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Säugling (AT)

(erstellt: August 2008)

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Amme

1. Definition und Terminologie

Laut klinischem Wörterbuch Pschyrembel wird heute unter einem „Säugling“ (engl.: infant, baby) ein Kind nach der Geburt bis zur Vollendung des ersten Lebensjahres verstanden; Kinder vom ersten bis zum dritten Lebensjahr werden als „Kleinkinder“ bezeichnet.

Das wichtigste Verb in der Hebräischen Bibel für saugen / säugen ist jnq; das Partizip Qal jôneq in der Bedeutung „Säugling“ ist in der Hebräischen Bibel elfmal belegt. Auch die Grundbedeutung von ‘wl dürfte laut Sæbø (1131) „säugen“ sein, sie ist aber bei den Nomina, die am häufigsten vorkommen (‘ûl und ‘ǎwîl mit jeweils zwei, ‘ôlel mit elf und ‘ôlāl mit 9 Belegen), mehr oder weniger abgeschwächt worden. Das Kollektivum ṭaf kann in manchen Kontexten Kinder inklusive Säuglinge und Kleinkinder bezeichnen (z.B. Dtn 1,39; Dtn 29,10; Dtn 31,12; 2Chr 20,13); das Nomen jælæd („Kind“) kann sich gelegentlich auch auf ein Kind in der Stillphase beziehen (z.B. Gen 21,8).

Die Texte der Hebräischen Bibel geben keine Auskunft darüber, wie lange ein Kind in der Regel gestillt wurde (also „Säugling“ im eigentlichen Wortsinn war) bzw. in welchem Alter es in der Regel entwöhnt wurde (gāmûl bezeichnet das entwöhnte Kind, vgl. Gen 21,8f. und 1Sam 1,24). In 2Makk 7,27 (Lutherbibel: 2Makk 7,28) wird eine dreijährige Stillzeit erwähnt; in späteren talmudischen Quellen finden sich diesbezüglich uneinheitliche Angaben: Nach R. Joschua beispielsweise ist die Stillzeit nicht beschränkt, nach der Schule Hillels ist die Regel 18 Monate (Preuss 471). Wahrscheinlich ist auch für das Alte Israel anzunehmen, dass die Stillzeit mehr als ein Jahr betrug. Dies bedeutet, dass sich (modern gesprochen) Säuglings- und Kleinkindphase überschnitten.

Im Folgenden wird die moderne Terminologie zugrunde gelegt. Wenn sich z.B. durch den Kontext die Bedeutung „Säugling“ für ein hebräisches Nomen nicht sicher erheben lässt, wird die Bezeichnung „Säugling / Kleinkind“ gewählt.

2. Behandlung eines Säuglings

Ez 16,4 ist zu entnehmen, wie ein Neugeborenes (→ Geburt) behandelt wurde: Abschneiden der Nabelschnur, Waschen mit Wasser; Einreiben mit Salz, Wickeln wohl im Sinn von Bandagieren der Körperteile. Der Sinn des Einreibens mit Salz ist nicht klar (apotropäischer Ritus? Desinfizierung?); ebenso unklar bleibt manches in Bezug auf das Wickeln (beispielsweise: Wie oft und über welchen Zeitraum hinweg wurde ein Kind gewickelt?). Ein männlicher Säugling soll nach dem priesterlichen Gesetz Lev 12,3 am achten Tag beschnitten werden (→ Beschneidung). Aus mehreren Texten geht hervor, dass Mütter ihre Kinder selbst stillten (z.B. Gen 21,7; 1Sam 1,23; 1Kön 3,21). Von → Ammen ist nur selten die Rede: Nach 2Kön 11,2 hatte der Königssohn → Joasch eine Amme. Über den Tod Deborahs, der Amme Rebekkas, wird wie vom Tod einer wichtigen Persönlichkeit berichtet (Gen 35,8). Nachdem die Tochter des Pharao den kleinen → Mose auf dem Nil fand, bot Moses Schwester an, eine Amme für den Säugling zu besorgen (Ex 2,7).

3. Eine biblische „Aussetzungsgeschichte“

In der ganzen Welt verbreitet sind Aussetzungsgeschichten von Säuglingen. Auch in der Hebräischen Bibel findet sich eine solche: Der neugeborene → Mose ist im Horizont der Exoduserzählung aufgrund des Befehls des Pharao an die israelitischen „Hebammen“, jeden neugeborenen männlichen Säugling zu töten, gefährdet (Ex 1,8-22, vgl. im NT Mt 2,16-18). Die JHWH-fürchtigen Hebammen kommen diesem Befehl nicht nach. Mose wird von seiner Mutter zunächst im Haus verborgen, nach drei Monaten in einem Korb auf dem Nil versteckt und schließlich durch die Initiative von Frauen gerettet. Durch diese Geschichte wird von vornherein die Besonderheit des hier in den größeren literarischen Zusammenhang eingeführten Helden unterstrichen: Schon als Säugling trotzt er dem Tod, und das zeigt, dass JHWH mit ihm ist. Zugleich macht die Erzählung die Überlegenheit des Gottes Israels über die Weltmacht Ägypten deutlich (→ Mose 4.).

Eine enge Parallele bietet die Geburtslegende des Sargon von Akkad, die in der Bibliothek → Assurbanipals gefunden wurde und in der neueren Forschung sogar als Quelle der Moseerzählung gilt (s. Art. → Mose): „Sargon, der starke König, der König von Akkade, bin ich. Meine Mutter war eine Verstoßene (?), meinen Vater kannte ich nicht. Die Verwandtschaft meines Vaters wohnt im Gebirge. Meine (Geburts-)stadt ist (die Stadt) Safran, die am Ufer des Euphrat liegt. Es empfing mich meine Mutter, die Verstoßene gebar mich heimlich. Sie legte mich in einen Korb aus Schilf, mit Asphalt verschloss sie meine Öffnungen. Sie ließ mich auf dem Fluss nieder, aus dem ich nicht mehr selbst emporsteigen konnte. Der Fluss trug mich, zu Aqqi dem Wasserschöpfer brachte er mich. Aqqi der Wasserschöpfer holte mich wahrlich durch ein Eintauchen des Eimers herauf. Aqqi der Wasserschöpfer nahm mich zu seiner Sohnschaft an(?), er zog mich wahrlich groß. Aqqi der Wasserschöpfer setzte mich wahrlich in seine Gärtnerarbeit ein. Bei meiner Gärtnerarbeit gewann mich die Ischtar wahrlich lieb. (x Zehner +) 5/4 (?) Jahre übte ich wahrlich die Königsherrschaft aus. …“ (Übersetzung aus Gerhards, 170ff). Die Erzählung will zeigen: Ein Säugling, der so gerettet wird, muss ein Geliebter der Götter sein.

4. Anthropologische und theologische Bedeutungshorizonte

Die (zeitlose) Erfahrung, dass Säuglinge und Kleinkinder als schwache Glieder der Gesellschaft von Armut sowie von Kriegen und ihren Folgen besonders betroffen sind, spiegelt sich in nicht wenigen Texten der Hebräischen Bibel. Nach Hi 24,9 wurden Säuglinge / Kleinkinder (lies: ‘ûl) zum Pfand genommen. Mehrfach wird die Gruppe der Säuglinge / Kleinkinder neben anderen Gruppen als Opfer kriegerischer Handlungen ausdrücklich erwähnt (vgl. 1Sam 15,3; 1Sam 22,19; 2Kön 8,12); gelegentlich werden Säuglinge / Kleinkinder zusammen mit Frauen als Opfergruppe besonders hervorgehoben (Jes 13,16; Ho 14,1, vgl. auch Mi 2,9). Der schlechte Zustand der Jerusalemer Bevölkerung nach 586 v. Chr. wird in Klgl 2 unter anderem auch mit Blick auf die Säuglinge / Kleinkinder verdeutlicht: Sie verschmachten an den Orten, an denen sie sich vorzugsweise aufhalten, nämlich auf den Gassen der Stadt (Klgl 2,11f.; vgl. auch Klgl 4,4; Nah 3,10; Jer 6,11; Jer 9,20).

In dem sog. „Rachepsalm“ Ps 137 werden ungefiltert die Verzweiflung der deportierten Israelitinnen und Israeliten und die Wut über Babel zum Ausdruck gebracht. Der Psalm gipfelt in der „Seligpreisung“ desjenigen, der die Säuglinge / Kleinkinder (‘ôlālîm) der Babylonier am Felsen zerschmettert (Ps 137,9).

Auch in den „Kontrasttexten“, nämlich in einigen prophetischen Visionen über ein friedliches künftiges Jerusalem bzw. eine friedvolle künftige Welt, kommen die Säuglinge / Kleinkinder vor. So wird es nach Jes 65,20 im neuen Jerusalem unter einem neuen Himmel und auf einer neuen Erde keine Säuglingssterblichkeit geben (kein ‘ûl jāmîm). Nach der Verheißung Sach 8,4 werden in der kommenden Heilszeit alle Kinder unbeeinträchtigt auf den Gassen Jerusalems spielen können. In der bekannten utopischen Vision in Jes 11,1ff. wird es im Reich des zukünftigen Friedenskönigs ohne Gefahr möglich sein, dass der Säugling (jôneq) sich am Loch der Viper erfreut und das entwöhnte Kleinkind (gāmûl) seine Hand in die Höhle der Otter steckt (Jes 11,8). Die Säuglinge und Kleinkinder sind ein Indikator dafür, wie es mit dem Frieden JHWHs in der Welt bestellt ist.

In Jes 49,15 wird die Unverbrüchlichkeit der Beziehung JHWHs zu seinem Volk unter Heranziehung der Beziehung einer Mutter zu ihrem Säugling / Kleinkind beschrieben: Im Normalfall wird eine Mutter ihren im eigenen Leib ausgetragenen Säugling bzw. ihr kleines Kind (‘ûl) nicht vergessen im Sinn von vernachlässigen (V. 15a). Mag, so die weitere Argumentation, von diesem „Normalfall“ eine Abweichung denkbar sein, so gilt jedoch in Bezug auf die Beziehung JHWHs zu Israel: JHWH könnte Israel nicht vergessen (V. 15b).

Nach Ps 8,3 hat JHWH durch den Mund der Säuglinge / Kleinkinder Stärke gegründet, damit JHWHs Feinde beruhigt werden sollten. Wie auch immer man den schwierigen Vers im Einzelnen verstehen mag (z.B. kann bei „Mund“ an stammelndes Lob der kleinen Kinder oder an ihr Schreien gedacht werden): In der Perspektive des Verses zählen die Säuglinge / Kleinkinder nicht (wie gewöhnlich) zu den ersten Opfern im Zuge feindlicher Aktionen, sondern sie werden durch JHWH zum Medium der Besänftigung der Feinde.

Literaturverzeichnis

  • Blenkinsopp, J., 1997, The Family in First Temple Israel, in: L.G. Perdue u.a. (Hgg.), Families in Ancient Israel (The family, religion, and culture 6), Louisville, 48-103
  • Gerhards, M., 2006, Die Aussetzungsgeschichte des Mose. Literar- und traditionsgeschichtliche Untersuchungen zu einem Schlüsseltext des nichtpriesterschriftlichen Tetrateuch (WMANT 109), Neukirchen-Vluyn
  • Lux, R., 2006, Die Kinder auf der Gasse. Ein Kindheitsmotiv in der prophetischen Gerichts- und Heilsverkündigung, in: A. Kunz-Lübcke / R. Lux (Hgg.), „Schaffe mir Kinder …“ Beiträge zur Kindheit im alten Israel und in seinen Nachbarkulturen (ABG 21), Leipzig, 197-221
  • Preuss, J., 1992, Biblisch-Talmudische Medizin. Beiträge zur Geschichte der Heilkunde und der Kultur, Wiesbaden [1911]
  • Sæbø, M., Art. עול, in: ThWAT V (1986), 1131-1135

Abbildungsverzeichnis

  • Jakob und Esau als „Wickelkinder“ (Wenzelsbibel; 14. Jh.).

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