; Ps 38,9; Hi 3,24). Ebenfalls vorrangig im Bereich des Tierlautes siedeln נחק nchq (Hi 6,5; Hi 30,7) und געה g‘h (1Sam 6,12; Hi 6,5).

Stärker emotional gefärbt sind צוח ṣwch / צוחה ṣəwāchāh als Jubel (Jes 42,11) oder Klage (Jes 24,11; Jer 14,2; Jer 46,12; Ps 144,14), רנן rnn / רנה rinnāh für den flehenden Gebetsschrei (Ps 17,1; Ps 61,2; Ps 88,3; Klgl 2,19), aber auch als Ausdruck für Jubel (Jes 44,23 u. öfter); sowie צהל ṣhl ebenfalls als Jubel (Jes 12,6; Jes 24,14; Jes 54,1; Jer 31,7; Jer 50,11; Est 8,15) oder Entsetzensschrei (Jes 10,30).

Sehr seltene Vokabeln sind צרח ṣrch für den Kriegsschrei JHWHs und das Schreien des Heldes (Jes 42,13; Zef 1,14) oder פעה p‘h (Jes 42,14), das einen Schrei wie den einer Gebärenden bezeichnet.

Griechische Äquivalente für „schreien / Schrei“ sind in der Septuaginta vor allem κράζω krazō und βοάω boaō mit den jeweiligen Derivaten und Stammverwandten (νακράζω nakrazō oder κραυγή kraugē; ναβοάω naboaō und καταβοάω kataboaō). Die Zusammenhänge, in denen vom Schreien die Rede ist, decken sich mit denen des hebräischen Textes. Dies gilt auch im Bereich der Apokryphen, wo vor allem das (betende) Schreien zu Gott eine wichtige Stellung hat (mit κράζω krazō Tob 6,2 [nicht in Lutherbibel]; Bar 3,1; Bar 4,20; 1Makk 9,46; νακράζω nakrazō 1Kön 22,32; Ez 21,17; κραυγή kraugē 2Makk 15,29; βοάω boaō Jdt 4,12 [Lutherbibel: Jdt 4,9]; Jdt 9,1; Bar 4,21.27; 1Makk 3,50.54; 1Makk 4,40; 1Makk 5,33; ναβοάω naboaō Jdt 4,9 [Lutherbibel: Jdt 4,7]; Jdt 5,12 [Lutherbibel: Jdt 5,9]; Jdt 7,19.23 [nicht in Lutherbibel]; ZusDan 1,42 und καταβοάω kataboaō Dtn 24,15; 2Makk 8,3). Aber auch vom Schrei im Bereich der Kriegsführung ist hier wie dort die Rede (1Makk 2,27; 3Makk 6,17). Ebenso vom Schrei zur rechtsprechenden bzw. regierenden Institution (1Makk 11,49 und 1Makk 13,45.50). Der im Masoretischen Text wichtige „Schrei nach Hilfe“ (שׁוע šw‘ bzw. שׁועה šaw‘āh) findet im Griechischen kein exaktes Äquivalent und wird daher relativ unspezifisch als „Schrei“ wiedergegeben (vgl. Ps 5,3; Ps 17,7 etc.). An anderer Stelle wird in der Übersetzung der Zweck des Schreis stärker gewichtet als das Schreien (vgl. Hi 27,9 übersetzt das Schreien, צעקה ṣə‘āqāh, mit der Bitte δέησις deēsis).

2. Adressaten

Die Zusammenhänge, in denen im Alten Testament vom „Schreien“ die Rede ist, sind eng miteinander verbunden und nur durch den (oft nicht explizit genannten) jeweiligen Adressaten zu unterscheiden. Gleichwohl lassen sich drei Bereiche beschreiben: Schreie als an Mitmenschen gerichtete, an Institutionen wie König oder Gericht und an Gott gewendete.

2.1. Schreie zu Menschen und Institutionen

Dass der Schrei als Äußerung einer Not und zwischenmenschliche Inpflichtnahme zur Hilfeleistung gilt, lässt sich der Rechtssetzung Dtn 22,23-27 entnehmen: Hier wird mit solcher Sicherheit vorausgesetzt, dass der Schrei einer bedrohten Frau in einer Stadt gehört und ihr geholfen wird, dass der Tatbestand der Vergewaltigung innerhalb der Stadtmauern nicht erhoben wird. Nicht ganz so selbstverständlich, aber gleichwohl geboten erscheint die helfende Reaktion auf den Schrei eines Geringen (Spr 21,13). Hinweise auf einen rechtlich verbindlichen Notschrei, der dem altdeutschen „Zeter-Geschrei“ entspräche (Hab 1,2; Jer 20,8; Hi 19,7), lassen sich nach gegenwärtiger Forschungslage nicht stimmig verdichten. Die Wortverbindungen scheinen eher idiomatischer Natur zu sein, die Wiederholungen v.a. Hinweis auf intertextuelle Verbindungen.

Hilfeschreie richten sich an höhergestellte, mächtige Personen oder Mittler. So an Mose (Num 11,2), an Elisa (2Kön 6,5) oder an den König. Der Schrei zum König reicht oft in den Bereich der Rechtsprechung (2Sam 14,4; 2Kön 6,26; 2Kön 8,3.5). Ohne explizit benannte Adressaten richten sich Hilferufe an Nächste, Machthaber oder Gott (Jes 5,7; Jer 20,8; Hi 19,7; mit identischer Formulierung, aber noch deutlicher als Teil eines Gebetsschreis Hab 1,2). Schreie beklagen (drohende) Zerstörung (Jes 14,31; Jer 25,34). Dass nicht allein Menschen schreien, denen (vermeintlich) Unrecht widerfährt, wird in Hi 31,38-40 deutlich, wo ein falsch verwalteter Ackerboden schreit, bzw. in Gen 9,5 (vgl. 2Sam 4,11; Ps 9,13; Hos 1,4), wo das Blut der Erschlagenen diese als Ankläger vertritt.

2.2. Schreie zu JHWH

Der Schrei des Blutes dringt ebenso zu JHWH wie die Schreie der in Ägypten Leidenden (Ex 2,23f; Ex 3,7.9; Dtn 26,7) oder der im Richterbuch unter der Strafe der Fremdbedrohung schreienden Israeliten (Ri 3,9.15; Ri 4,3; Ri 6,6.7; Ri 10,10.12.14). Diese Erhörung des Schreiens ist Teil der kollektiven Erinnerung (Dtn 26,7 u.ö.) und Basis des flehenden Betens zu Gott. Besonders häufig wird auch der einzelne Beter als klagend Schreiender gezeichnet (Ps 22,6; Ps 88,2; Ps 142,2.6). Alle Schreie sollen JHWH zum Aufmerken und Eingreifen bewegen. Voraussetzung der Erhörung ist dabei, die Adressierung des richtigen Gottes (Ri 10,14; Jes 57,13) und die innere Ernsthaftigkeit der Schreienden (Hos 7,14). Dass das Schreien zu Gott eine der häufigsten Formen der Hinwendung des Menschen zu JHWH ist, hat auch für die Theologie des → Gebets im Alten Testament Bedeutung. Die schreiende Bedürftigkeit des Menschen ist so in allen Texten des Alten Testaments eine Grundkonstante humaner Gottesbeziehung, die erst in der Neuschöpfung aufgehoben wird (Jes 65,19).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Reallexikon der Assyriologie und vorderasiatischen Archäologie, Berlin 1928ff
  • Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 1933-1979
  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
  • Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 5. Aufl., München / Zürich 1994-1995
  • Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001

2. Weitere Literatur

  • Boecker, H.J., Redeformen des Rechtslebens im Alten Testament (WMANT 14), 2. Aufl.1970
  • Janowski, B., Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, 2. erw. Aufl., Neukirchen-Vluyn 2006
  • Reventlow, H. Graf, Gebet im Alten Testament, Stuttgart u.a. 1986
  • Tamez, E., Ijob: „Schrei ich: Gewalt!, wird mir keine Antwort“, Conc(D) 33,5 (1997), 632-639
  • Uehlinger, C., Der Schrei der Erde? Biblische Perspektiven zum Thema „Ökologie und Gewalt“, Conc(D) 31,5 (1995), 405-415
  • Zenger, E., Psalmen. Auslegungen 2. Ich will die Morgenröte wecken, Neuausgabe, Freiburg 2003

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