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Protoevangelium

Andere Schreibweise: Protevangelium; Protevangelion

(erstellt: Oktober 2008)

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1. Bedeutung

Protoevangelium („Erstes Evangelium“) ist kein biblischer Begriff, sondern eine spätestens seit dem 17. Jh. – vgl. Christophorus (Helwig) Helvicus: Protoevangelion Paradisiacum, Genes. 3.15, in: Criticorum Sacrorum, Tom. VIII, Londini 1660, 8, S. 65-75 (nach Gallus 1979, 88.90) – in der christlichen Tradition gebräuchliche Bezeichnung für den Vers Gen 3,15: „Und Feindschaft setze ich zwischen dich und zwischen die Frau und zwischen deinen Samen und ihren Samen, er zermalmt dir den Kopf und du trachtest ihm nach der Ferse“. Der Vers steht innerhalb der Erzählung vom sog. → „Sündenfall“ (Gen 3,1-24), die die zweite → Schöpfungserzählung Gen 2,4b-25 voraussetzt und mit dieser eine gewisse Einheit darstellt (→ Paradieserzählung). Gen 3,15 bildet mit dem vorausgehenden Vers Gen 3,14 einen Strafspruch über die → Schlange, die Eva zum Verstoß gegen Gottes Verbot, vom Baum der Erkenntnis von Gut und Schlecht zu essen (vgl. Gen 2,17), verführt hat (Gen 3,1-6). Nach M. Görg ist Gen 3,14f ein Fluchwort über die Schlange, „das in allen seinen Teilen der kommenden Demütigung des Tieres Ausdruck gibt“ (Görg, 129). Ihm folgen der Strafspruch über die Frau (Gen 3,16) und über Adam (Gen 3,17-19). Da die Strafsprüche Gen 3,14-19 wenig mit der Art des eigentlichen Vergehens zu tun haben, wertet C. Westermann sie mit Berufung auf W. Schottroff als entfaltende Erweiterung der eigentlichen Strafe, der Vertreibung aus dem Garten und damit aus der Nähe Gottes (Westermann, 350).

Abweichend vom allgemeinen Verständnis sieht A.H.J. Gunneweg nicht in Gen 3,15 eine erste frohe Botschaft, sondern wertet die (jahwistischen Teile der) gesamten → Urgeschichte (Gen 1,1-11,9), die er als „eine Fundamentalauslegung menschlicher Existenz“ ansieht, als „Protevangelion“ (Gunneweg, 94f). Der → Jahwist habe mythische Vorstellungen, die den Menschen als hilfloses Opfer der aus Neid willkürlich handelnden Götter erscheinen lassen, entmythologisiert, indem er auf die Schuld des Menschen und das barmherzige Handeln Jahwes hinweist, das als frohe Botschaft verstanden werden kann.

2. Unterschiedliche Deutungen von Gen 3,15

Der Vers Gen 3,15 hat im Lauf der Geschichte sehr unterschiedliche Deutungen erfahren, da man aufgrund des Kontextes Gen 2,4b-3,24, in dem es um Grundaussagen über den Menschen geht, annahm, der Vers habe über den direkt dem Text entnehmbaren „wörtlichen Sinn“ (sensus litteralis) hinaus einen übertragenen Sinn. Dabei kann es sich um eine Anspielung auf ein historisches Ereignis handeln (historisch-religionsgeschichtliche Deutung) oder um einen postulierten „geistlichen Sinn“ (sensus spiritualis), der aber nach heutigem Verständnis nie ohne Bezug zum wörtlichen Sinn bestimmt werden darf (vgl. Päpstliche Bibelkommission, 72). Da der Ausdruck „geistlicher Sinn“ nicht sehr präzise ist, bevorzuge ich im Folgenden, von „theologischen Deutungen“ zu sprechen ― zumal biblische Texte manchmal nicht nur theologisch, sondern auch relativ frei psychologisch oder tiefenpsycholgisch gedeutet werden. In jedem Fall ist zunächst nach dem wörtlichen Sinn zu fragen.

2.1. Der wörtliche Sinn (sensus litteralis)

Während es in Gen 3,14 nur um die Schlange geht, deren Verfluchung als Ätiologie der auffälligen Eigenschaften von Schlangen zu verstehen ist, wird in Gen 3,15 das feindliche Verhältnis zwischen Schlangen und Menschen auf eine von Jahwe verhängte Strafe zurückgeführt. Erklärt (→ Ätiologie) wird eine in Palästina wohl häufiger erfahrbare Tatsache, nämlich die, dass Schlangen nach der Ferse von Menschen schnappen (hebr. שׁוף šwf, vielleicht Nebenform von שׁאף š’f „trachten nach / schnappen“) und dass der Mensch sich davor zu schützen sucht, indem er versucht, der Schlange den Kopf zu zertreten (hebr. שׁוף šwf „zermalmen“). Dieses naturalistische Verständnis findet sich z.B. bei Flavius Josephus (38 bis um 100 n. Chr.; in: Antiquitates Iudaicae I 1,4 Text gr. und lat. Autoren). Der Text selbst lässt allerdings nicht erkennen, wer bei diesem Streit siegen wird. Ausgedrückt wird ein genereller Sachverhalt (iterativ; vgl. Westermann, 353f), denn bei einem individuellen Geschehen kann die Schlange, wenn ihr Kopf zertreten ist, wohl kaum noch nach der Ferse des Menschen schnappen. Im umgekehrten Fall – die Schlange schnappt nach der Ferse und der Mensch zertritt sie – bleibt zumindest bei Giftschlangen – in Palästina gibt es verschiedene Arten von Giftschlangen, als deren gefährlichste die → Palästina-Viper gilt (Schouten van der Velden, 150f) – offen, ob der Mensch nach seinem Sieg über die Schlange deren Biss überlebt. Diese Offenheit des Textes wird bei späteren Deutungsversuchen, die von einem Sieg des Menschen über die Schlange ausgehen, oft nicht berücksichtigt. Nach O.H. Steck stehen Deutungen, die hier die Ankündigung eines endlichen Sieges über die Schlange finden, der Intention des als Verfasser angenommenen Jahwisten entgegen (Steck, 100). Gegen unzulässige Theologisierungen wendet sich B. Jacob, der in Gen 3,15 den Willen des Schöpfers ausgedrückt findet, „daß zwischen Mensch und Tier ewig eine Scheidewand bestehen soll“ (Jacob, 114f).

2.2. Historisch-religionsgeschichtliche Deutung

M. Görg hat nach einem möglichen historischen Hintergrund der Aussage Gen 3,15 gefragt und ihn in der 2Kön 18,4 berichteten Kultreform des Königs → Hiskia (ca. 728-699 v. Chr.) gefunden. Gen 3,15b bezieht er auf die Zerstörung des → Nehuschtan, einer im Bereich des Jerusalemer Tempels aufgestellten Kupferschlange, die nach der Tradition → Mose im Auftrag Jahwes hatte anfertigen lassen (vgl. Num 21,4-9). Dabei beruft er sich auf religionsgeschichtliche Aspekte und auf ägyptische Äquivalente zum hebräischen Verb שׁוף šwf, das demnach an den beiden Stellen in Gen 3,15b statt mit „zermalmen / zertreten“ bzw. „trachten / schnappen nach“ mit „beschädigen“ oder „demolieren“ übersetzt werden kann (vgl. Görg, 133). Da man sich den Nehuschtan in Form einer aufgerichteten überdimensionalen Bronzekobra mit wenigstens einem Flügelpaar vorstellen darf, die wohl Symbol eines in Ägypten gepflegten Schlangenkultes war, hat die Zerstörung des aufgerichteten Kopfes des Nehuschtan sinnbildlich die Verwirklichung des Fluches über die Schlange in Gen 3,14b gezeigt: die früher aufgerichtete Schlange muss nun im Staub kriechen. Hiskia, der Sohn der Abi (so in 2Kön 18,2; in 2Chr 29,1: Abija) ist somit der in Gen 3,15 angekündigte Schlangenzertreter (vgl. Görg, 134f). Da in Gen 3,15b jedoch nicht nur dem Menschen, sondern auch der Schlange eine tödliche und damit lebensbedrohende Aggression zugeschrieben wird, ist dies bei der metaphorischen Deutung zu berücksichtigen. Görg bezieht daher Gen 3,15b einerseits auf die Zerstörung des Nehuschtan durch Hiskia und andererseits auf dessen Versuche, von Ägypten statt von Jahwe Hilfe gegen die → Assyrer zu erhalten: „Ägypten verliert seine Attraktivität und Verführungspotenz nicht, obwohl es über keinerlei Machtsubstanz mehr verfügt: das macht seine bleibende Gefährlichkeit aus. Ägypten muß ‚Staub fressen’, vermag aber weiter ‚zuzuschnappen’“ (Görg, 139). Diese Deutung setzt voraus, dass Gen 3,15 nicht von einem frühdatierten Jahwisten stammen kann, dem lange Zeit Gen 2,4b-3,24 zugeschrieben wurde. Görg hält Gen 3,13b-15 für einen Einschub (Görg, 127) aus der Zeit Hiskias, als zunächst das Nordreich Israel 722 v. Chr. von den Assyrern unterworfen und später auch Juda bedroht wurde (Görg, 138; gegen die Deutung von Görg wendet sich Dohmen, 291).

Dass in Ägypten, Mesopotamien und Palästina Schlangen polyvalent gesehen wurden, zeigen zahlreiche ikonographische Belege, die O. Keel zusammengetragen hat (Keel, 195-266). Demnach „kann die Schlange als aspektreiches Geschöpf je nach Zusammenhang Numinosität eines Ortes, Schutz, Vitalität, vor allem im sexuellen Bereich, oder negativ Bedrohung des Kosmos oder individuellen Lebens, hinterhältige Krankheit und Tod bedeuten“ (Keel, 232; vgl. Loh, 100-112, 131-142, 157-162, 199-205). Einige dieser Aspekte erscheinen auch im Alten Testament.

2.3. Theologische Interpretationen

2.3.1. Kollektive Deutungen

2.3.1.1. Die moralische Deutung. Die moralische Deutung bewahrt die Offenheit des Textes, nach dem der Kampf der Nachkommen der Schlange und der Frau unentschieden ausgehen wird oder auch als hoffnungsloser Kampf ohne Ende erscheint. Dabei wird die Schlange als Symbol der Verführung der ersten Frau verstanden, als Repräsentant des Bösen, der Nachwuchs der Schlange pluralisch als „die Mächte des Bösen“ gedeutet (vgl. Vogels, 199). Die Menschen als der Nachwuchs der Frau müssen sich als Einzelne in ihrem Leben immer wieder mit den Versuchungen durch die Mächte des Bösen auseinandersetzen. Dabei kann der Mensch im Einzelfall die Versuchung abwehren oder ihr erliegen (vgl. Dohmen, 288), jedoch kann er selbst das Böse nicht endgültig besiegen, so dass weiterhin die Gefahr besteht, vom Bösen getroffen zu werden. Diese Vorstellung stimmt mit Gen 4,7 überein, wo Jahwe den erzürnten → Kain vor der an der Tür lauernden Sünde warnt und ihn auffordert, über die Sünde Herr zu bleiben. Demnach kann der Mensch dem Verlangen / Trieb (תְּשׁוּקָה təšûqāh) widerstehen, er hat nach Sir 15,11-15 die Kraft, Gottes Gebote zu halten. Da in Gen 4,7 erstmals im Alten Testament ein Begriff für „Sünde“ (חַטָּאת chaṭṭā’t) vorkommt und Jahwe diese als beherrschbar darstellt, liegt hier auch eine Art „frohe Botschaft“, ein „Evangelium“ im weiteren Sinne vor.

Der moralischen Interpretation lässt sich die auf protestantischer Seite heutzutage weit verbreitete Deutung zuordnen, dass es in Gen 3,15 um den Kampf des Menschen mit den Mächten des Bösen geht, der grundsätzlich offen ist, vor allem wenn man die Verderbnis der menschlichen Natur (vgl. Gen 8,21; Ps 51,7; Pred 7,20) berücksichtigt (vgl. Vogels, 203; gegen diese Deutung Westermann, 355).

2.3.1.2. Die kollektive soteriologische Deutung. Die Bezeichnung von Gen 3,15 als „erstes Evangelium“, als „erste frohe Botschaft“ setzt einen eindeutigen Sieg des Menschen über die Schlange und ihre Nachkommen voraus. Diese Auslegung geht davon aus, dass in den drei Strafsprüchen über die Schlange, die Frau und → Adam (Gen 3,14-19) jeder Schuldige zunächst von Gott gestraft wird und anschließend von dem, den er geschädigt hat. In Gen 3,15 wird dementsprechend die Schlange von der Frau bestraft, die ihrerseits erst in Gen 3,16b vom Mann bestraft wird. Da außerdem nur die Schlange verflucht wird, nicht jedoch die Frau und Adam, ist von einem Sieg der Menschen auszugehen. N. Lohfink zählt das Zertreten des Kopfes zur Verfluchung der Schlange und empfiehlt den letzten Teil des Verses als nachgestellten Begründungssatz zu deuten, der das traditionelle Talionsdenken erkennen lässt: „Er wird dir den Kopf zertreten, weil du nach seiner Ferse schnappst“ (Lohfink, 52). Da schon die Verfluchung der Schlange in Gen 3,14 – auf dem Bauch kriechen und Staub fressen – auf Riten hindeutet, denen sich besiegte Könige und Fürsten bei Siegesfeiern und in der Gefangenschaft unterwerfen mussten (vgl. Ps 110,1), ist beim Zertreten der Schlange eindeutig von einem Sieg des Menschen auszugehen (Lohfink, 64-66). Die Schlange wird bei der soteriologischen Deutung als „Versucher“, gr. diábolos, lat. diabolus, dt. „Teufel“, gedeutet, der von der Nachkommenschaft Evas, den Menschen, „zertreten“ und damit endgültig besiegt wird. Die Ankündigung dieses Sieges ist in der Bibel, genauer in der → Urgeschichte des Buches → Genesis, die erste frohe Botschaft.

Die Identifikation der Schlange mit dem Teufel (gr. diábolos) erfolgt schon in Weish 2,23f, wohl eine eindeutige Anspielung auf Gen 1-3. Als Motiv des Teufels (für die Verführung Evas) wird der Neid angegeben, wobei jedoch offen bleibt, worauf der Teufel neidisch ist. Wohl als Folge des Sündenfalls kam nach Weish 2,24 der Tod in die Welt, den von da an alle Menschen erleiden müssen. Diese Interpretation geht offensichtlich davon aus, dass der Mensch im Garten → Eden hätte ewig leben dürfen, was den Aussagen in Gen 3,22.24 widerspricht, wonach der Mensch nur ewig leben kann, wenn er vom Baum des Lebens isst. Für ein dämonisches Wesen wird die Schlange auch in frühjüdischen Schriften gehalten (vgl. Apokalypse des Mose VII,2; X,1 – XII,2; XVI,1 – XXVI,4 [der letzte Vers entspricht dem Protoevangelium]; Leben Adam und Evas 33,2; 37,1-39,2; deutsche Übersetzung in: JSHRZ II/5 Text Pseudepigraphen).

Als besondere Variante der kollektiv soteriologischen Deutung kann man eine speziell auf das auserwählte Volk bezogene Interpretation ansehen: Nicht die gesamte Menschheit, sondern das auf → Set, den von Eva nach dem Tod → Abels von Gott erhaltenen Nachwuchs (Gen 4,25; nach Gen 5,3 wohl der erste Sohn Adams), zurückgeführte Volk Israel soll Licht für die Welt sein und die Überwindung des Bösen erreichen. Nach dem → Targum Pseudo-Jonathan und dem Targum Jeruschalmi II werden die Söhne der Frau, die sich bemühen, Gottes Weisungen zu beachten, bis zum Kommen des Messias darauf bedacht sein, der Schlange den Kopf zu zertreten (vgl. die Belege bei Michl, 375f, 379f), so wird „das jüdische Volk … diesen Sieg erringen, wenn der Messias-König kommt“ (Vogels, 200).

2.3.2. Individuelle Deutungen

Da das hebr. Nomen זֶרַע zæra‘ „Same / Nachkommenschaft / Geschlecht / Stamm“ grammatisch eine Singularform ist, jedoch auf der Bedeutungsebene wie auch im Deutschen weithin ein Kollektivbegriff, wird es in aramäischen Targumen manchmal singularisch mit „Sohn“ (so im Targum Onkelos) oder „Familie deines / ihres Sohnes“ (so in palästinischen Targumen) übersetzt (vgl. Koch, 199-202). Später bezogen christliche Theologen die Aussage Gen 3,15 auf eine einzelne Person, die jedoch zugleich stellvertretend für eine Gemeinschaft handelt („korporative Persönlichkeit“). Bei den individuellen soteriologischen Deutungen unterscheidet man im Christentum vor allem zwei Varianten: die christologische und die mariologische Deutung. Beide Deutungen haben wie der „Sündenfall“ selbst in verschiedenen Darstellungsformen ihren Niederschlag in der christlichen Kunst gefunden (vgl. Lexikon der christlichen Ikonographie. Bd 1, 41-70 Art. „Adam und Eva“ von H. Schade; 145-150 Art. „Apokalyptisches Weib“ von J. Fonrobert; Bd 4, 75-81 Art. „Schlange, Schlangen“ von W. Kemp).

2.3.2.1. Die christologische Deutung. Die → Septuaginta und die → Vetus Latina fahren nach spérma (Neutrum) bzw. semen (Neutrum) „Same / Nachkommenschaft“ mit dem maskulinen Pronomen autós / ipse („er selbst“) fort, so dass an einen männlichen Nachkommen zu denken ist – für Christen ist dieser meist Christus. Das von der Septuaginta gewählte Verb tēréō hat allerdings im Gegensatz zum hebr. Verb שׁוף šwf „zermalmen“ meist eine positive Bedeutung: „1. bewachen; 2. bewahren, verwahren; 3. behüten, beschützen; 4. beobachten, erfüllen, halten“ (vgl. W. Bauer, Wörterbuch zum Neuen Testament; F. Rehkopf, Septuagintavokabular: „bewahren“; ThWNT VIII, 140 speziell zu Gen 3,15 „es auf etwas absehen“). Bei diesem Bedeutungsspektrum scheint nicht an die Vernichtung eines der Gegner gedacht zu sein, sondern wohl eher an ein vorsichtiges, wachsames gegenseitiges Beobachten. Allerdings behauptet schon → Philo von Alexandrien, dass das Verb eine zweite Bedeutung habe, nämlich „auflauern in der Absicht zu vernichten“ (vgl. Philo, Legum allegoriae III,189 [= § 68] Text Philo).

Das Neue Testament nimmt nirgendwo direkt auf Gen 3,15 Bezug, Anklänge liegen aber wohl in Röm 16,20 und Apk 12 vor. In Röm 16,20 verheißt Paulus: „Der Gott des Friedens wird den Satan bald zertreten (syntrípsei = „zerreiben / zerschmettern“) und unter eure Füße legen“ (Einheitsübersetzung). Da Paulus hier nicht Jesus Christus nennt, scheint wohl Gott allgemein als Überwinder / Vernichter des Satans gemeint zu sein. In Apk 12,7-12 kämpft der Erzengel Michael mit dem großen Drachen und seinen Engeln und stürzt ihn aus dem Himmel auf die Erde. Der große Drache wird in Apk 12,9 auch „als die alte Schlange, die Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt“ bezeichnet. Auf der Erde verfolgt der Drache eine Frau, die einen Sohn geboren hat. Diese wird vor der Schlange gerettet, kann jedoch selbst nicht den Drachen endgültig besiegen, so dass der Drache weiterhin Krieg führen kann gegen alle Nachkommen der Frau, „die den Geboten Gottes gehorchen und an dem Zeugnis für Christus festhalten“ (Apk 12,13-18). Man kann bei der Deutung der Frau zwar an Maria denken, doch dürfte hier das Volk Gottes, das wahre Israel gemeint sein (Michl, 399f), das sich immer wieder mit dem Bösen und mit Versuchungen auseinandersetzen muss und letztlich auf die Rettung durch Gott angewiesen ist. Sowohl in Röm 16,20 als auch in Apk 12 ist also Gott der eigentliche Retter, jedoch wird dies in Gen 3,15 nicht angekündigt.

Die christologische Interpretation scheint inhaltlich durch 1Joh 3,4-10 gestützt zu werden, jedoch besteht hier keine formale Verbindung zu Gen 3,15. Die Christen werden gewarnt, sich nicht vom Teufel in die Irre führen zu lassen. In 1Joh 3,4 wird deutlich erklärt, dass Jesus erschienen ist, um die Sünde wegzunehmen, nach 1Joh 2,2 ist Christus die Sühne für die Sünden der ganzen Welt (vgl. 1Joh 4,10; Joh 1,29). Vom Kampf Christi gegen den Teufel ist in 1Joh 3,8 die Rede: „Der Sohn Gottes aber ist erschienen, um die Werke des Teufels zu zerstören“ (Einheitsübersetzung). Vor allem aufgrund seiner Auferstehung wird Christus als Sieger über die Unterwelt und den Tod gefeiert. Am deutlichsten hat Paulus in Röm 5,12-21 Adam und Christus typologisch gegenübergestellt und betont, dass Christus durch seine Gnadentat den Menschen ewiges Leben schenken kann, dass durch Christus die Auferstehung der Toten gekommen ist, so dass wir, in Christus lebendig gemacht, zu himmlischen Wesen werden können (vgl. 1Kor 15,20ff.45-49; Eph 2,1-10). Der Kampf mit dem Teufel ist daher grundsätzlich durch den Sieg Christi entschieden, jedoch bleibt dem Versucher noch die Fähigkeit, die Menschen auf der Erde zum Handeln gegen Gottes Weisung zu verführen. Ein solches christologisches Verständnis von Gen 3,15 vertraten auch einige Kirchenväter, z.B. Justin (gest. um 165; im Dialog mit Tryphon), Irenäus von Lyon (gest. um 202) (vgl. Michl, 479-496), Ephraim der Syrer (gest. 373), Epiphanius von Salamis (gest. 403) und Papst Leo der Große (gest. 461). Andere bedeutende Kirchenväter wie Basilius von Caesarea (gest. 379), Gregor von Nazianz (gest. 390), Johannes Chrysostomus (gest. 407), Augustinus (gest. 430), → Hieronymus (gest. 419/420) und Gregor der Große (gest. 604) haben jedoch keine messianisch-christologische Erklärung geboten (vgl. Vogels, 201).

Von den Reformatoren hat → Martin Luther zunächst aufgrund des „ipsa“ („sie selbst“) in der Vulgata an der damals verbreiteten mariologischen Deutung – Maria als „Schlangenkopfzertreterin“ – festgehalten, ab 1521 jedoch aufgrund des Rückgriffs auf den hebräischen Grundtext nur noch die christologische Interpretation vertreten. Huldreich Zwingli folgte Luther weitgehend, hat aber gegen Luther Gen 3,14 nicht auf die Schlange bezogen, sondern nur noch bildlich auf den Teufel. Das Weib in Gen 3,15 ist für ihn Maria, der „Weibessame“ aber allein Christus. Die altlutherischen Theologen hielten weitgehend am christologischen Sinn von Gen 3,15 fest, → Johannes Calvin vertrat allerdings sowohl die „naturalistische“ Deutung als auch eine kollektiv-christologische, weil er den „Samen“ nicht mit Gewalt auf eine Person deuten wollte. Der „Weibessame“ ist für Calvin das ganze Menschengeschlecht. Da dieses allerdings als Ganzes den Teufel nicht überwindet, deutet Calvin Gen 3,15 zugespitzt auf Christus: „Die ganze Kirche unter ihrem Haupte und das Menschengeschlecht sollen den Satan überwältigen“ (Gallus 1964, 167). Heutzutage wird die Deutung von Gen 3,15 als „Protoevangelium“ von evangelischen Exegeten meist abgelehnt (vgl. von Rad, 66; Westermann, 354f; Seebass, 125). Der katholische Exeget C. Dohmen stellt zurückhaltender formulierend fest: „Das Protoevangelium stellt gerade keine adäquate Interpretation des ursprünglichen Textsinnes dar“ (Dohmen, 293).

Protevangelium 1
2.3.2.2. Die mariologische Deutung. Der jüdische Philosoph Philo von Alexandrien (ca. 20 v. bis um 45/50 n. Chr.) erwartete statt des maskulinen Pronomens autós das feminine autē, weil Gen 3,15 die Beziehung zwischen der Schlange und der Frau, Eva, betreffe. Bei einem entscheidenden Sieg Evas über die Schlange wäre aber die Nachkommenschaft von dem Streit nicht mehr betroffen. Dieser Einwand gegen den Bezug auf Eva betrifft jedoch Philos Deutung nicht, da er unter „Samen“ nicht die zukünftige Nachkommenschaft Evas versteht, sondern vergangenheitsbezogen „ihren Ursprung“. Philo dachte auch nicht an eine Frau, sondern bot eine allegorisch-moralische Auslegung, bei der es um den Kampf im Menschen zwischen dem „Verstand / Geist“ (ho nous) und der „Freude / Lust / Sinnenlust“ (hē hēdonē) geht (vgl. Legum allegoriae III § 67f [= Nr. 188f] Text Philo; vgl. dazu Barth, 119f Anm. 262, und Michl, 386f).

Ob das feminine „ipsa“ („sie selbst“) in der Vulgata von Hieronymus (gest. 419/20) selbst stammt, ist umstritten – manche spätere lateinische Codices fahren mit „ipse“ („er selbst“) fort. Die Nova Vulgata von 1979 bietet kongruent zum Neutrum „semen“ („Same / Stamm / Kind“) das Neutrum „ipsum“ („es selbst“), das sich auf die Nachkommenschaft bezieht. Bei der femininen Übersetzung mit „ipsa“ sind wiederum zwei Deutungen möglich: Es kann sowohl die Mutter der kollektiven Nachkommenschaft, d.h. aller Menschen, also Eva, gemeint sein als auch die Mutter eines individuellen Nachkommen, der den endgültigen Sieg erringt. Da die christologische Deutung Christus den endgültigen Sieg über das Böse zuschreibt, wird Maria, die den Sieger über die Schlange geboren hat, eine Beteiligung am Sieg über den Teufel zugeschrieben. Maria wird daher von manchen auch als „Schlangenzertreterin“ verehrt, obwohl das Bild vom Zertreten der Schlange im Neuen Testament weder für Maria noch für Jesus Christus gebraucht wird. Zwar haben schon einige Kirchenväter Gen 3,15 auf Maria bezogen – erstmals, aber noch nicht eindeutig wohl Irenäus von Lyon (vgl. Michl, 494-496) –, aber marianische Deutungen haben sich erst seit dem Mittelalter vor allem in katholischen Kreisen weit verbreitet, z.B. bei Bernhard von Clairvaux (gest. 1153) und Nikolaus von Lyra (gest. 1349) (vgl. aber auch aus dem 20. Jh. die zurückhaltende Formulierung in der Kirchenkonstitution des II. Vaticanums „Lumen gentium“ Nr. 55: „Sie [= Maria] ist in diesem Licht schon prophetisch in der Verheißung vom Sieg über die Schlange, die den in die Sünde gefallenen Stammeltern gegeben wurde (vgl. Gen 3,15), schattenhaft angedeutet“). Jedoch setzen Deutungen, die die Rolle Marias beim Heilswirken Gottes betonen, immer die christologische Deutung voraus. Dies wird schon bei Justin deutlich, der als erster Maria als Gegenbild der schuldig gewordenen Eva gegenübergestellt hat, aber dennoch Christus als Vernichter der Schlange „des Anfangs“ bezeichnet (Dialog mit Tryphon Kap. 45 und 100 Bibliothek der Kirchenväter; vgl. Michl, 476-478), und zeigt sich sogar bei katholischen Theologen, die für Maria unter Rückgriff unter anderem auf Gen 3,15 sogar die Dogmatisierung der Titel „Corredemptrix“ (Miterlöserin) und „Mediatrix omnium gratiarum“ (Mittlerin aller Gnaden) fordern (vgl. Barth, 242). Somit dürfte allgemein anerkannt sein: Eine mariologische Deutung ist nur als Nebenaspekt der christologischen Interpretation möglich.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 1933-1979
  • Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl., Freiburg i.Br. 1957-1967
  • Lexikon der christlichen Ikonographie, Freiburg i.Br. 1968-1976 (Taschenbuchausgabe, Rom u.a. 1990)
  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
  • Marienlexikon, St. Ottilien 1988-94
  • Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
  • Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001

2. Weitere Literatur

  • Barth, H.-L., 2000, Ipsa conteret. Maria die Schlangenzertreterin: Philologische und theologische Überlegungen zum Protoevangelium (Gen 3,15), Ruppichteroth
  • Bauer, W., 1988, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, 6., völlig neu bearbeitete Aufl. hg. von Kurt Aland und Barbara Aland, Berlin / New York
  • Dohmen. C., 1988, Schöpfung und Tod. Die Entfaltung theologischer und anthropologischer Konzeptionen in Gen 2/3 (SBB 17), Stuttgart
  • Gallus, T., 1964, „Der Nachkomme der Frau“ (Gen 3,15) in der altlutheranischen Schriftauslegung. Ein Beitrag zur Geschichte der Exegese von Gen 3,15. Band I: „Der Nachkomme der Frau“ (Gen 3,15) in der Schriftauslegung von Luther, Zwingli und Calvin, Klagenfurt
  • Gallus, T., 1979, Die „Frau“ in Gen 3,15, Klagenfurt 1979
  • Görg, M., 1982, Das Wort zur Schlange (Gen 3,14f). Gedanken zum sogenannten Protoevangelium, BN Heft 19, 121-140
  • Gunneweg, A.H.J., 1983, Urgeschichte und Protevangelion, in: ders., Sola scriptura. Beiträge zur Exegese und Hermeneutik des Alten Testaments, Göttingen, 83-95
  • Jacob, B., 2000, Das Buch Genesis. Hg. in Zusammenarbeit mit dem Leo Baeck Institut, Stuttgart (ND der Original-Ausgabe Berlin 1934)
  • Keel, O., 1992, Das Recht der Bilder gesehen zu werden. Drei Fallstudien zur Methode der Interpretation altorientalischer Bilder (OBO 122), Freiburg (Schweiz) / Göttingen
  • Koch, K., 1996, „Adam, was hast du getan?“ Erkenntnis und Fall in der zwischentestamentlichen Literatur, in: ders., Vor der Wende der Zeiten. Beiträge zur apokalyptischen Literatur (Gesammelte Aufsätze 3), hg. von U. Gleßmer und M. Krause, Neukirchen-Vluyn, 181-217 [zuerst in: Rendtorff, T. (Hg.), Glaube und Toleranz. Das theologische Erbe der Aufklärung, Gütersloh 1982, 211-242]
  • Loh, J., 1998, Paradies im Widerspiel der Mächte. Mythenlogik – eine Herausforderung für die Theologie (BEAT 43), Frankfurt am Main u.a.
  • Lohfink, N./ Haspecker, J., 1988, Gn 3,15: „weil du ihm nach der Ferse schnappst“, in: Lohfink, N., Studien zum Pentateuch (SBAB 4), Stuttgart, 47-66 [zuerst in: Scholastik 38 (1961) 357-372]
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  • Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 115), Bonn o.J. (1994)
  • Rad, G. von, 1981, Das erste Buch Mose – Genesis (ATD 2-4), 11. Aufl., Göttingen
  • Rehkopf, F., 1989, Septuaginta-Vokabular, Göttingen
  • Ruppert, L., 2003, Genesis. Ein kritischer und theologischer Kommentar. 1. Teilband: Gen 1,1-11,26 (fzb 70), 2. Aufl., Würzburg
  • Schouten van der Velden, A., 1992, Tierwelt der Bibel, Stuttgart
  • Seebass, H., 1996, Genesis I. Urgeschichte (1,1-11,26), Neukirchen-Vluyn
  • Steck, O.H., 1982, Die Paradieserzählung. Eine Auslegung von Genesis 2,4b-3,24, in: ders., Wahrnehmungen Gottes im Alten Testament. Gesammelte Studien (TB 70), München, 9-116 [zuerst erschienen als Biblische Studien 60, Neukirchen-Vluyn 1970]
  • Vogels, W., 1986, Das sog. „Proto-Evangelium“ (Gen 3,15). Verschiedene Arten, den Text zu lesen, ThG(B) 29, 195-203
  • Westermann, C., 1999, Genesis. 1. Teilband: Gen 1-11 (BK I/1), 4. Aufl., Neukirchen-Vluyn

Abbildungsverzeichnis

  • Ein Putto besiegt einen Basilisken (entspricht Schlange) an der Münchener Mariensäule (17. Jh.). © Kathrin Liess

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