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Schlacht von Kadesch

Andere Schreibweise: Schlacht von Qadesch / Kadesh / Qadesh

(erstellt: Oktober 2007)

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1. Einleitung

Schlacht Kadesch 01

Die Schlacht von Kadesch wurde im 5. Jahr → Ramses II. (1274 v. Chr.) zwischen Ägyptern und → Hethitern bei der Ortschaft Kadesch in Syrien ausgetragen (ca. 25 km südwestlich des heutigen Homs; Koordinaten: N 34° 33' 25'', E 36° 31' 05''). Sie ist die älteste Schlacht der Weltgeschichte, die uns detailliert überliefert ist. Von den Ägyptern auf zahlreichen Tempeln als großer militärischer Sieg herausgestellt, handelt es sich realiter bestenfalls um ein Remis.

1.1. Der historische Hintergrund – die politische Entwicklung in Vorderasien

Schlacht Kadesch 02

Nach dem Zusammenbruch des Hyksos-Reiches dehnen die Ägypter zu Beginn des → Neuen Reiches (1550-1069) ihren Herrschaftsbereich kurzfristig bis an den Euphrat aus. Der folgende, rund 70 Jahre dauernde Kriegszustand mit der anderen Großmacht dieser Region, den → Mitanni, wird schließlich abgelöst durch das goldene Zeitalter einer „Pax Aegyptiaca“, während derer ein großes Gebiet in Vorderasien unter ägyptischer Kontrolle verbleibt. Organisatorisch ist dieser Raum in 3 Provinzen mit ägyptischen Rabizu-Oberkommissaren unterteilt: von Norden nach Süden gesehen liegen die Provinz Amurru (Hauptstadt: Simyra), die Provinz Upe (Hauptstadt: Kumidi) und die Provinz Kanaan (Hauptstadt: Gaza).

Die politischen Kräfte geraten erst durch den hethitischen Großkönig Schuppiluliuma (1355-1330) wieder aus dem Gleichgewicht. Im Verlaufe zweier größerer militärischer Aktionen – dem 1. und 2. syrischen Krieg – wird das Reich von Mitanni vernichtend geschlagen. Diese Aktionen bewirken im Grenzgebiet zu Ägypten erhebliche Unruhe unter den ägyptischen wie vormals mitannischen Vasallen.

Zum einen nutzen die Herrscher von Amurru, Abdi-Aschirta und sein Sohn Aziru, die Auswirkungen des 1. syrischen Krieges, um ihr Herrschaftsgebiet zwischen → Orontes und dem Mittelmeer auszubauen. Sie bedrängen Simyra, den Sitz des ägyptischen Gouverneurs von Amurru, und auch andere Vasallen, darunter Rib-Addi von Byblos. Nach längerem Hin und Her wechselt Abdi-Aschirtas Sohn Aziru die Seite und läuft zu den Hethitern über.

Zum anderen wird Kadesch zum Brennpunkt: bereits im Verlaufe des 1. syrischen Krieges dringen die Hethiter weit nach Süden in den Raum von Upe, auf die Höhe von Damaskus vor. Doch obschon nicht selber Ziel dieser hethitischen Attacke, stellen sich Schutatarra von Kadesch und sein Sohn Aitakama dem Schuppiluliuma in offenbar grenzenloser Selbstüberschätzung entgegen. Beide geraten in hethitische Gefangenschaft, und Schutatarras Sohn Aitakama wird, entsprechend damaligen Gepflogenheiten, „herumgedreht“ und als nunmehr hethitischer Vasall wieder in Kadesch eingesetzt.

Bislang sind direkte kriegerische Verwicklungen zwischen Ägyptern und Hethitern vermieden worden, doch eine eigenartige Verquickung der Ereignisse führt letztendlich doch zum Krieg: Aus hethitischen Quellen ergibt sich, dass Schuppiluliuma während der Belagerung von → Karkemisch seine Truppen zu einem Angriff auf die Region von Amka aussendet, die damals ägyptisches Territorium war, und zwar als Vergeltung für einen Angriff der Ägypter auf Kadesch. Vor dem Hintergrund erstmaliger Kämpfe zwischen Ägyptern und Hethitern schickt die „Dahamunzu“, die berühmte ägyptische Königswitwe aus dem Umfeld des (zu dieser Zeit bereits verstorbenen) Königs → Echnaton, einen Brief an Schuppiluliuma. Die darin geäußerte Bitte, einen Sohn des Schuppiluliuma heiraten und mit ihm Ägypten regieren zu wollen, lässt vermuten, dass sie auf diese Weise nicht nur einen Königsgemahl erhalten, sondern auch weitere Kriegshandlungen verhindern wollte.

Trotz erheblicher Vorbehalte schickt Schuppiluliuma schließlich seinen Sohn Zannanza nach Ägypten, doch als dieser nach seiner Ankunft in Ägypten ums Leben kommt und in anschließenden schriftlichen Auseinandersetzungen die ägyptische Seite nicht die Verantwortung für dessen Tod übernehmen will, bricht ein Krieg gegen Ägypten aus, den ein erbitterter Vater aus Rache für seinen von Ägyptern ermordeten Sohn führt. Dabei haben die Ägypter in der ausgehenden 18. Dynastie zunächst großes Glück, da gefangene Ägypter eine Seuche ins Hethiterreich einschleppen, die dort 20 Jahre lang wütet, und an der auch Schuppiluliuma stirbt, so dass sich die hethitischen Konterschläge verzögern.

Das Erbe eines aus einer „Blutfehde“ entsprungenen ägyptisch-hethitischen Krieges müssen sodann, wohl oder übel, die ersten Könige der folgenden, 19. ägyptischen Dynastie (ab 1292) antreten, als deren bedeutendster Vertreter Ramses II. (1279-1213) herausragt.

1.2. Die idealweltliche Sichtweise der Ägypter

Im Gegensatz zum pragmatischen Verhältnis Ägyptens zu den Staaten seines Umfeldes, welches – nach Maßgabe außenpolitischer Verträge oder auch den Amarnabriefen – klärlich zwischen Freund und Feind zu unterscheiden weiß, steht die Ansicht der Ägypter, alle Fremden seien ausnahmslos Feinde und Angehörige von Chaosmächten, die vom ägyptischen König in die Schranken gewiesen werden müssen. Diese idealweltliche Sicht der Ägypter basiert auf der Rolle des Königs, dessen vordringlichste Pflicht die Erhaltung der göttlichen Ordnung ist. Bedroht ist diese von außen, durch die jenseits der Grenzen ansässigen Feinde. Die Feinde gelten aber bereits als besiegt, wenn sie die Grenzen Ägyptens respektieren. Die heraldische Formel des Sieges über das Chaos ist die Darstellung des Erschlagens der Feinde, die sich als ikonographischer Leitfaden durch die gesamte altägyptische Geschichte zieht. In dieser Tradition stehen im Neuen Reich die häufig großflächigen Kompositionen im Flachrelief, die ganze Tempelwände oder auch Tempelpylone überziehen können.

Zudem können auch mehr oder weniger umfängliche Inschriften auf Tempelwänden oder eigenen Stelen angebracht sein. Sofern diese Texte die historischen Gegebenheiten bestimmter Kriegszüge wiedergeben, sprechen wir zwar regelmäßig von „historischen“ Inschriften – doch sind sie in erster Linie als ein Testimonium der Götterwelt gegenüber zu verstehen, als theologische Dokumente, die belegen sollen, dass der König seiner Obliegenheit, das Chaos zu überwinden, erfolgreich nachgekommen ist. Wenn konkrete historisch-geographische Angaben in diesen Texten zu finden sind, dann nur insoweit, als sie diesem Beweis förderlich sind. Es geht den Darstellungen und Inschriften also nicht um eine historisch objektive Wiedergabe von „Geschichte“, sondern um die Erfüllung eines göttlichen Auftrages: der König muss, mit Hilfe der Götter, siegreich sein. Diesen Umstand gilt es zu berücksichtigen, wenn eine Untersuchung der ägyptischen Quellen zu dem Ergebnis führt, dass die Schlacht von Kadesch nicht so, wie dargestellt, abgelaufen sein kann.

2. Die ägyptische Überlieferung

2.1. Ikonographische Quellen

Die ikonographischen Bezeugungen der Schlacht von Kadesch sind ausschließlich in Oberägypten und Nubien belegt, nämlich an den Außenwänden des Tempels Ramses’ II. in → Abydos und des Karnak-Tempels sowie im Inneren des großen Tempels von Abu Simbel sowie jeweils zweimal im Tempel von Luxor und im Ramesseum, dem Totentempel Ramses’ II. auf dem Westufer Thebens. Sie alle dürften in den ersten Jahren nach der Schlacht, d.h. in der zweiten Hälfte der ersten Regierungsdekade des Königs, entstanden sein.

In den Bildkompositionen stehen zwei Motive im Vordergrund:

Schlacht Kadesch 04

Zunächst ein Kriegsrat, welchen der König im Lager der ägyptischen Armee vor der Schlacht abhält und sodann die anschließende Feldschlacht, die den König im Streitwagen beim Angriff auf die Festung Kadesch zeigt.

In beiden Bildthemen steht der König, durch übergroße Proportionen herausgestellt, im Mittelpunkt, und sein Agieren wird von weiteren Detailszenen umrankt. Die Bildkompositionen stechen heraus durch ihre geradezu landkartenhafte Detailtreue, die eine ganz bestimmte Örtlichkeit mit vielerlei Einzelheiten abbildet, sowie die Meisterschaft, den dramatischen Augenblick eines historischen Ereignisses, des Sieges über den Gegner, im Bild einzufangen.

2.2. Epigraphische Quellen

Zur Rekonstruktion der Schlacht von Kadesch unabdingbar sind jedoch die ausführlichen inschriftlichen Quellen, die sich in mehrere Gruppen teilen lassen: Der längste zusammenhängende Text wird traditionell in der Literatur als „Gedicht“ bezeichnet – im Unterschied zu einem weit kürzeren Text, dem „Bericht“, der z.T. die gleichen Begebenheiten wie das Gedicht, z.T. aber auch andere Episoden aus dem Ablauf der Schlacht behandelt. Das Gedicht ist zwar nicht ausschließlich poetisch gehalten, aber es enthält neben reiner Erzählprosa auch ausgedehnte poetische Passagen, wie etwa das Gebet des Königs an den Gott Amun, während der Bericht, ohne poetische Passagen, relativ nüchtern und sachlich Informationen liefert, die im Gedicht aus konzeptionellen Gründen keinen Platz gefunden hätten. Eine weitere Gruppe von Inschriften sind die meist kürzeren Bildüber- oder -unterschriften, die mitunter nur die Namen und Titel der im Relief dargestellten Personen nennen.

3. Die Etappen des Kriegszuges nach den ägyptischen Quellen

3.1. Der Vormarsch nach Kadesch

Der Beginn des Auszuges nach Kadesch, der 2. Sommermonat des 5. Regierungsjahres, datiert gregorianisch in den frühen April des Jahres 1274 v. Chr. Die Ägypter bieten eine Streitmacht von 4 Divisionen auf, was einer Gesamtstärke von 16.000 Mann Fußvolk und 4.000 Mann auf 2.000 Streitwagen entsprechen dürfte. Ein konkreter Anlass für den Vormarsch wird nicht genannt, doch aus dem Bericht erfahren wir, dass es sich bereits um den 2. Feldzug Ramses’ II. nach Vorderasien handelt. Als Resultat des 1. Feldzuges im Jahr zuvor ist Benteschina, der Fürst der Provinz Amurru und bis dato hethitischer Vasall, zu den Ägyptern übergelaufen (KUB XXIII, 1). Auf den Schwund ihres Einflusses reagieren die Hethiter nunmehr unter ihrem König Muwatalli mit der Vorbereitung eines Gegenschlages, für den sie ein Bündnis aus 18 Hilfsvölkern des kleinasiatischen und nordsyrischen Raumes aufbieten.

Die Route des Vormarsches führt die Ägypter von der Ramsesstadt im östlichen Delta entlang der Küste über Gaza zunächst zur „Ramsesstadt im Tannental“, gleichzusetzen mit Kumidi, der in der Beqa’a gelegenen Hauptstadt der ägyptischen Provinz Upe. Exakt 30 Tage nach seinem Aufbruch erreicht der König schließlich im „Hügelland von Kadesch“ das rund 20 km südlich von Kadesch gelegene Aronama.

Schlacht Kadesch 06

In einer Distanz von nur noch einer Tagesetappe zum Ziel wird hier zum letzten Mal vor dem Kampf genächtigt. Die bisherige Wegstrecke von knapp 700 km hat man in Tagesetappen von etwa 22,5 km recht zügig zurückgelegt. Während die Ägypter bislang auf dem Ostufer des Orontes entlang gezogen sind, wechseln sie nun, auf der letzten Etappe ihres Zuges, – ohne Angabe von Gründen, aber höchst bedeutsam für den weiteren Ablauf des Geschehens – bei Ribla auf das Westufer hinüber.

In der Umgebung der Stadt Schabtuna, sehr wahrscheinlich beim Tell Ma‘jān [Tell Majan], der, nur 5 km von Kadesch entfernt, auf dem Westufer gelegen ist (Koordinaten: N 34° 31' 53'', E 36° 28' 00''), wird Ramses, wie wir aus dem Bericht erfahren, Opfer einer Kriegslist der Hethiter. Zwei Beduinen berichten ihm, der Feind sei aus „Angst vor Pharao“ in das 200 km entfernt gelegene Aleppo geflüchtet. Ramses glaubt ihren Worten, doch in Wahrheit liegen die Hethiter bereits bei Kadesch in einem Hinterhalt.

Wären nicht diese agents provocateurs in Gestalt zweier Beduinen gekommen, hätte man die Region wohl zunächst sorgfältiger erkundet. So aber zieht Ramses eiligst und unbesorgt an der Spitze der Amun-Division sogleich weiter nach Kadesch und unterlässt es, die weit auseinander gezogenen Truppenteile des Re, Ptah und Seth aufschließen zu lassen. Ramses lässt im Nordwesten von Kadesch das Lager der Amun-Division aufschlagen und nimmt „Platz auf seinem Thron aus Feingold“.

Das heute Tell Nebī Mend [Tell Nebi Mend] genannte Kadesch ist ein gewaltiger Ruinenhügel, 500 m in Nord-Süd-Ausdehnung, 250 m breit, 30 m hoch, gleich westlich des Orontes, unmittelbar südlich des Zusammenflusses mit dem nach Osten fließenden Mukadije gelegen. Die Darstellungen der Kadesch-Schlacht zeigen Kadesch als eine Flussinsel. Die Identität des Ortes ist durch Tontafelfunde zweifelsfrei geklärt, die an Niqma Addu, einen König von Kadesch, gerichtet waren.

Während sich die Ägypter ahnungslos auf dem Westufer einrichten, halten sich die Hethiter auf der östlichen Seite des Orontes hinter „Alt-Kadesch“ verborgen, das wohl mit Sefinet Nuh gleichzusetzen ist, einer 3 km nordöstlich von Kadesch gelegenen Wallanlage der Mittelbronze-II-Zeit, die seinerzeit bereits 500 Jahre alt war.

Kenneth Kitchen hat seiner Rekonstruktion der Abläufe einen sehr anschaulichen Zeitplan beigefügt: Ausgehend davon, dass man im „Hügelland südlich von Kadesch“ um 5.30 Uhr geweckt wurde, konnte man um 6.30 Uhr losmarschieren. Bei einer Geschwindigkeit von 3 km/h hätte man die rund 20 km nach Kadesch in 7 Stunden geschafft. Hinzu zu rechnen ist noch der Übergang über den Orontes und die Episode mit den Beduinen wohl um die Mittagszeit, so dass man frühestens gegen 14 Uhr am Ziel eintreffen konnte und das Lager aufzuschlagen begann. Auf dieser Zeitbestimmung von 14 Uhr sollten alle weiteren Überlegungen aufbauen.

Schlacht Kadesch 10

Zu diesem Zeitpunkt sind die anderen Streitkräfte der Ägypter noch auf dem Anmarsch: Die Division des Re überquert zu dieser Zeit gerade den Orontes, während die Divisionen des Ptah und Seth sich noch weit im Süden befinden. Zudem marschiert eine aus den besten Soldaten dieser 4 Divisionen gebildete Eliteeinheit, Ne’arin genannt, von der Mittelmeerküste durch das Tal des Eleutheros kommend, auf Kadesch zu. Sie war gebildet worden, um entlang der Küste zunächst in Richtung Simyra zu ziehen, noch bevor sich die Hauptstreitmacht der Ägypter von der Küste in Richtung Beqa’a trennte. Wenn wir Kitchen und seinen Berechnungen folgen, so wären rund 2.000 Mann Fußtruppen und 200 Streitwagen für das Corps der Ne’arin zu veranschlagen, so dass jede der übrigen 4 Divisionen bei Kadesch noch aus 3.500 Mann Fußtruppen und 450 Streitwagen bestanden hat.

3.2. Der Kriegsrat im Lager im Nordwesten von Kadesch

Gegen 15 Uhr, nachdem zwei Kundschafter der Hethiter gefangen und mit Stöcken geschlagen worden sind, erfährt Ramses von der tatsächlichen Situation. Der König zitiert seine Offiziere herbei und hält mit ihnen Kriegsrat ab. Inzwischen ist es 15.30 Uhr – doch die Hethiter haben den Ablauf des Kriegsrates natürlich nicht abgewartet. Bereits eine halbe Stunde zuvor, gegen 15 Uhr, hat ihr Überraschungsangriff begonnen:

Schlacht Kadesch 11

Sie überqueren mit Streitwagen derart rasch den Orontes, dass die am Westufer entlang marschierende Division des Re in einem Flankenangriff überrumpelt wird. Diese flüchtet nach Norden, zum etwa 7 km entfernten Lager der Amun-Division, wo sie, zusammen mit den sie verfolgenden Hethitern, gegen 15.30 Uhr eintrifft, als der König noch mit seinem Kriegsrat tagt. Der Wesir und reitende Boten werden beauftragt, sich nach Süden zu der etwa 10 km entfernten Division des Ptah durchzuschlagen.

Schlacht Kadesch 12

Dass die Hethiter mit Streitwagen den Orontes durchquerten, ist nicht zu bestreiten. Heftig umstritten ist jedoch, ob bei diesem Angriff tatsächlich 2.500 Streitwagen, wie behauptet, zum Einsatz kamen bzw. kommen konnten.

Zur Größe der hethitischen Streitkräfte: Neben den bereits in den Kampf verwickelten 2.500 Streitwagen wird später eine Reserve von weiteren 1.000 Wagen mobilisiert. Bei einem in Vorderasien seinerzeit üblichen Zahlenverhältnis von rund 1:10 zwischen Streitwagen und Fußtruppen müssten auf seiten der Hethiter etwa 35.000 Fußsoldaten gestanden haben, was bezweifelt wurde. Doch belegen die Beischriften in Abu Simbel und dem Ramesseum genau diese Größenordnung; dort nämlich ist von 2 Gruppen von Kriegern in Stärken von 18.000 bzw. 19.000 (Variation: 17.000) Mann die Rede, welche untätig als Statisten auf dem Ostufer des Orontes ausharren.

Die nächste Frage ist, ob 2.500 Wagen bei der Durchquerung des Orontes noch in der Lage waren, einen Überraschungsangriff auszuführen. Der Orontes ist, bei schwankender Breite, nirgendwo schmäler als 6 m, und daran dürfte sich seit der Schlacht, wegen des felsigen Bettes, nicht viel geändert haben. Hätten die Streitwagen in Einerreihen den Fluss durchquert und dafür jeweils 5 Sekunden benötigt, so hätte die Durchquerung etwa 3½ Stunden gedauert. Ein Überraschungsangriff erscheint daher nur möglich, wenn der Fluss in breiter Front passiert worden wäre, eventuell mit Hilfe präparierter Bohlenübergänge. Dies aber setzte voraus, dass die Überquerung des Orontes im Süden von Kadesch durch die anrückenden Ägypter zu erwarten war. Aber konnte man das voraussehen?

Zu bedenken ist, welchem Zweck der Überraschungsangriff diente und wann er stattfand. Dass Ramses den Angaben der beiden agents provocateurs glauben und ohne weitere Erkundung eilends nach Kadesch ziehen würde, kann Muwatalli erst nach der Rückkehr der beiden Beduinen erfahren haben. Diese dürften etwa um die gleiche Zeit das hethitische Lager erreicht haben wie Ramses auf der Westseite seinen Lagerplatz – also gegen 14 Uhr. Frühestens um diese Zeit kann Muwatalli den Befehl zum Überraschungsangriff gegeben haben. Für einen direkten Angriff auf den König ist es jetzt aber bereits zu spät, denn dieser hat mit der Amun-Division seinen Lagerplatz ja längst erreicht.

Die Taktik der Hethiter dürfte darin bestanden haben, in den verbleibenden Tagesstunden die Ahnungslosigkeit der Ägypter, solange sie noch bestand, zu nutzen, wie auch die Ermüdung der ägyptischen Fußtruppen infolge des Tagesmarsches. Ein ganz auf Schnelligkeit abgestellter Überraschungsangriff sollte allein mit Wagen gegen das Lager des Königs geführt werden, wohl in der Absicht, diesen zu töten oder gefangenzunehmen, noch bevor weitere Truppenteile aufschließen konnten. Die hierfür eingeteilten Wagen haben von Alt-Kadesch bis zum Flussufer zunächst 4 km zurückzulegen, um an einer, womöglich präparierten Stelle, den Orontes zu überqueren. Für einen Überraschungsangriff hätte der Übergang schwerlich länger als 5 Minuten dauern dürfen – daher kann nur eine geringe Zahl von 100-200 Wagen eingesetzt worden sein.

3.3. Der Sieg des Königs

Nach der Kunde vom Angriff der Hethiter rüstet sich der König zum Kampf, er besteigt seinen Streitwagen und stürzt sich „in die Mitte des Kampfgetümmels“. Das Gedicht wechselt nun, um die Dramatik zu steigern, in den ‚Ich-Stil’; ab jetzt berichtet der König selbst von den Geschehnissen. Die Flucht einzelner Truppenteile wird zur angeblichen Flucht sämtlicher Getreuen des Königs, der, gänzlich allein gelassen, einer erdrückenden Streitmacht von 2.500 Streitwagen gegenübersteht. Die Situation ist derart aussichtslos, dass nur göttlicher Beistand die Rettung bringen kann. In höchster Not richtet der König ein ergreifendes Stoßgebet an den Götterkönig Amun, seinen göttlichen Vater, von dem er sich im Stich gelassen wähnt. Der König erwartet als ergebener Gefolgsmann des Amun dessen Beistand in höchster Not. Im Gegensatz zu den Truppen ist es nun allein der Gott, der erhört.

Ich fand Amun hilfreicher für mich

als Millionen Fußtruppen und Hunderttausend Streitwagen,

als Zehntausend Brüder und Jünglinge (…)

Er gab mir seine Hand und ich jubelte!

Wie von Angesicht zu Angesicht rief er:

»Vorwärts! Ich bin bei Dir.

Ich bin dein Vater – meine Hand ist bei Dir,

hilfreicher bin ich als Hunderttausende.

Ich bin der Herr des Sieges, der die Tapferkeit liebt.«

Der König erfährt das Eingreifen des Gottes nicht visuell, Amun wird weder in den Bildern dargestellt, noch von den Gegnern als Beistand im Kampf erblickt. Die Feinde sehen allein einen mit übernatürlichen Kräften ausgestatten König, der sich als Kriegsgott (abwechselnd Seth, Baal und Month) manifestiert. Wenn Ramses behauptet, er hörte den Gott „wie von Angesicht zu Angesicht“, dann wohl am ehesten in Form einer inneren Stimme. Nach Schilderung des Gedichts bezwingt Ramses – allein mit Unterstützung des Amun – einen übermächtigen Feind, der, vergeblich, weitere 1.000 Streitwagen in die Schlacht wirft, um einen Durchbruch und Sieg des Königs zu verhindern.

Dem Gedicht zufolge finden sich die versprengten ägyptischen Truppen erst am Abend wieder beim Lager ein. Der König hält ihnen wegen ihrer Flucht eine gehörige Standpauke: Sie hätten doch wissen müssen, dass eine Niederlage mit Beistand des Amun ausgeschlossen ist. Derart motiviert siegen nun auch die ägyptischen Truppen in der am folgenden Tage ausgetragenen Entscheidungsschlacht gegen die Hethiter. Ihr König Muwatalli gesteht die Niederlage ein und schickt Unterhändler, um sich den Ägyptern zu unterwerfen und einen Friedensvertrag zu unterzeichnen.

3.4. Fiktion und Wahrheit

Wäre der König tatsächlich, wie behauptet, völlig allein von bis zu 3.500 Streitwagen umzingelt gewesen – er hätte keine Chance gehabt. Die im Gedicht geschilderten Abläufe sind, von der Einkreisung durch 2.500 Streitwagen bis zum Friedensschluss, klärlich Fiktion. Schon bei der Untersuchung des Überraschungsangriffes zeigte sich, dass dieser nur von einer deutlich kleineren Abteilung, also maximal 200 Wagen, vorgetragen worden sein kann. Und der in den Reliefs gezeigte Durchbruch zum Fluss ist strategisch sinnlos, da auf der Gegenseite das hethitische Fußvolk steht. Ein Angriff des Königs in diese Richtung macht allenfalls ikonographisch Sinn, um die heillose Flucht der Hethiter und ihrer Verbündeten zu zeigen und beispielsweise den fast ertrunkenen Fürsten von Aleppo zu verspotten.

Der wahre Hergang lässt sich allein einer Bilddarstellung mit Beischrift entnehmen, die das Heranrücken jenes Eliteverbandes zeigt, der von der Mittelmeerküste aus von Westen auf Kadesch zu marschieren hatte.

Sein Eintreffen bei Kadesch am gleichen Tage wie die Hauptstreitmacht ist sicher der exakten militärischen Planung und 250 Jahren Erfahrung mit Vormärschen in Vorderasien geschuldet. Doch eine gehörige Portion Glück ist mit im Spiel, dass die Ne’arin gerade noch rechtzeitig zur Einkreisung des Lagers eintreffen. Der Angriff der Hethiter auf das Lager kann noch nicht lange währen, denn sie sehen den König im Kriegsrat zu einer Zeit, als der Lageraufbau noch nicht beendet war, also um etwa 15.30 Uhr.

Schlacht Kadesch 17

Wenn überhaupt, dann eröffnet Ramses nun zusammen mit dem Corps der Ne’arin seinen Gegenangriff. Gegen 16 Uhr dürften die Hethiter mit einem Rückzug begonnen haben, den die Ägypter als Flucht auslegen konnten. Sollte es, wie die Inschriften besagen, eine 2. Welle von Streitwagen tatsächlich gegeben haben, so müsste sie noch vor 16 Uhr entsandt worden sein. Gegen 16.30 Uhr war die Konfrontation beendet. Zu dieser Zeit, als die zu Hilfe gerufene Division des Ptah endlich beim Lager eintraf, gab es für diese nichts mehr zu tun; gegen 17.30 Uhr dürften sich beide Seiten wieder in ihren Lagern befunden haben.

Der Sieger des Kriegszuges bemisst sich am Kriegsziel, dem Status des vormals hethitischen Vasallen Benteschina: Die Ägypter wollten den status quo erhalten, die Hethiter ihn revidieren. Tatsächlich wird in Amurru die hethitische Oberherrschaft wieder hergestellt und Benteschina, der Auslöser des Konfliktes, abgesetzt und durch einen gewissen Sabili ersetzt. Zudem verfolgen die Hethiter die sich zurückziehenden Ägypter bis auf die Höhe von Upe und verwüsten das Gebiet (KUB XXI, 17 [= A. Goetze, Keilschrifturkunden aus Boghazköi XXI, Berlin 1928]; KUB XXXI, 27 [= J. Sturm, Keilschrifturkunden aus Boghazköi XXXI, Berlin 1939]). Da es sich um Briefe handelt, die hinsichtlich des historischen Wahrheitsgehaltes eine ganz andere Qualität besitzen als ägyptische Tempelinschriften mit ihrer fraglos starken, propagandistischen Färbung, sind sie als historische Quelle ungleich verlässlicher.

4. Sinn und Zweck der ägyptischen Überlieferung der Schlacht von Kadesch

Es mag verwundern, dass der Höhepunkt eines Feldzuges, der sich als Fehlschlag erwies, bei dem der König nur mit viel Glück einer Katastrophe entging, in Ägypten an einer Vielzahl von Tempeln angebracht wurde: kein anderes historisches Ereignis ist so häufig und in derart gewaltigen Dimensionen dargestellt worden. Die Diskrepanz zwischen dem Aufwand der Wiedergabe, von Quantität und Qualität einerseits und dem doch mäßigen militärischen Erfolg andererseits, erklärt sich durch das Anliegen des Königs, einen göttlichen Machterweis zu verkünden. Dazu wird die Lage dramatisiert: Der König ist angeblich vollkommen allein und von 3.500 Streitwagen umzingelt. Die nun ins Lebensbedrohliche gesteigerte Konstellation erweckt den Anschein, die Götter könnten sich von Ägypten abgewendet haben. Denn ausbleibendes Kriegsglück, mangelnder militärischer Erfolg, wird als vom König verschuldete Gottesferne verstanden. So urteilt rückblickend Tutanchamun in seiner Restaurations-Stele über die Zeit des Ketzerkönigs Echnaton:

Wenn man ein Heer nach Syrien sandte, die Grenzen Ägyptens zu erweitern, so hatte es keinerlei Erfolg. Wenn man zu einem Gott betete, um von ihm etwas zu erbitten, so kam er nie. (Urk. IV, 2027.13-16 [= K. Sethe, Urkunden der 18. Dynastie, Leipzig 2. Aufl. 1927]).

Die Schlacht von Kadesch hingegen dient als Beweis, dass unter der Regierung des Ramses die Dinge anders liegen: Das Verhältnis zum Gott ist nicht gestört, der Gott kommt, steht bei, und der König hat Erfolg. Die anfängliche Schlappe, der Überraschungsangriff der Hethiter und die ungeheuerliche Flucht der eigenen Truppen, wird verkehrt in den Triumph des Königs: Durch göttlichen Beistand erweist sich Ramses als Gefolgsmann seines Gottes; der König verkündet in gigantischer Form einen göttlichen Machterweis, der ihn vor dem Tode rettet und den Sieg beschert.

Literaturverzeichnis

1. Vollständige Publikation der Textquellen

  • Kuentz, M.Ch., La Bataille de Qadech. Les Textes („Poème de Pentatour“ et „Bulletin de Qadech“) et les Bas-Reliefs (MIFAO 55), Kairo 1928
  • Kitchen, K.A., Ramesside Inscriptions. Historical and Biographical, Bd. II, Oxford 1979

2. Vollständige Übersetzungen und Interpretationen

  • Fecht, G., Das „Poème“ über die Qadeš-Schlacht, Studien zur Altägyptischen Kultur 11 (FS W. Helck), Hamburg 1984, 281-333
  • Fecht, G., Ramses II. und die Schlacht bei Qadesch (Qidša). Ergänzende Überlegungen im Anschluß an meinen Aufsatz in der FS Helck (SAK), GM 80, 1984, 23-53
  • Gardiner, A.H., The Kadesh Inscriptions of Ramesses II, Oxford 1960, 2. Auflage 1975
  • Kitchen, K.A., Ramesside Inscriptions. Historical and Biographical, Translated & Annotated, Translations, Bd. II, Oxford 1996
  • Kitchen, K.A., Ramesside Inscriptions. Historical and Biographical, Translated & Annotated, Notes and Comments, Bd. II, Oxford 1999
  • Lichtheim, M., Ancient Egyptian Literature, Bd. II, The New Kingdom, Berkeley-Los Angeles-London 1976
  • Way, Th. von der, Die Textüberlieferung Ramses’ II. zur Qadeš-Schlacht. Analyse und Struktur (HÄB 22), Hildesheim 1984

3. Datierung

  • Beckerath, J. von, Chronologie des Pharaonischen Ägypten. Die Zeitbestimmung der ägyptischen Geschichte von der Vorzeit bis 332 v.Chr. (MÄS 46), Mainz 1997

4. Historische Zusammenhänge

  • Assmann, J., Krieg und Frieden im alten Ägypten: Ramses II. und die Schlacht bei Kadesch, in: H. v. Ditfurth (Hg.), mannheimer forum 83/84, Mannheim 1983, 175-231
  • Murnane, W.J, The Road to Kadesh. A Historical Interpretation of the Battle Reliefs of King Sety I at Karnak (SAOC 42), Chicago 1985, 2. Auflage Chicago 1990
  • Hout, Th.P.J. van den, Der Falke und das Küken: der neue Pharao und der hethitische Prinz, ZA 84, 1994, 60-88

5. Topographie

  • Kuschke, A., Das Terrain der Schlacht bei Qadeš und die Anmarschwege Ramses’ II., ZDPV 95, 1979, 7-35

Abbildungsverzeichnis

  • Karte: Vorderasien. © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
  • Karte: Syrien-Palästina. © Thomas von der Way
  • Thutmosis III. erschlägt die Feinde (Karnak-Tempel). © Thomas von der Way
  • Die Lagerszene mit dem Kriegsrat des Königs. Aus: I. Rosellini, I monumenti dell' Egitto e della Nubia, 1. Monumenti storici, Bd. I, Pisa 1832, Taf. CIV und CV, Korrekturen und Kolorierung zur Hervorhebung der auf verschiedenen Zeitebenen ablaufenden Handlungen Thomas von der Way
  • Der König im Streitwagen beim Angriff auf die Festung Kadesch. Aus: I. Rosellini, I monumenti dell' Egitto e della Nubia, 1. Monumenti storici, Bd. I, Pisa 1832, Taf. CVI und CVII, Korrekturen und Kolorierung zur Hervorhebung der auf verschiedenen Zeitebenen ablaufenden Handlungen Thomas von der Way
  • Verteilung der Truppenteile um die Mittagszeit des Kampftages. © Thomas von der Way
  • Ramses II. auf seinem Thron aus Feingold (Ramesseum, 1. Pylon). © Thomas von der Way
  • Blick von Osten über den Orontes auf den Tell Nebī Mend. © Thomas von der Way
  • Kadesch als Flussinsel (Ramesseum, 2. Pylon). © Thomas von der Way
  • Situation um 14 Uhr. © Thomas von der Way
  • Überraschungsangriff um 15 Uhr. © Thomas von der Way
  • Einkreisung des Lagers um 15.30 Uhr. © Thomas von der Way
  • Hethitische Fußtruppen als Statisten auf dem Ostufer des Orontes (Ramesseum, 2. Pylon). © Thomas von der Way
  • Ramses II. in der Wagenschlacht (Luxor-Tempel). © Thomas von der Way
  • Der fast ertrunkene Fürst von Aleppo (Ramesseum, 2. Pylon). © Thomas von der Way
  • Eilig anrückende Ne'arin (Abydos-Tempel, Außenwand). © Thomas von der Way
  • Einkreisung des Lagers und anrückende Ne'arin um 15.30 Uhr. © Thomas von der Way

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