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Prozession

(erstellt: Mai 2010)

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Prozession (lat. processio „Vorwärtsschreiten“) meint ein in der Regel mit einem Festtag verbundenes, öffentliches → Ritual, in dessen Zentrum der feierliche Umzug einer mehr oder weniger großen Menschengruppe steht. Im Alten Orient wurden Prozessionen meist als theophore Prozessionen begangen, d.h. es wurden → Götterbilder mitgeführt und präsentiert (zur hethitischen Sonderform vgl. Boehmer; Haas, 748ff.), die im → Tempel aufgestellt waren und dort in → Ritualen kultisch verehrt wurden (z.B. Begrüßung; Waschung; Ankleidung) sowie → Opfer zur Versorgung oder im Zuge der Anbetung (→ Proskynese) empfingen. Die Götterbilder wurden als Repräsentationen der jeweiligen Gottheit angesehen (Uehlinger, 872). Ihre Zurschaustellung hatte somit den Charakter einer → Epiphanie. Die Götterprozession ist also von feierlichen Umzügen, die ohne Kultbild vorgenommen werden, zu unterscheiden (→ Wallfahrt).

1. Alter Orient

1.1. Mesopotamien

1.1.1. Götterprozessionen im Festzyklus

Prozession 1
Im Zuge eines komplexen, mehrere Tage andauernden Festrituals war ein mesopotamisches Kult- bzw. → Götterbild dazu bestimmt, in einer Prozession den Tempel zu einem festgesetzten Termin mitunter auf Wagen oder Schiffen zu verlassen und öffentlich zur Schau gestellt zu werden (Boehmer, 479 mit Literatur). B. Pongratz-Leisten beschreibt die Funktion der Götterprozession als „Popularisierung von Theologie“, denn sie ist „als einziger ritueller Vorgang dem normalen Betrachter aus dem Volke zugänglich; daraus folgert: Prozession ist als optisches Medium zur Vermittlung von theologischer Information an das Volk geradezu prädestiniert“ (115). Während das alltägliche Ritual wie die Festrituale im Tempel unter Ausschluss der Öffentlichkeit durch das Kultpersonal vollzogen wurden, bekam im Zuge von Prozessionen das Volk die Möglichkeit, einer Gottheit in ihrem Repräsentationsbild zu begegnen und ihr persönlich zu huldigen. In dem wohl bekanntesten Prozessionsfest, dem für das 1. Jahrtausend besonders prunkvoll überlieferten Neujahrsfest (→ Akitu-Fest), wurden nicht nur die Hauptgötter des jeweiligen lokalen babylonischen bzw. assyrischen Pantheon (→ Marduk bzw. → Assur) verehrt und rituell vergegenwärtigt, sondern auch die aus den Provinzen eigens „angereisten“ Gottheiten (Pongratz-Leisten, 11.115-143; vgl. zu den verschiedenen assyriologischen Zuordnungen des Fests auch Körting, 199-204 mit Literatur und Zgoll, 2006, 16f).

Neben den Prozessionen belegen die mesopotamischen Traditionen vor allem in der sumerischen Literatur die Institution der Götterreisen oder Besuchsfahrten der Götter nach Nippur oder Eridu zu den beiden Hauptgöttern Enlil bzw. Enki (Sjöberg). Die Götterreisen im Kontext des babylonischen Akitu-Festes galten indes Marduk. Sie dienten dazu, die rituellen wie die politischen Bindungen der übrigen Städte im Bezug auf die Hauptstadt zu aktualisieren und somit die Peripherie an das Zentrum zu binden (Pongratz-Leisten, 9-11).

Die hohe Bedeutung der Prozession am 8. Festtag wie der Zurschaustellung Marduks und des mit ihm identifizierten Königs sowie anderer Göttinnen und Götter (dazu Zgoll, 2006, 30-38. 61f) lässt sich mitunter aus dem Stadtplan von → Babylon z.Zt. → Nebukadnezars II. ersehen. Dieser Stadtplan war nämlich in seinem ganzen Aufriss von der aufwendig gestalteten Prozessionsstraße geprägt, die vom Marduk-Hochtempel ausgehend durch das Ischtartor zu einem extra muros gelegenen Festhaus führte (Oates, 152-156; Pongratz-Leisten, 13ff).

1.1.2. Götterprozessionen im Kontext von Götterbildherstellung und -restaurierung

Neben den Festtagsprozessionen gab es Götterprozessionen auch im funktionalen Kontext der Götterbildherstellung bzw. -restaurierung oder -ausschmückung an bestimmten Festen. Wie es sich schon bei der Fertigung und Einweihung von → Götterbildern um rituell begleitete Prozesse handelte, so stellte auch die Überführung bzw. Rückführung einer Statue von der Tempelwerkstatt in die Tempelcella keinen profanen „Transportakt“ dar. Vielmehr handelt es sich – wie mit Hilfe von Ritualtexten (z.B. BM 45749: 5f-60) rekonstruierbar – um einen aus vier verschiedenen Stationen bestehenden Prozessionsweg, der von der Werkstatt zum Fluss (1), vom Fluss in die „Rohrhütten des Gartens“ (2), vom Garten zum Tor des Tempels (3) bis hin zur Cella (4) führte (Berlejung, 1998, 208ff., 271-275). Bis auf die dritte Etappe, deren Weg die Stadt durchquerte und somit öffentlich war, fand diese Art der Prozession weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.

Pongratz-Leisten setzt eine ähnlich funktionale Erklärung für die Mardukprozession im Zuge des Akitu-Festes zum außerhalb der Stadt gelegenen Festhaus voraus, nämlich anlässlich der rituellen Tempelreinigung im Laufe des Neujahrsfestes: „Der kultische Sinn und Zweck eines Festhauses, d.h. die utilitas (Nutzungsfunktion), besteht darin, für den Gott anläßlich des Zeitpunktes der Großreinigung seines Hauptwohnsitzes eine angemessene Übergangslösung zur Verfügung zu stellen, in der er mehrere Tage verbringen kann. … Solche großen Reinigungsfeste dienen gleichermaßen der Reinigung von Tempel und Kultbild wie auch dem ‚Wegschaffen dämonischer Unheilsmächte und Unheilsstoffe’.“ (Pongratz-Leisten, 74 mit Referenz auf Burkert, 358).

1.2. Ägypten

Auch die ägyptischen Prozessionsfeste sind vom täglichen Tempelritual zu unterscheiden: 1) findet der alltägliche Kult unter Ausschluss der Öffentlichkeit im Inneren des Tempels statt; 2) bezieht er sich auf ein ruhendes, d.h. ortsgebundenes Kultbild; 3) folgt er stets einer gleich bleibenden Routine; 4) entspricht alltäglicher Kult einem Tauschgeschäft (do ut des) im Sinne einer „gemeinschaftsstiftenden Kraft der Gabenzirkulation“ (Assmann, 106). Die ägyptischen Prozessionsfeste wurden – im Unterschied zu den an den Tempeln begangenen Monatsfesten – jährlich begangen. Dass sie konstitutiv zum Tempelkult gehörten, lässt sich u.a. aus der flächendeckenden Existenz von Barken neben dem Kultbild in den Tempelkomplexen ersehen (Kitchen, 619f).

Die Barke fungierte – ähnlich den Götterstandarten – als eigens geschaffenes Prozessionsbild des jeweiligen Gottes (Arnold, 1962). Die numinose Kraft der Barke lässt sich an der Institution des Barkenorakels ablesen, das seit der Ramessidenzeit zu einem festen Bestandteil der Prozessionsfeste wurde. In dem Akt von deduktiver → Divination ergreift der Gott selbst die Initiative, tut seinen Willen kund und entscheidet Rechtsfälle durch Bewegungen der Barke, die in den Texten als „vorrücken, zurückweichen, nicken“ umschrieben sind (Assmann, 108.120).

Prozession 4

Die Prozessionen sind nicht nur die sichtbare Manifestation eines Gottes durch sein Erscheinen, sie gehören außerdem zu dem wichtigsten Medium königlicher Repräsentation, da sie dem jeweiligen König Ägyptens (→ Königtum in Ägypten) in seiner theologischen Stellung Gelegenheit geben, sich dem Volk zu zeigen und Ort öffentlichen Handelns zu sein (Assmann, 110.113; s. z.B. das thebanische Treppenfest des Min oder das Sokarfest). Die Formen und Bedingungen von Prozessionen haben im Laufe der Zeit auch Einfluss auf die Tempelgrundrisse und die urbanen Strukturen genommen. Angesichts der großen Bedeutung der thebanischen Prozessionsfeste seit der 18. Dynastie des → Neuen Reichs (Assmann, 111-113; Stadelmann, 38ff. 1161f) dient der Tempel in Karnak als vorzügliches Beispiel. Der aus der Zeit Sesostris I. (1994-1929; Mittleres Reich) stammende und unter dem Namen „weiße Kapelle“ bekannte Pfeilerkiosk diente zum Abstellen der Barke im nicht öffentlichen Tempelbereich: Seit dem Neuen Reich entstanden innerhalb des Tempelbezirks von Karnak zahlreiche weitere Kapellen, Barkenstationen und -heiligtümer sowie der Ausbau der Hypostylenhalle (dem „Saal des Erscheinens [des Kultbildes]“) unter Sethos I. und Ramses II.

Prozession 5

Die Baumaßnahmen weisen darauf hin, dass es neben öffentlichen Prozessionen immer auch interne, auf den Tempelbezirk beschränkte Prozessionen gegeben hat, bei denen das Götterbild bzw. der Schrein innerhalb des Tempels bewegt wurde. Je weiter sich die Prozession nach außen bewegte, desto größer wurde die Beteiligung der Öffentlichkeit, was zum Bau großer Vorhöfe jenseits des Eingangspylon sowie zum Ausbau von Prozessionsstraßen (s. die spätzeitlichen Widdersphingen-Alleen) führte, die z.B. die für das Opetfest wichtigen Tempel in Karnak und Luxor miteinander verbanden (Arnold, 1992, 115-120; Stadelmann, 1161). Prozessionen fanden zu Land wie auch zu Wasser als Schiffsprozessionen (ẖnjt) statt.

2. Altes Testament

2.1. Die Ladeüberführung als Götterprozession?

Es gibt im Hebräischen keinen eigenen Begriff für (Götter-)Prozession. Der Vorgang wird wie das Tragen der → Lade mittels des Allerweltverbs nś’ „tragen“ umschrieben (vgl. Fabry / Freedman / Willoughby, 631).

In der Forschungsgeschichte ist die Ladeprozession wiederholt mit den altorientalischen Götterprozessionen verglichen worden. O. Keel widmet dem Thema in seiner Grundlagenstudie zur Bildsymbolik der Psalmen ein eigenes Kapitel (1984, 301-312), in dem er verschiedene Psalmenpassagen nennt, die s.E. auf sakrale Umzüge anspielen. Er unterscheidet dabei Prozessionen, in denen JHWH selber mitgeht (unter Nennung von Ps 24,7-10; Ps 47,6; Ps 68,19.25f; Ps 132), von → Wallfahrten bzw. Tempelbesuchen, bei denen das Volk zum Heiligtum zieht. Letztere – wie auch der in Jes 35,8; Jes 40,3-4 angekündigte Auszug Israels aus dem Exil – sind von dem Topos der Götterprozession deutlich zu unterscheiden, da es hier die Anhänger sind, die sich fortbewegen, ohne dass von einer begleitenden Gottheit bzw. ihrer Präsentation die Rede wäre. Doch auch bezüglich der erstgenannten Stellen finden sich kritische Stimmen (zusammenfassend Duff, 471; Gertz, 592f; Berlejung, 2003, 32f). Keel erhob seine Deutung aus dem Bericht von der Überführung der Lade nach Jerusalem (2Sam 6; 1Kön 8; vgl. auch Jos 6; → Ladeerzählung), die er unter dem besonderen Vorzeichen einer kultbildlosen Analogie zur altorientalischen Götterprozession sah, welche vermutlich mit dem israelitischen → Neujahrsfest (Volz) oder einem alten Thronbesteigungsfest JHWHs (→ Thron; → Mowinckel) in Beziehung zu setzen ist (Keel, 1984, 301; vgl. van der Toorn, 339-343). Er räumte aber zuletzt in einer umfassenden Studie ein, dass die Rekonstruktion eines jährlich begangenen Ladefestes im Herbst, in dessen Kontext eine Prozession hätte stattfinden können, einschlägiger Quellen entbehrt (Keel, 2007, 217f; eine kritische Einschätzung findet sich auch bei Körting, 202f).

Darüber hinausgehend lassen sich noch zwei strukturelle Einwände benennen: Erstens handelt es sich bei der Ladeüberführung um ein einmaliges Ereignis, nämlich die Überführung von einem außerhalb gelegenen Kultplatz in die neu zu gestaltende Metropole Jerusalem (McCarter, 180f). Diese Überführung hatte zwar durchaus sakralen Charakter (vgl. Stolz, 215f; s. oben 1.2.2), daraus aber zu schließen, dass es sich bei dem Ritual um eine jährlich gefeierte Festprozession der Jerusalemer Kulttradition handelte (so auch Stolz, 217), ist textlich nicht belegbar.

Zweitens beschreiben die Belege in den Psalmen eine den altorientalischen Texten gegenläufige Ritualrichtung. Sie behandeln nämlich keine Prozession, die vom Inneren des Tempels in den öffentlichen Raum führt, sondern Wallfahrten der Anhänger JHWHs zum Tempel (bzw. in Ps 68,25 den Einzug JHWHs in den Tempel). Somit wäre der eigentliche Sinn einer Götterprozession verfehlt, der ja darin bestand, ein sonst unzugängliches Götterbild seinen Anhängern zu präsentieren (vgl. auch Berlejung, 2003, 33).

Zuletzt wurde die Frage nach der Lade als Prozessionsutensil neu angestoßen im Kontext der Diskussion, ob es im Jerusalemer Tempel ein Kultbild JHWHs gegeben hat. Sollte ein Kultbild existiert haben, müsste man sich eine JHWH-Statue auf einem Kerubenthron sitzend vorstellen (→ Keruben), zu dem die Lade als Fußschemel (Ps 132,7 u.a.; zur Kritik vgl. Janowski, 1993, 261-269) bzw. als Thronsockel zu denken wäre (2Kön 6,23-28; vgl. 2Kön 8,6f.; so Zwickel, 1999, 105-107). Anders äußert sich Keel (2007, 292-305; bes. 294.301), der die LXX-Überlieferung von 2Kön 6,16-18 für ursprünglich hält, nach der die Lade nicht im Allerheiligsten, sondern in einem Seitenraum stand, was gegen eine Verbindung von Lade und Kerubenthron späche. In Anlehnung an Zwickels Deutung postuliert Köckert, dass die Lade frei nach ägyptischem Vorbild (s.o. Abb. 3) „als tragbarer Schrein – oder wahrscheinlicher – als transportabler Sockel für die Kultstatue des thronenden Jahwe bei Prozessionen gedient“ habe (Köckert, 2009, 397f.). Biblische Textbelege lassen sich dafür aber nicht beibringen, und die Annahme der Verehrung JHWHs in einem Kultbild bleibt äußerst umstritten (→ Bilderverbot § 6).

Die in Ez 1,15-21 geschilderte Thronwagenvision erinnert zwar an ein Prozessionsgefährt nach mesopotamischem Vorbild, wird aber späterer Redaktion zugeschrieben (Gertz, 393) und dürfte eine an vorausgehenden mesopotamischen Traditionen orientierte Vorstellung „zitieren“. Berlejung nennt als weiteres Beispiel für eine Götterprozession funktionalen Charakters (s. 1.1.2) 1Kön 12,26-33, den Bericht von der Herstellung bzw. Restaurierung der → Stierbilder durch → Jerobeam I. und ihrer Überführung nach → Bethel und → Dan (Berlejung, 1998, 331f).

2.2. Polemik gegen Götterprozessionen

Prozession 6
Im Alten Testament ist mehrfach polemisch von Götterprozessionen die Rede und zwar im Kontext der Götterbildpolemik: Ps 115,7 beschreibt Kultbilder als Werk von Menschenhand. Götter sind demnach menschengestaltige Nachbildungen, die weder Mensch noch Gott sind, sich somit durch Leb- und Nutzlosigkeit auszeichnen und einen bloßen Materialwert darstellen, der aber jeder eigenen Wirkmächtigkeit entbehrt (Zenger, 284). Jes 45,20b – häufig als redaktioneller Zusatz angesehen – stellt das Thema der Einzigkeit JHWHs ins Zentrum und kontrastiert diesen Gedanken mit der Unsinnigkeit der Bilderverehrung. Dargelegt wird diese Einschätzung am Beispiel des Götterbildtransports oder gar der Prozession: Götterbilder können in der Not – im Gegensatz zu JHWH – nicht retten (Hermisson, 78). In der umfassenden Kultbildkritik von Jes 46 ist in V. 1-7 im Zuge einer Untergangsschilderung der Sturz der babylonischen Götter und ihr Abtransport in die Gefangenschaft vorausgesagt (→ Bilderverbot § 3.2), ein Motiv, das auch aus ikonographischen und inschriftlichen Darstellungen Mesopotamiens bekannt ist.

Die große Prunkinschrift → Sargons II. beschreibt diesen Vorgang im Zuge der assyrischen Syrien- und Palästinafeldzüge wie folgt (Chorsabad; 8.Jh.; vgl. Borger, 384):

104 … Asdod, Gimtu und Asdod-jam 105 belagerte und eroberte ich. Seine Götter, seine Gattin, seine Söhne, seine Töchter, 106 seine Habe, seinen Besitz, den Schatz seines Palastes nebst den Einwohnern seines Landes 107 zählte ich als Beute.

Die Nabonid-Stele, Zeile 14-17 (Babel, ca. 680 v. Chr.; vgl. Borger, 407; → Nabonid) beschreibt eine Götterdeportation als eine Freveltat des babylonischen Königs:

1 Er (= König Nabonid) plante Böses. 2 Erweiterung des Landes 3 ersann sein Herz. Sünde 4 lud er auf sich. [Im] Herzen 5 [hegte er] kein Erbarmen. 7 Babels Heiligtümer 8 richtete er böse zu. Die Bildwerke 10 brachte er in Unordnung, 12 die Kultordnungen 13 richtete er zugrunde. 14 Die Hand des Fürsten Marduk 15 erfaßte er 16 und führte ihn ab 17 nach Baltilaa. 18 Gemäß dem Zorn des Gottes 19 verfuhr er mit dem Lande, 21 seinen Groll 20 löste er nicht.

Nach → Deuterojesaja ist es weder die Gefahr von außen noch das unbotmäßige Handeln des Königs als Gefahr von innen, die die Götterfiguren gefährden. Da der Theologe „den Göttern keine eigene Existenz außer im Wahn ihrer Verehrer oder eben in Gestalt von Götter‚gebilden’ zugesteht, stürzen die Götter mit ihren Bildern und werden abtransportiert“ (Hermisson, 106). Die von Menschen gemachten Götterbilder stechen durch mangelnde Wahrnehmungs- und Handlungsbezüge hervor: Sie müssen wegen ihrer Unbeweglichkeit vom Menschen bewegt werden, vermögen es nicht auf Anrede zu antworten und demonstrieren somit die Machtlosigkeit der Götter, die sie repräsentieren sollen. Jes 46,6f führt „die absurde Situation vor Augen, daß die Götter der Völker von ihren Verehrern getragen werden, während Jahwe die Seinen selbst trägt“ (Berlejung, 1998, 391).

Weiterhin greift Jer 10,5 das Thema auf. Die Darstellung der Götterbilder orientiert sich auch hier an ihrer Anfertigungsweise: Im Wald geschlagen und behauen (Jer 10,3b.8), werden sie verschönt und geschmückt (Jer 10,4a) bzw. in besondere Gewänder gehüllt (Jer 10,9), um auf einem Postament befestigt zu werden (Jer 10,4b). Auch hier steht wieder im Zentrum, dass sie nicht nur nicht kommunizieren können, sondern außerdem des äußeren Halts bedürfen, um nicht umzufallen, und von Menschen bewegt bzw. getragen werden müssen. Sie haben nichts Göttliches, sondern sind menschliche Artefakte (Schmidt, 220; Berlejung, 1998, 395f).

Bar 6,23-28 [= EpJer 23-28] erweitert die Kritik an der Regungslosigkeit der Götterbilder (Bar 6,38) um die Feststellung, dass sie keinen Lebensatem haben (Bar 6,24) und ihnen wie Toten Opfergaben vorgesetzt werden, die dann ihrerseits von den Priestern verkauft bzw. verzehrt werden. Die Gleichsetzung von Bilder- und Totenkult hat in Weish 14,12ff zu der Auffassung geführt, dass der Bilderkult aus dem → Totenkult bzw. → Herrscherkult abzuleiten ist (vgl. Kratz, 96f; Berlejung, 1998, 36 Anm. 193). Die Gleichsetzung ist zudem ein probates rhetorisches Mittel, um die Substanzlosigkeit und fehlende Wirkmächtigkeit der „toten Bilder“ zu unterstreichen.

Deutlich wird aus den Belegen, dass Götterbilder und ihre Zurschaustellung in der hebräischen Bibel nicht als → Epiphanien des Göttlichen, sondern als Illusionen von Menschen aufgefasst werden, die wahre Göttlichkeit nicht erkennen lassen. Die Götterprozession in ihrer Pracht und mit all ihrem Prunk, wie sie aus dem babylonischen Kulturkreis bekannt gewesen sein dürfte, ist zum diametralen Gegenbild der wahren JHWH-Erfahrung stilisiert.

Literaturverzeichnis

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Abbildungsverzeichnis

  • Das Ischtartor mit Prozessionsstraße in Babylon (6. Jh.; Rekonstruktion des Vorderasiatischen Museums, Berlin). Aus: Wikimedia Commons; © Rictor Norton, Wikimedia Commons, lizenziert unter CreativeCommons-Lizenz cc-by-2.0 + US-amerikanisch; Zugriff 30.10.2009
  • Babylon im 6. Jh. v. Chr.; 1: Neustadt; 2: Tempelbezirk Esagila; 3: Zikkurat / Tempelturm; 4: Mardukstraße; 5: Libilchegalla-Kanal; 6: Außenmauer; 7: Marduktor; 8: Stadtmauer Nebukadnezars; 9: Heilige Pforte; 10: Ischtar-Tempel; 11: Prozessionsstraße; 12: Ischtartor; 13: Hängende Gärten; 14: Marduktempel; 15: Neujahrsfesthaus. © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
  • Barke mit Götterbild (fehlt) im Horustempel von Edfu (ptolemäische Zeit). © public domain (Foto: Klaus Koenen, 2005)
  • Priester tragen eine Götterbarke, über der die Flügelsonne schwebt (Ramesseum, Theben West; 19. Dyn., 13. Jh. v. Chr.). © public domain (Foto: Klaus Koenen, 2010)
  • Prozessionsstraße: Abschnitt der Widdersphingen-Allee, die Luxor und Karnak verband. © public domain (Foto: Klaus Koenen, 2005)
  • Assyrische Soldaten deportieren Götterbilder aus einer eroberten Stadt (Wandrelief aus dem Palast Tiglat-Pilesers III., 745-727 v. Chr., in Nimrud). © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

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