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(erstellt: Januar 2012)

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1. Der Begriff „Raum“

Weder im Hebräischen noch im Griechischen gibt es einen abstrakten Begriff „Raum“. Eine Vielzahl von Phänomenen kann mit dem Thema „Raum“ assoziiert werden: Landschaften, Landkarten, Weltbilder, Gebäude, Sozialformen oder Verhältnisbestimmungen. Bei jeder raumtheoretischen Analyse biblischer Texte sollte daher geklärt werden, was unter „Raum“ verstanden wird. Der vorliegende Artikel geht von Raumtheorien aus, die bisher mit Gewinn auf alttestamentliche Texte angewendet wurden: Ein erzähltheoretischer Zugang zu Raum (2.), die Raumtheorie Henri Lefebvres und deren Modifikation durch Edward Soja (3.) sowie die Raumsoziologie Martina Löws (4.). Anhand von Einzelbeispielen und bisher erschienenen Studien wird gezeigt, welche alttestamentlichen Raumphänomene mit der gewählten Theorie erschlossen werden können. Die raumtheoretische Analyse biblischer Texte stellt ein relativ neues Forschungsfeld dar, das sich im Blick auf das Alte Testament rasch entwickelt, während es in der neutestamentlichen Forschung bisher wenig Beachtung gefunden hat.

2. Raum aus erzähltheoretischer Perspektive

Die erzähltheoretische Perspektive auf Raum ist von besonderer Relevanz, weil alle Räume in der Bibel vorgestellte, dargestellte oder erzählte Räume sind. Viele Ergebnisse der Erzähltheorie sind darum auch für nicht erzählende Texte relevant. In der Erzähltheorie wird die Kategorie Raum oft als selbstverständlich vorausgesetzt und bleibt theoretisch unbestimmt, sie müsste durch Raumtheorien (wie unter 3. und 4. dargestellt) präzisiert werden.

2.1. Raum als Schauplatz oder Standort

Als Schauplatz oder Setting ist Raum die notwendige Bedingung einer Erzählung, da die Erzählfiguren räumlich verankert sein müssen. Das erfolgt meist durch die Erzählstimme („Da war ein Mann aus Ramatajim-Zofim vom Gebirge Ephraim…“; 1Sam 1,1); in wörtlicher Rede können die Erzählfiguren auch selbst auf ihren Standort Bezug nehmen: „Hier bin ich“ (הִנֵּנִי hinneni, Gen 22,1; Gen 27,1; Ex 3,4; 1Sam 3,4.5.6.8.16; wörtlich: „Siehe, ich“). Andere gängige Formulierungen sind הֲלֹם hǎlom „hierher“ (Gen 16,13; Ex 3,5), פֹּה poh „hier“ (Gen 19,2; Gen 22,5) oder הַמָּקוֹם הַזֶּה hammāqom hazzæh „dieser Ort“ (Dtn 1,31; Dtn 29,6). Das Verhältnis des Standorts der Erzählfiguren zu dem der impliziten Leserinnen und Leser hat Bedeutung für die Textpragmatik, die beabsichtigte Wirkung des Textes. Die Wirkung vieler Psalmen basiert darauf, dass sich die Lesenden als Betende mit dem Standort des Ichs identifizieren, mit diesem „aus Tiefen rufen“ (Ps 130,1), „aus dem Schlamm gezogen“ und „auf einen Felsen“ gestellt werden (Ps 40,3). Auch die räumliche Differenz zwischen Lesenden und Erzählfiguren kann Bedeutung tragen. Der Standort Moses und des Volkes Israel wird in Dtn 1,1.5 als „jenseits des Jordan“ (בְּעֵבֶר הַיַרְדֵּן bə‘evær hajjarden) charakterisiert, so dass die impliziten Leserinnen und Leser auf der gegenüberliegenden Seite des Jordan zu vermuten sind, im Land Israel. Die Aufmerksamkeit der Lesenden wird auf die Differenz gerichtet und die Überschreitung des Jordan als Ziel avisiert (vgl. 4.1.).

2.2. Raum als Teil der Ereignisfolge („Fabel“)

Oft lenken Raumwechsel die Aufmerksamkeit der Lesenden auf die räumliche Dimension des Textes. So bringt die Notiz über den Aufbruch vom Sinai in Num 10,11f den Schauplatz der vorangegangenen Reden in Erinnerung und vollzieht den Raumwechsel zum nächsten Schauplatz. Räume können somit als Teil der Ereignisfolge („Fabel“) einer Erzählung verstanden werden (Bal 1997). In der Erzählung über die Vergewaltigung → Tamars (2Sam 13,1-22) zum Beispiel korrespondiert die Bedrängung Tamars mit dem Wechsel in immer geschlossenere, privatere Räume.

2.3. Raum als Teil der Präsentation der Erzählung („Fokussierung“)

Räume werden literarisch immer aus einer bestimmten Perspektive beschrieben, sodass sie keine Realität, sondern eine Sichtweise auf einen bestimmten Raum repräsentieren („Ebene der Story / Fokussierung“ bei Bal 1997). Die Charakterisierung von Räumen entspricht der Charakterisierung menschlicher Erzählfiguren, sie lenkt die Aufmerksamkeit der Lesenden auf bestimmte Phänomene und gibt ihnen Bedeutung für das Verständnis der Erzählung. Explizite Charakterisierungen von Räumen (wie auch von Menschen) bilden jedoch die Ausnahme in hebräischen Texten. Sie finden sich in Bezug auf den Garten Eden (Gen 2,9-14), das versprochene Land (Dtn 8,7-9) und das Heiligtum (Ex 25-31; Ex 35-40, vgl. George 2009 und unten 3.3.; Jes 6, vgl. Hartenstein 1997; Ez 40-48, vgl. Smith 1987). In der Regel entstehen Raumvorstellungen implizit, z.B. durch die Positionierung der Erzählfiguren zueinander (לִפְנֵי lifnê „vor“, אַחַר ’aḥar „hinter“, יָמִין jāmîn „rechts“, שְׂמֹאל śəm’ol „links“ etc.) oder in Bezug auf räumliche Gegebenheiten:

„Da versammelten die Philister ihre Heere zum Kampf, und sie versammelten sich in Socho, das in Juda liegt, und sie lagerten sich zwischen Socho und Aseka in Efes-Dammim. Auch Saul und die Männer Israels versammelten sich, lagerten sich im Tal der Terebinthen und rüsteten sich zum Kampf gegen die Philister. Und die Philister standen am Berg von da, und Israel stand am Berg von da, und das Tal war zwischen ihnen. Dann kam der Zweikämpfer heraus aus den Heeren der Philister…“ (1Sam 17,1-3a).

Die Beschreibung des Schauplatzes ist Teil der Fabel, die Beschreibung der Heeraufstellung verrät zugleich die Perspektive der Erzählung: Die Gegenüberstellung der Heere an den Berghängen baut Spannung auf, da sie den Beginn einer Schlacht erwarten lässt. Die Berghänge entpuppen sich jedoch als Zuschauerränge für den → Zweikampf zwischen → David und → Goliat, der stellvertretend für die beiden Heere stattfindet.

2.4. Raum als Subjekt („acting place“)

Räume können sogar zu Subjekten einer Erzählung werden, wie der „brennende Dornbusch“ in der Erzählung über die Berufung des → Mose zeigt (Ex 3,1-5). Die Handlung „Mose führt die Schafe seines Schwiegervaters durch die Wüste“ (Ex 3,1) wird durch die Präsentation des brennenden Dornbuschs überlagert: Dieser wird als Ort der Erscheinung des Boten Jhwhs benannt (Ex 3,2a), ein zweites Mal aus der Perspektive Moses geschildert (Ex 3,2b) und ein drittes Mal über eine Gedankenrede Moses fokussiert (Ex 3,3). Mit der Terminologie Mieke Bals kann hier ein räumlicher Übergang vom Schauplatz („place of action“) zum „acting place“ konstatiert werden: Der „acting place“ beeinflusst die Handlung, und diese wird der Präsentation des Raumes untergeordnet (Bal 1997).

2.5. Geprägte Bedeutungen von Räumlichkeit

Ilse Müllner weist darauf hin, dass Räume und räumliche Verhältnisbestimmungen mit feststehenden Konnotationen verbunden sein können, die den intendierten Leserinnen und Lesern der Texte vertraut waren. Bei alttestamentlichen Erzählungen müssen diese Konnotationen durch vergleichende Textanalysen „intertextuell-semantisch“ (Müllner 2006) erhoben werden. Als Beispiel nennt sie die Konnotation des Ortes „Feld“, die eine potentielle Gefährdung von Frauen impliziert (vgl. Dtn 22,23-27 und Rut 2,8.21.23). Die Präposition לִפְנֵי lifnê „vor“ (wörtlich: „vor das / dem Angesicht von“) kann die Konnotation einer Audienz tragen, einer „konfrontierenden Begegnung zwischen (idealtypisch zwei) Personen von unterschiedlichem sozialen Rang“ (Hartenstein 2008, 73). Sie gibt Auskunft darüber, wer vor das Angesicht des Königs (1Kön 3,16) oder Gottes (Dtn 9,18.25; Dtn 16,16) vorgelassen wird und wessen Bitten sich König oder Gottheit somit zu eigen machen. Ex 33,17-23 reagiert auf diese Vorstellung und variiert sie, indem Mose nicht „vor“ das Angesicht gelassen wird, sondern „hinter“ Jhwh her sehen darf (Ex 33,23). Das „Stehen“ (עמד ‘md) „vor dem Angesicht“ kann auch bedeuten, in jemandes Dienst zu sein (2Kön 4,12; 2Kön 5,15), so wie Priester und Propheten „vor Gott“ stehen (Dtn 10,8; Dtn 18,7; 1Kön 17,1; 1Kön 18,15; Ez 44,15).

Räumliche Strukturen werden oft in Dichotomien wie „außen – innen“ (חוּץ ḥûṣ – חָדַר ḥādar / קָרֵב qārev / בֶּטֶן bæṭæn etc.), „hoch – tief“ (גָּבָה gāvāh – עָמֹק ‘āmoq), „eng – weit“ (צַד ṣad – רָחַב rāḥav), „fern – nah“ (קָרֵב qārev – רָחוֹק rāḥôq), „rechts“ – „links“ (יָמִין jāmîn – שְׂמֹאל śəm’ol) dargestellt. Diese polaren Raumwahrnehmungen haben kulturell geprägte Konnotationen, die über den einzelnen Text hinausreichen. Für das Hebräische gilt nach Müllner (2006, 10): „Das Oben ist positiver konnotiert als das Unten, was sich in der Terminologie von Einwanderung als עֲלִיָּה ‘ǎlijjāh im Gegensatz zum Abstieg (יָרַד jārad) des Aus¬wanderns niederschlägt.“ Für den griechischen und römischen Kontext analysiert Økland 2004, in welcher Weise die Dichotomie öffentlich / privat auch durch Gendering („Geschlechterrollen“) geprägt ist: Ohne dass Frauen aus dem öffentlichen Bereich ausgeschlossen sind, wird dieser diskursiv als männlich konstruiert; den Frauen wird – vonseiten der männlichen diskursiven Akteure – der private Raum zugeordnet. Økland begreift heilige Räume als Überschreitung dieser Zweiteilung: Tempel gehören zum öffentlichen Raum, ohne dass der Zutritt für Frauen limitiert wäre. Heilige Räume können jedoch auch einen besonderen Bereich innerhalb der privaten Räume darstellen. Für jeden untersuchten Text ist darum zu fragen, ob Dichotomien für das Raumverständnis eine Rolle spielen und welche kulturellen Konnotationen ein Text aufnimmt oder variiert. Die polare Charakterisierung von Räumen kann im Blick auf die Ereignisfolge („Fabel“, Bal 1997) einer Erzählung Bedeutung tragen oder als Element der Fokussierung, d.h. der Weise, durch die der Text die Wahrnehmung der Texträume lenkt.

Die hebräischen Ausdrücke für → Himmelsrichtungen lassen unterschiedliche geprägte Bedeutungen erkennen. Diese können die Perspektive einer fiktiven Person spiegeln, die nach Osten – also zum Sonnenaufgang hin (vgl. „Orient / Orientierung“ > lateinisch oriri „aufgehen“) – „vorn“ (קֶדֶם qædæm oder עַל־פְּנֵי ‘al-pənê) blickt, so dass der Westen „hinten“ (אָחוֹר ’āḥôr), Süden „rechts“ (יָמִין jāmîn) und Norden „links“ (שְׂמֹאל śəm’ol) liegen (Hi 23,8f). In einer anderen räumlichen Perspektive werden die Himmelsrichtungen nach dem Lauf der Sonne benannt: Sonnenaufgang (Osten), Tageslauf (Süden) und Untergang (Westen). Die geographische Perspektive schließlich benennt den Norden nach dem Berg Zaphon, den Süden nach der Wüste Negev und den Westen nach dem Meer. Diese drei Perspektiven konnten auch kombiniert werden (Ps 107,3; Dtn 3,27; Gen 13,14). Im Alten Testament gibt es somit keine abstrakte Rede über Himmelsrichtungen, vielmehr gibt die Ausdrucksweise Auskunft über den gedachten Standort und das jeweilige Orientierungssystem. Die Himmelsrichtungen können weitere Konnotationen tragen: Der Osten wird als Ort der Weisheit (1Kön 5,10; Hi 1,3) und des Paradiesgartens (Gen 2,8) angesprochen, während in Jo 2,20; Jer 1,13f; Jer 4,6 vom „Feind aus dem Norden“ die Rede ist. Für Ps 48,3 kann Christl Maier zeigen, dass der Zion „an der Flanke des Zaphon“, des nordsyrischen Berges und Sitzes der Götter lokalisiert wird (Maier 2008). Nach dieser ideologischen Raumkonstitution wird der Zion gegen die Geographie mit dem Götterberg der Tradition identifiziert.

2.6. Literarische Raumkonstitution durch Verben

Über die lokalen Adjektive / Adverbien hinaus werden Räume in alttestamentlichen Texten in erster Linie durch Handlungen charakterisiert. Bewegungsverben geben implizit Aufschluss über den Raum, in dem sie stattfinden: Im Text erschafft die erzählte Bewegung den Raum, in dem sie stattfindet. In Ex 19 entsteht der räumliche Eindruck des Berges Sinai durch das „Hinaufsteigen“ Moses und das Verbot des Hinaufsteigens an das Volk (עלה ‘lh Ex 19,3.12.13.18.20.23.24), sowie das „Herabsteigen“ Jhwhs auf den Berg und Moses vom Berg (ירד jrd Ex 19,18.20.21.24.25). In ähnlicher Weise lässt der Satz „Ermüdet kam der König mit allem Volk, das bei ihm war, an, und er schöpfte dort Atem“ (2Sam 16,14) auf die Länge des zurückgelegten Weges schließen (Bar-Efrat 2006).

2.7. Itinerare, Ortslisten und Wegstationen

Im Zusammenhang von Reisen werden Orte meist nur als Wegstationen erwähnt: „Von Kibrot Hattaawa brach das Volk auf nach Hazerot; und sie waren in Hazerot“ (Num 11,35). Über die Beschaffenheit, Größe oder Anord¬nung der Orte wird keine Aussage gemacht (vgl. auch Num 33,17f; Dtn 1,1). Eine Vorstellung des Ortes Hazerot entsteht durch die Erzählung Num 12,1-16: Für Israel ist Hazerot der Ort, an dem → Mirjam und → Aaron Mose kritisieren und Mirjam aussätzig wird. Mit Israels Aufenthalt in Hazerot werden weitere Räume verbunden: Israels Lager, das Zelt der Begegnung (Num 12,4-5.10), sowie ein Bereich außerhalb des Lagers (Num 12,14-15). „Die Bibel entwickelt eine theologische Geographie, indem sie die theologische Sinnspitze eines bestimmten Ereignisses oder einer Erzählung in ihrem jeweiligen Ort verdichtet, und später dann diesen Sinn sozusagen über die Ortsangabe in neue Texte einspielen oder dort als Signal benutzen kann.“ (Dohmen 1998)

Die → Grenzen des versprochenen Landes werden in verschiedenen Texten durch Ortslisten festgelegt, die jedoch stark variieren. Gen 15,18 gibt → Nil und → Euphrat als Grenzen des Landes an (vgl. 1Kön 5,1), eine Maximalausdehnung, die zu keiner Zeit historisch zutreffend war. Keel / Küchler / Uehlinger (1984) weisen nach, dass solche von Südwest nach Nordost orientierten Grenzangaben Israel analog zur Ausdehnung Ägyptens imaginieren, während die von Nordost nach Südwest orientierten die Perspektive einer mesopotamischen Großmacht einnehmen (1Kön 5,4; Jes 27,12). Die meisten Grenzlisten beschreiben somit keine historische Realität, sondern wollen die Verlässlichkeit der Landverheißung zum Ausdruck bringen. Diese Intention kann durch die Fokussierung des Landes über den Blick eines Protagonisten verstärkt werden: In Gen 13,14 fordert Gott → Abram auf, in alle Himmelsrichtungen zu blicken und so die Landgabe zu bezeugen (vgl. Dtn 34,1-4). Das Abschreiten des Landes kann die Inbesitznahme symbolisch zum Ausdruck bringen (Gen 12,6-9; Gen 13,17; Dtn 11,24).

2.8. Mental map

Aus der Synthese von Wegen, Orten und Handlungen innerhalb eines biblischen Textkomplexes kann eine „kognitive Karte“ (Downs / Stea 1985) entstehen, mit der Leserinnen und Leser sich innerhalb eines Textes räumlich orientieren. Solche „mental maps“ sind keine Erfindung der modernen Leseforschung. Beate Pongratz-Leisten (2001, 261f) stellt für Mesopotamien fest: „… der Mensch [strukturiert] den ihn umgebenden Raum und konstruiert Landschaften (mental maps) und Weltbilder, die in den unterschiedlichsten Medien vermittelt werden, der Architektur, des Bildes, des Textes und des Rituals“. Egbert Ballhorn (2011, 93) deutet das Buch → Josua als Mental Map: „Es ist die Repräsentation des Land- und Selbstkonzepts Israels in sprachlich-narrativer Form […]. Im Duktus seiner Erzählung wird nicht einfach die Landschaft und Topographie des Landes Israel wiedergegeben, sondern normativ dargestellt, mit Erinnerungen und Gedenkzeichen aufgeladen.“

3. Henri Lefebvre / Edward W. Soja

Die US-amerikanische Diskussion um „Spatiality“ (Raumverständnis) hat sich im Umfeld der SBL / AAR-Konferenzen entwickelt (vgl. Berquist / Camp 2007 und 2008). Sie wird durch die Rezeption der Raumtheorie des marxistischen Soziologen Henri Lefebvre dominiert. Dessen Werk „Production de l’espace“ (Französisch 1974; Englisch 1991) wird in den USA insbesondere über die Interpretation des Geographen Edward Soja rezipiert, da dessen Interpretation Lefebvres bereits 1989 in englischer Sprache erschienen ist.

Lefebvre begreift Raum als Resultat gesellschaftlicher Produktionsprozesse, das analytisch als Zusammenwirken dreier Dimensionen erfasst werden kann: Die erste Dimension beschreibt Raum als „perceived space“ („l’espace perçu“), als körperlich erfahrenen Raum, der durch nicht-reflexive räumliche Praxis entsteht und reproduziert wird. Die zweite Dimension, der „conceived space“ („l’espace conçu“), ist die kognitive Erfassung von Räumen in Form von Modellen und Plänen. Von dieser konzeptionellen Perspektive grenzt Lefebvre die Dimension subjektiver Bilder und symbolischer Bedeutungen ab, „lived space“ („l’espace vécu“) oder „spaces of representation“. Diese dritte Dimension kann die dominierende gesellschaftliche Raumpraxis oder -ordnung unterlaufen, da sie mit der versteckten, untergründigen Seite sozialen Lebens und der Kunst verbunden ist.

Edward Soja (1989) greift die Triade Lefebvres mit den Begriffen Firstspace, Secondspace und Thirdspace auf und weitet insbesondere das Konzept des Thirdspace aus. Gegenüber dem physisch erfahrbaren Raum (Firstspace) und den durch die herrschenden Machtverhältnisse bestimmten Raumordnungen (Secondspace) begreift er den Thirdspace aus der Perspektive der Marginalisierten als Raum des Widerstandes, der durch „radikale Offenheit“ und „wimmelnde Bilder“ charakterisiert sei (68).

3.1. Gen 1 als Beispiel für die Anwendung der Raumtheorie Henri Lefebvres / Edward Sojas

Das Ineinandergreifen der drei Raumdimensionen Lefebvres kann gut am Beispiel von Gen 1 verdeutlicht werden. Die Überschrift: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ (Gen 1,1) lenkt die Aufmerksamkeit auf den konzeptionellen Anspruch des Textes, der über Lefebvres zweite Raumdimension, den „conceived space“, erfasst werden kann. Der Merismus „Himmel und Erde“ (vgl. Gen 2,1.4; Dtn 3,24; Dtn 5,8; Dtn 10,14) steht für die ganze Welt. Deren Entstehung wird als Erschaffung des Raumes dargestellt: Nach der Scheidung von Licht und Finsternis (Gen 2,2-5), die die visuelle Wahrnehmung des Raumes ermöglicht, wird der Raum durch die Begrenzung der Urflut geformt, so dass trockenes Land entsteht (Gen 2,6-10). Erst durch die Erschaffung der Pflanzen (Gen 2,11-13) und Tiere (Gen 2,20-25) wird der Raum zum Lebensraum der Menschen, welche die Schöpfung als Letzte betreten (Gen 2,26-31). Entscheidend für die hier präsentierte Raumkonzeption ist, dass alle Bereiche der Welt, ebenso wie die Lebewesen, die sie bevölkern, Geschöpfe Gottes sind und nicht etwa eigene Gottheiten wie die babylonischen Gestirn- oder Wassergottheiten (bes. Gen 2,14-19). Die Positionierung dieses priesterschriftlichen Weltbildes am Anfang des Alten Testaments legt nahe, es als hermeneutischen Schlüssel für die weiteren Texte zu lesen. Dennoch kann eine „allgemein akzeptierte, systematisch aufgebaute Theorie über das Entstehen, den Aufbau und die Ausstattung des den Menschen umgebenden Kosmos“ für die biblischen Texte nicht vorausgesetzt werden (Houtman 1993, 283). Ein Text kann auf eines der bekannten Weltbilder Bezug nehmen, es implizit voraussetzen, neu entwerfen oder ohne eine umfassende Vorstellung der Welt auskommt. Für die Erzählung von → David und → Goliat (1Sam 17; s.o. 2.3.) zum Beispiel spielt es keine Rolle, ob das Wasser über und unter dem Himmel versammelt ist oder ob es in Form der Paradiesströme das Land bewässert.

In Gen 1 kann außerdem auf den „körperlich erfahrbaren Raum“ (Lefebvres erste Dimension) geschlossen werden. So scheint die Raumerfahrung der impliziten Leserinnen und Leser die Gefährlichkeit von Wasser einzuschließen, da dieses begrenzt werden muss (Gen 1,6-9), ganz im Gegensatz zum zweiten Schöpfungsbericht, in dem Regen die Bedingung für das Wachstum der Feldfrüchte ist (Gen 2,5) und der paradiesische Garten sich durch seinen Wasserreichtum auszeichnet (Gen 2,6.10-14).

Obwohl das priesterliche Weltbild von Gen 1 in der Rezeption der Bibel zum dominanten Modell geworden ist, kann dem Text entnommen werden, dass er im Kontext der babylonischen Schöpfungsmythen im Exil eine subversive Vision dargestellt haben muss. Diese Dimension kann mit Lefebvre und Soja als „Thirdspace“ gefasst werden, als ideeller Überlebensraum für die Exilierten in der babylonischen Dominanzkultur. So postuliert Gen 1 den israelitischen Gott als alleinigen Schöpfer der ganzen Welt (Gen 1,1) und erklärt die babylonischen Gestirngottheiten zu dessen unbelebten Geschöpfen (Gen 1,14-19). Gegen die babylonische Vorstellung, dass Götter- und Königsstatuen deren wirkmächtige Vergegenwärtigungen darstellen, entwirft Gen 1 die „demokratische“ Vision, dass alle Menschen, Männer und Frauen, wirkmächtige Bilder des einen Gottes sind (Gen 1,26f). Auch die menschliche Herrschaft über die Erde kann im exilischen Kontext ein widerständiges Bild dargestellt haben, das Einspruch gegen die babylonische Herrschaft erhebt. Die subversive Bedeutung geht jedoch verloren, wenn Gen 1 zum dominanten Weltbild wird. In diesem Fall ist das Dominum terrae als Element der zweiten, dominierenden Raumdimension Lefebvres zu deuten, gegen die moderne Initiativen für „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ subversive Metaphern des „Thirdspace“ entwerfen.

3.2. Ulrike Bail: „Die verzogene Sehnsucht hinkt an ihren Ort“

Die erste exegetische Monographie, in der die Raumkonzeption von Lefebvre und Soja aufgegriffen wird, stammt von Ulrike Bail. In ihrer Studie „‚Die verzogene Sehnsucht hinkt an ihren Ort‘. Literarische Überlebensstrategien nach der Zerstörung Jerusalems im Alten Testament“ (2004) zeichnet Bail nach, in welcher Weise biblische Texte (Mi 3,11-4,7 und → Threni) die Verarbeitung der Exilserfahrungen ermöglichen. Dabei greift sie insbesondere Sojas Konzept des „Thirdspace“ auf: „Im sog. Thirdspace stehen Erfahrungen und Leben im Mittelpunkt und ermöglichen es, Alternativen und Gegenräume zu den dominanten mental maps [die nach Soja zum Secondspace zu zählen sind, M.G.] zu entwerfen und zu leben“ (147). In diesem Sinne versteht Bail Mi 3,11-4,7 und Threni als „Texträume, die Alternativen gegen herrschaftsausübende Raumkonzepte ermöglichen“ (147). Die Klagelieder können darin Hoffnung eröffnen, dass sie der Abwesenheit Jhwhs im Text einen Raum geben, „in der verzweifelten Erwartung, dass JHWH mit einem Wort in den Textraum einziehen möge“ (145f). Mi 3,11-4,7 wird als imaginäre Topographie gedeutet, in der die Katastrophe und die ersehnte Wende zugleich ihren Raum im Text finden. Für die als Hintergrund von Threni und Mi 3,11-4,7 angenommene Situation äußerster Machtlosigkeit kann Bail zeigen, wie die widerständigen Metaphern des „Thirdspace“ an der Möglichkeit einer Wende festhalten.

3.3. Christl M. Maier: Daughter Zion, Mother Zion

Christl M. Maier legt ihrer Monographie „Daughter Zion, Mother Zion“ (2008) die Raumtheorie Lefebvres zugrunde, die sie durch Erkenntnisse der Metapherntheorie und feministischer Körperdiskurse ergänzt, um die Bedeutung der weiblichen Personifikation Zions als Mutter / Tochter und als Ort aufzuschließen. Maier greift die drei Raumdimensionen Lefebvres auf und spitzt sie ihrem Thema entsprechend zu. Da der „körperlich erfahrbare Raum“ („perceived space“) für die metaphorischen Zionstexte nicht zu erschließen ist, analysiert Maier unter dieser Überschrift die materielle Gestalt des Ortes Zion als topographische Rahmenbedingung der körperlichen Raumerfahrung. Die nichtreflexive räumliche Praxis, die Lefebvre dieser Dimension ebenfalls zuordnet, kann aus den Zionstexten nicht erhoben werden. Lefebvres zweite Dimension des „conceived space“ wird von Maier als ideologisch geprägte Raumordnung verstanden und insbesondere auf die Zionstheologie bezogen, die den Berg Zion als Thronsitz Gottes verstand, als Ort der Vermittlung zwischen Jhwhs Präsenz über der Lade im Tempel und seinem Thron im Himmel. Das Scheitern dieser Ideologie durch die Zerstörung des Tempels kommt nach Maier in den Klageliedern oder in den Bildern der Vergewaltigung Zions zum Ausdruck (Ez 16; Ez 23), die sie als antithetischen „conceived space“ auffasst. Erst die spät- und nachexilischen Texte Deutero- und Tritojesajas entwerfen eine neue Vision Zions als beschützende Mutter und Pilgerort (Jes 54,1-3; Jes 66,7-14), die jedoch, anders als die Zionstheologie, immer die Erinnerung an die Verletzlichkeit in sich trägt.

Im Blick auf Lefebvres dritte Dimension des „lived space“ fragt Maier nach der konkreten Raumerfahrung, die aus den biblischen Zionstexten erschlossen werden kann. Für die vorexilischen Psalmen Ps 46 und Ps 48 kann auf eine räumliche Praxis geschlossen werden, die Gotteslob, Rituale und Prozessionen einschließt. Dagegen spiegelt die aus Threni erhebbare Raumerfahrung die Zerstörung Jerusalems und die Traumatisierung der Bevölkerung, die diese Stadt dennoch nicht aufgeben möchte. Die Texte Deutero- und Tritojesajas lassen diese Raumerfahrung noch erahnen und transformieren sie zugleich mit neuen Zionbildern wie der geliebten Ehefrau und Königin (Jes 54,1-17).

Maier zeichnet nach, wie sich die einschneidende Veränderung des Exils in die Zionstexte einschreibt. Der personifizierte Raum Zion erweist sich als so wandelbar, dass er erlebte Schrecken und erneuerte Hoffnung in sich aufnehmen und transformieren kann.

3.4. Mark K. George: Israel’s Tabernacle as Social Space

Mark K. George untersucht in seiner Studie „Israel’s Tabernacle as Social Space“ die Heiligtumstexte in Ex 25-31 und Ex 35-40 auf der Basis der drei Raumdimensionen Lefebvres. George betont ein anderes Element des „perceived space“ als Maier: Nicht die Topographie, sondern die „räumliche Praxis“ steht im Zentrum seiner Untersuchung. George hebt die erforderlichen Handlungen zum Bau des Zeltheiligtums hervor und kann so das Wüstenheiligtum als sozialen Raum, als Produkt einer raumschaffenden Praxis deuten. Diese Praxis ist auf die in den Texten konzipierte Raumvorstellung angewiesen – George spricht anstelle von „conceived space“ darum von „conceptual space“. Die priesterliche Raumkonzeption wird als System gedeutet, das auf den drei Konzepten „Gemeinde“ (עֵדָה ‘edāh), „Abstammung“ und „Erbfolge“ basiert. Über die Zugehörigkeit zur Gemeinde, zur Familie (bzw. zum männlichen Teil der Familie) der Aaroniden und über das erbliche Amt des Hohepriesters wird der Zugang zum Heiligtum geregelt. Die zunehmende Begrenzung des Zugangs korrespondiert mit zunehmender Heiligkeit und abnehmender Häufigkeit der mit diesen Räumen verbundenen Rituale.

Die dritte Raumdimension („lived space“ bzw. „spaces of representation“ bei Lefebvre) wird von George als „symbolischer Raum“ gedeutet, der erfasst, wie gesellschaftlicher Raum soziale Bedeutung gewinnt. Aus exilischer Perspektive ist für George zum einen bedeutsam, dass in dieser Heiligtumskonzeption die Institution des Königtums fehlt, so dass ein zukünftiges Überleben des Gottesvolkes nicht von einem König abhängig ist. Zum anderen wird Israels Gottheit ein beweglicher Ort zugeschrieben, der immer wieder neu entstehen kann. Die symbolische Bedeutung der Heiligtumskonzeption liegt für George in der Durchlässigkeit für die priesterliche Kosmologie, da die sozialen Kräfte der Schöpfung in der organisatorischen Logik und in der Partizipation am Bau des Heiligtums präsent seien. Mit den Heiligtumstexten des Buches Exodus ist es den priesterlichen Schreibern nach George gelungen, dem Volk Israel einen Raum für das Überleben im Exil zu entwerfen, der Israel ermöglichte, seinen sozialen Raum und damit seine soziale Identität immer wieder neu zu erschaffen.

Mit dieser Deutung der Heiligtumstexte als Überlebensraum, der Sojas Thirdspace entsprechen würde, liegt George nahe bei Bails Deutung von Mi 3,11-4,7 und Threni. Im Verhältnis zu Maiers Studie wird die unterschiedliche Rezeption der dritten Raumdimension Lefebvres deutlich: Nach Maiers Interpretation müsste die priesterliche Kosmologie als „conceived space“ erfasst werden, während die dritte Kategorie als „lived space“ anstelle der symbolischen Bedeutungen stärker die konkreten Lebensbedingungen im Exil fokussieren würde. Georges Rezeption Lefebvres erklärt sich mit Blick auf die untersuchten Texte des Exodusbuches, aus denen kaum konkrete Erfahrungen des „lived space“ im Exil zu erheben sind.

4. Martina Löw: Raumsoziologie

Die deutsche Soziologin Martina Löw definiert Raum als „relationale (An)-Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten“ (2001, 271). Mit dieser Definition überwindet sie das Verständnis des Raums als „container“, in dem Menschen leben und handeln. Vielmehr entsteht Raum erst dadurch, dass Menschen etwas anordnen, also durch raumschaffende Handlungen wie Errichten, Bauen oder Positionieren. Diesen Prozess bezeichnet Löw mit dem Begriff Spacing. Zum Raum wird eine räumliche Anordnung jedoch erst, wenn sie mit einer Raumvorstellung verknüpft wird. Diesen Wahrnehmungsprozess nennt Löw Syntheseleistung. Beide Prozesse werden durch soziale Konventionen bestimmt: Menschen reproduzieren bekannte räumliche Anordnungen durch ihr Handeln, und sie erfassen Anordnungen als Räume, die ihnen vertraut sind. Räume können zu Institutionen werden, wenn sie habitualisierte Verhaltensmuster hervorrufen. Eingeübt werden solche Verhaltensmuster durch Routinen, durch repetitives Handeln. Als Institution kann ein Raum dann verstanden werden, wenn seine Existenz „über das eigene Handeln hinaus wirksam bleibt und genormte Syntheseleistungen und Spacing nach sich zieht“ (2001, 164).

Der Raumbegriff Löws hat durchaus Ähnlichkeit mit der Triade Lefebvres: Mark George interpretiert den „perceived space“ im Sinne eines Spacings, während sein Verständnis des „conceived space“ Löws „Syntheseleistung“ sehr nahe kommt. Auch die dritte Raumdimension Lefebvres kann als „Syntheseleistung“ verstanden werden, wenn kein raumtheoretischer Unterschied zwischen „ideologischer Raumkonzeption“ und „widerständiger Raumkonzeption der Marginalisierten“ gemacht wird.

Martina Löws Raumtheorie eignet sich insbesondere zur Erschließung von Texten, deren Raumkonstitution handlungs- und körperorientiert ist. Dagegen ist die Theorie weniger für die Analyse metaphorischer Texte geeignet.

4.1. Michaela Geiger: Gottesräume

In ihrer Studie „Gottesräume. Die literarische und theologische Konzeption von Raum im Deuteronomium“ (2010) verbindet Michaela Geiger erzähltheoretische Zugänge mit der Raumsoziologie Martina Löws. Die erzähltheoretische Analyse des → Deuteronomiums ermöglicht es, zwei Kommunikationsprozesse zu unterscheiden: Die deuteronomische Erzählstimme wendet sich an ihre impliziten Leserinnen und Leser (Dtn 1,1-5; Dtn 4,41-5,1; Dtn 34,1-12) und erschafft die erzählte Welt, in der Mose zu dem in → Moab versammelten Volk Israel spricht. Die literarische Konzeption des Deuteronomiums ist eine räumliche: Die erzählte Gegenwart, der eine deuteronomische Tag, ist mit einem einzigen Schauplatz verbunden, jenseits des Jordan, im Land Moab (Dtn 1,5). An diesem Ort blickt Mose auf den vierzigjährigen Weg aus Ägypten, zum Horeb und durch die Wüste zurück (Dtn 1,19.31; Dtn 8; Dtn 9,7-10,11) und auf das zukünftige Leben im versprochenen Land voraus (Dtn 12-26). Die deuteronomische Raumkonzeption entsteht nicht durch Beschreibungen, sondern basiert auf Substantiven (Toponymen, Gebäuden und Körperteilen), die formelhaft mit Verben verbunden sind. Mit Hilfe der Raumsoziologie Martina Löws verdeutlicht Geiger, wie die deuteronomische Raumkonzepte durch Spacing und Syntheseleistungen entstehen.

Der hebräische Begriff Haus schließt immer eine Syntheseleistung ein: בֵּית bêt bezeichnet das Gebäude und die Hausgemeinschaft. Das deuteronomische Raumkonzept Haus gehört nicht zur erzählten Gegenwart des Deuteronomiums in Moab. In Zukunft soll es im versprochenen Land durch Spacing entstehen, als Gebäude (Bauen des Hauses mit einem Dachgeländer; Dtn 22,8) und Gemeinschaft, die neben den angesprochenen erwachsenen Frauen und Männern Söhne, Töchter, Sklavinnen und Sklaven einschließt (vgl. Dtn 12,7 mit Dtn 12,12). Durch Syntheseleistungen werden Gebäude und Gemeinschaft verbunden. Die Integration eines Sklaven in die Hausgemeinschaft (Dtn 15,16) wird am Türpfosten des Hauseingangs (Dtn 15,17) vollzogen (vgl. analog den Ausschluss aus der Gemeinschaft Dtn 22,20.21). Vor allem aber soll die Synthese des Raumkonzepts Haus durch Jhwhs Handeln in der Vergangenheit geprägt sein: Israel kann nur in Häusern leben, weil Jhwh das Volk aus dem Sklavenhaus befreit hat (Dtn 6,11f; Dtn 8,12-14). Durch die tägliche Wiederholung soll diese Verbindung eingeübt (Dtn 6,5) und buchstäblich mit dem Eingang des Hauses verbunden werden (Dtn 6,9). Bei den regelmäßigen Feiern am Ort, den Jhwh erwählen wird (Dtn 12,5), soll jede Hausgemeinschaft die Freude über die erworbenen Güter genießen und Gott als deren Urheber anerkennen (Dtn 12,7). Geiger analysiert das Ineinander von Spacing und Syntheseleistung, göttlichem und menschlichem Handeln für alle deuteronomischen Raumkonzepte. Auch die Körperräume Herz, Hand, Augen werden mit Löw als Raumkonzepte aufgefasst. Sie sind Orte von Platzierungen (Dtn 6,4-9), werden durch Syntheseleistungen gedeutet (vgl. die Befreiung durch die starke Hand Jhwhs; Dtn 11,2) und können selbst Subjekte raumschaffender Vorstellungen und Handlungen sein (Dtn 15,7-11).

Die Textpragmatik des Buches Deuteronomium zieht die Leserinnen und Leser in diese Raumkonzeption hinein: Sie entwickeln Empathie mit Mose, der das versprochene Land nicht betreten darf (Dtn 3,23-28; Dtn 34,1-8) und werden durch die Ansprache in der 2. Person („Höre, Israel“; Dtn 5,1; Dtn 6,4) mit Moses Adressatinnen und Adressaten identifiziert. Während sich das textinterne Volk „jenseits des Jordan befindet“ (Dtn 1,1.5; Dtn 4,46 u.ö.), werden die impliziten Leserinnen und Leser von der Erzählstimme diesseits des Jordan, im versprochenen Land, verortet und sind somit in der Lage, ihre Umgebung entsprechend der deuteronomischen Gebote in Dtn 12-26 zu gestalten. Die Empathie mit Mose ermöglicht exilischen Leserinnen und Lesern die Bewältigung ihrer Situation. Die Identifikation mit dem textinternen Volk in Moab eröffnet die Hoffnungsperspektive, den Jordan (wieder) zu überqueren (Dtn 9,1), so dass die deuteronomischen Raumkonzeption nach dem Exil im versprochenen Land erneut in Geltung kommen kann (Dtn 30,1-5).

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