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(erstellt: Oktober 2010)

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1. Belege und Bedeutung

Die Wurzel ישׁן jšn mit der Grundbedeutung „still sein / schlafen“ begegnet uns in der Hebräischen Bibel 16-mal verbal und 9-mal verbaladjektivisch (jāšen). Diese Grundbedeutung wird weiter entwickelt zu „alt sein“ im Sinne von „zur Ruhe gekommen / träge sein“ (Dtn 4,25) sowie „alt sein“ im Gegensatz zu chdš „neu sein“ (Lev 26,10; Hhld 7,14; gesamt 11 biblische Belege; in Qumran überhaupt nur in 1QS 7,10).

Synonyme zu jšn sind: שׁכב škb „sich niederlegen“, עלף ‘lp, רדם rdm „ohnmächtig / betäubt sein“ und נום nwm „schlummern / schläfrig sein“.

Das Substantiv שֵׁנָה šenāh „Schlaf“ findet sich insgesamt 23-mal (Variante: šenā’ Ps 127,2). Von der Wurzel nwm stammt das Nomen תְּנוּמָה tǝnūmāh „Schlummer“ (Ps 132,4; Hi 33,15; Spr 6,4.10; Spr 24,33), das mehrfach parallel zu šenāh „Schlaf“ gebraucht wird. Die → Septuaginta gibt šenāh meist mit hypnos wieder, dabei kann bereits das Träumen angesprochen sein (→ Traum).

2. Menschlicher Schlaf in antiker Perspektive

Antike Menschen wussten aus Erfahrung und Beobachtung, dass der Schlaf als Grundphänomen allen Lebens der körperlichen und geistigen Regenerierung dient. Nach altägyptischer Auffassung erneuerte der Schlaf (ägyptisch qd) wie eine persönliche Kraft Nacht für Nacht die Lebenden. Wer schläft, taucht in den nun, die Urmasse der geschaffenen Welt, und damit in den jenseitigen Bereich der Götter ein. Der Schlaf ist wie ein Niemandsland zwischen Leben und Tod (Schlichting, 642-644; Zibelius-Chen, 280.282f). Er verbindet die Welt der Götter mit dem Diesseits der Menschen wie eine Brücke. Genau deshalb wird er auch als Medium der Träume verstanden (Hi 33,15), denn ein Traum wird in der Antike immer als von „außen“ an den Menschen herangetragen gedacht (Zgoll, 236-258).

Unter dem theologischem Vorbehalt der Ablehnung der nichtisraelitischen bzw. nichtjüdischen Götter – bis hin zur monotheistischen Bestreitung ihrer Existenz (→ Monotheismus) – können diese antiken Vorstellungen auch für die verschiedenen biblischen Sichtweisen auf den Schlaf als grundlegend gelten. Im Schlaf begibt sich der Mensch unter den göttlichen Schutz. Guter Schlaf ist daher Zeichen eines guten Lebens, das Gott gefällt (Spr 3,24; Pred 5,11). Schlaflosigkeit kann umgekehrt mit gottlosem Lebenswandel (Spr 4,16; Pred 5,11), aber auch mit schweren Sorgen (Ps 3,6; Ps 4,9) zusammenhängen.

3. Schläft Gott?

Ob Gott selbst schläft, wird unterschiedlich beurteilt. Wenn in den Psalmen JHWH aufgefordert wird, zu erwachen und helfend einzugreifen (Ps 35,23; Ps 44,24; Ps 59,5), mag dies ein anthropomorphes Gottesbild voraussetzen, das einen schlafenden Gott kennt. Primär verstehen aber diese Texte den Schlaf Gottes metaphorisch als Tatenlosigkeit (s.u.), die seine Fürsorge ausbleiben lässt und durch das menschliche Gebet beendet werden soll. Andere Texte betonen, dass JHWH gerade nicht schläft, sondern auch nachts über sein Volk bzw. den Einzelnen wacht (Ps 121,4). Sein Wachen im Sinne von aktiver Wirksamkeit und das Schlafen des konkurrierenden, aber unwirksamen Baal werden in 1Kön 18,27 polemisch gegenübergestellt. Damit sind keine ontologischen Aussagen über eine göttliche Fähigkeit oder ein göttliches Bedürfnis nach Schlaf gemacht, vielmehr ist Gott als Wächter vorgestellt, der den Schlaf der Seinen behütet. Konkretere Vorstellungen mögen dennoch im Hintergrund gestanden haben, werden aber in biblischen Büchern nicht weiter verbalisiert.

Nach → Philo von Byblos (zitiert bei → Euseb, Praeparatio evangelica I, 10, 36f) besitzt Kronos / El ingesamt vier Augen, zwei offen und zwei geschlossen, womit der Titan bzw. Gott „schlafend sieht und wachend schläft“ (Lang, ebd.). Neben Gott als Wächter werden in der jüdischen Literatur der hellenistischen Zeit auch Engelwesen vorgestellt, die Wächterfunktionen ausüben. Die „Nichtschlafenden“ bewachen den Thron Gottes (äthHen 39,12f; äthHen 71,7; → Henoch). In den Evangelien wird der Schlaf Jesu während des Sturmes im Boot (Mk 4,38; Lk 8,23) als Zeichen göttlicher Überlegenheit über chaotische Mächte gewertet (Lang, 481).

4. „Schlaf“ als Metapher

1. Untätigkeit. Als Müßiggang wird der menschliche Schlaf negativ bewertet (Jes 56,10; Nah 3,18; Spr 6,4). An einigen Stellen wird er metaphorisch als Taten- oder Energielosigkeit verstanden (Jes 29,10; Spr 6,10; Spr 10,5; Spr 19,15; 1Thess 5,6). Das Gegenteil von Schlaf, Wachsamkeit, gilt vor allem im Neuen Testament als Idealvorstellung für christliches Leben (Mk 13,33ff; Mk 14,41; Lk 22,46; Apg 20,31; Röm 13,11; Kol 4,2; 1Petr 5,8; Apk 16,15).

2. Geschlechtsverkehr. In Gen 19,32f findet sich eine euphemistische Bedeutung im Sinne von Geschlechtsverkehr. Eine derartige Bedeutung könnte auch in Ps 127,2 intendiert sein, wenn ausgesagt wird, dass JHWH „seinen Geliebten im Schlaf gibt“, da im folgenden Vers Ps 127,3 Kinder als Geschenk bezeichnet werden (vgl. Lang, 482).

3. Tod. Wie heute noch wurde „Schlaf“ als Metapher des Todes verstanden (Jer 51,57: wəjāšnû šənat-‘ôlām „sie schlafen einen ewigen Schlaf“; Ps 13,4: pæn-’îšan hammāwæt „damit ich nicht den Tod schlafe“; vgl. Gen 47,30; Hi 3,13; Dan 12,2; Joh 11,11; Apg 7,60; 1Kor 7,39; 1Thess 4,13ff). In Mk 5,39 parr. werden Schlaf und Tod dagegen deutlich unterschieden.

5. Schlaf als Rahmen göttlicher Offenbarung

1. Fenster zum Jenseits. Die in der modernen Schlafforschung eruierten „Phasen“ oder Zustände des schlafenden Menschen wurden bereits in der Antike als verschiedene Bewusstseinszustände erahnt und beobachtet. Lebensnotwendig und beunruhigend zugleich hat der Schlaf mit seinem unvermeidlichen Phänomen des Träumens alle menschlichen Kulturen geprägt (→ Traum). Im Schlaf öffnen sich Fenster zur Welt der Ahnen und Götter (→ Totenkult). Die „Seele“ verlässt temporär den Körper und begibt sich träumend auf eine „Himmelsreise“. Schlaf, Tod und Traum werden so eng verknüpft.

Der Traum aber gehört weder zum Schlaf noch zur Wachwelt (ägyptisch rsw.t „Traum“ wird von rs „erwachen“ gebildet, Zibelius-Chen, 280.282f; qd „Schlaf“ kann für Traum stehen; Szpakowska, 16f.162.165; akk. šuttu „Traum“ jedoch von šittu „schlafen“). Die moderne Schlafforschung hat diese Sicht überwiegend bestätigt, indem sie die REM-Phase (REM = Rapid Eye Movement) als eigenen Zustand beschreibt.

2. Physischer Rahmen nächtlicher Offenbarungen. Der Schlaf wird oft als physischer (sowie die → Nacht als temporärer) Rahmen einer göttlichen Offenbarung beschrieben. Offenbarungsträume werden damit von gewöhnlichen Träumen abgehoben. Gleichzeitig werden Offenbarungen im Traum von göttlichen Reden im Wachzustand des Menschen erzählerisch unterschieden. Letztere stellen bereits erzählerische Darstellungen von gedeuteten Offenbarungen dar (→ Traum; vgl. Lanckau, 52ff; Zgoll, 244ff). Der common sense Israels über nächtlichen Offenbarungen wird – jenseits aller situativ bedingten Kritik – in Hi 33,14-18 auf den Punkt gebracht:

„… denn: in einem redet Gott (El), im zweiten – man bemerkt es nicht. Im Traum, der Offenbarung der Nacht, wenn Erstarrung auf die Menschen fällt, im tiefen Schlafen auf dem Lager, dann öffnet er das Ohr der Menschen und bestätigt die Warnung für sie, um den Menschen von seinem Tun abzuwenden und den Hochmut vom Mann fern zu halten, um seine Seele zurück zu halten von der Todesgrube und sein Leben davon, in den Spieß zu rennen.“

3. Ritueller Schritt bei Inkubation. Eine besondere Form des Schlafes begegnet uns in den antiken Berichten über Therapien und Orakel an bestimmten Heiligtümern als ein Schritt unter mehreren anderen eines genau definierten Rituals (→ Inkubation).

6. Der narkotische Schlaf

1. Erstarrung im Schlaf. Der von der Wurzel rdm abgeleitete Begriff tardemāh ist als terminus technicus für einen von JHWH direkt bewirkten Schlaf reserviert – meist behelfsweise als „Tiefschlaf“ übersetzt. Wenn tardemāh auf einen Menschen „fällt“ (npl + ‘l), ist jede Aktivität ausgeschaltet, damit JHWHs schöpferisches Wort wirken kann, so bei der „Narkose“ bei der Entnahme einer Rippe Adams (Gen 2,21; vgl. Gen 15,12). Obwohl als Mittel göttlichen Schutzes verstanden (1Sam 26,12), enthält diese Erstarrung ein erschreckendes Moment (Gen 15,12; Hi 4,13). Ein solcher Tiefschlaf ist bereits in sumerischen und akkadischen Berichten überliefert.

Sum. ù-sá(g), akk. qūlu / kūru und eben auch hebr. tardemāh verweisen auf „einen kulturellen Erfahrungshorizont, in welchem Wahrnehmungen und Erlebnisse auf ähnliche Weise verarbeitet und gedeutet werden. Einer solchen semantischen Fügung zugrunde liegende Erfahrungen sind z.T. auch für den heutigen Menschen empirisch nachvollziehbar. Wo ein Mensch sehr tief und fest träumt, laufen die Körperfunktionen nur noch auf minimaler Basis. Von außen betrachtet wirkt der Träumende maskenhaft erstarrt und leblos. Wird der Mensch allerdings aus einer solchen Erstarrung geweckt, erinnert er sich für gewöhnlich mit frappierender Intensität an das soeben im Traum Erlebte … Diese Eigenschaften können für antikes Erleben als typisch für eine Gottesbegegnung gewertet worden sein …“ (Zgoll, 62).

2. Unterwerfungsgeste. Dan 8,18 und Dan 10,9 beschreiben innerhalb einer Vision mit rdm (Nif.) die Geste der Proskynese vor einem Gottesboten (Gabriel bzw. einem Mann in Linnen) passivisch als plötzliche Ohnmacht, ähnlich der Unterwerfungsgeste des zurückkehrenden Sinuhe vor dem göttlich erscheinenden Pharao (Sinuhe §34,5-13 vgl. Blumenthal, TUAT III, 907; Texte aus Ägypten).

3. Menschliche Passivität. Mit rdm (Nif.) lässt sich der Zustand der menschlichen Passivität verbal im Sinne von „in tiefen Schlaf fallen / tief schlafen“ umschreiben, ohne direkt die göttliche Urheberschaft anzusprechen (Ri 4,21; Jon 1,5, anders aber Ps 76,7). Zweimal wird die menschliche Passivität in ganz profanem Sinn ausgesagt, jeweils moralisch als negativ bewertet (tardemāh Spr 19,15; rdm verbal Spr 10,5).

4. Terminus technicus für Offenbarung? In Hi 4,13 steht tardemāh parallel zum terminus technicus chazōn „Offenbarung“ (→ Traum). Umgekehrt wird tardemāh für das Ausbleiben göttlicher Offenbarung gebraucht (Jes 29,10). Die Belege genügen nicht, um zu entscheiden, ob es sich um einen feststehenden Begriff handelte. Dies ist aber im Hinblick auf die altorientalischen Belege denkbar.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Paulys Real-Encyclopädie der classischen Alterthumswissenschaft, Stuttgart 1894-1972
  • Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 1933-1979
  • Reallexikon für Antike und Christentum, Stuttgart 1950ff.
  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
  • Lexikon der Ägyptologie, Wiesbaden 1975-1992
  • Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
  • Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 3. Aufl., München / Zürich 1978-1979
  • Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
  • Der Neue Pauly, Stuttgart / Weimar 1996-2003
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007

2. Weitere Literatur

  • Blumenthal, E., Die Erzählung des Sinuhe, in: O. Kaiser (Hg.), 2001, TUAT III, Gütersloh, 884-911
  • Lanckau, J., 2006, Der Herr der Träume. Eine Studie zur Funktion des Traumes in der Josefsgeschichte der Hebräischen Bibel (AThANT 85), Zürich
  • Mitler, E.A. / Mitler, M.M., 1996, Der Traum vom guten Schlaf, München
  • Schlichting, R., 1984, Art. Schlaf, in: Lexikon der Ägyptologie, Bd. V, Wiesbaden, 642-644
  • Schüpphaus, J., 1982, Art. jāšen, in: ThWAT, Bd. III, Stuttgart u.a., 1032-1035
  • Zibelius-Chen, K. ,1988, Kategorien und Rolle des Traumes in Ägypten, SAÄK 15, 277-293
  • Szpakowska, K., 2003, Behind Closed Eyes. Dreams and Nightmares in Ancient Egypt, Swansea
  • Zgoll, A., 2006, Traum und Welterleben im antiken Mesopotamien. Traumtheorie und Traumpraxis im 3.-1. Jt. v. Chr. als Horizont einer Kulturgeschichte des Träumens (AOAT 333), Münster

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