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Prophetie (Alter Orient)

(erstellt: November 2007)

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1. Der Begriff „Prophetie“

1.1. Vorhersage oder Auslegung?

Alle Sprachen, die die Wortfamilie „Prophetie“ kennen, haben sie vom klassischen Griechisch geerbt, in der das entsprechende Wort prophēteia die „Gabe der Auslegung göttlichen Willens“ bedeutet; das Wort prophēteuō lässt sich dementsprechend als „den göttlichen Willen auslegen“ übersetzen. Das Lexem für Prophet, prophētēs (Mask.) / prophētis (Fem.), bezeichnet „jemanden, der im Auftrag einer Gottheit spricht und ihren Willen den Menschen auslegt“, in einem allgemeinen Sinn aber auch einen „Dolmetscher“. Im Neuen Testament bedeutet prophēteia zudem die Auslegung der Heiligen Schrift und die Deutung der Zukunft (Liddell & Scott 1539f.).

Während das Wort „Prophetie“ also im klassischen Griechisch primär die Interpretation des göttlichen Willens meint, wird es im modernen Sprachgebrauch meist mit „Vorhersagen“ gleichgesetzt. Dieser Gebrauch verdankt sich vor allem der Bibel, insbesondere der → Septuaginta, aber auch dem Neuen Testament und der frühchristlichen Literatur. Die Übersetzer der Septuaginta wählten als Äquivalent für hebräisch nāvî’ / nəvî’āh „Prophet / Prophetin“ ein Wort, das jemanden bezeichnet, der im Auftrag des Gottes spricht und seinen Willen auslegt, also prophētēs – ein Wort, mit dem sich in ihrer Sprache ungefähr die gleichen Vorstellungen verbanden wie mit nāvî’ / nəvî’āh im Hebräischen.

1.2. Eine Begriffsbestimmung

Die Wortfamilie „Prophetie“ wird in verschiedenen Kontexten unterschiedlich benutzt, was eine nähere Begriffsbestimmung nötig macht. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch bedeutet Prophetie heute zumeist Übermittlung einer sprachlichen oder metasprachlichen Botschaft, die eine Person – d.h. ein Prophet oder eine Prophetin – ohne induktive Techniken (angeblich) von einer Gottheit empfängt, um sie an einen individuellen oder kollektiven Adressaten weiterzuleiten. Die konstitutiven Elemente der Prophetie sind demnach 1) die Gottheit als Sender der Botschaft, 2) das Orakel (oder die metasprachliche Handlung) als Substanz der Botschaft, 3) die übermittelnde Person (der Prophet oder die Prophetin) und 4) die empfangende Person oder Personengruppe. Prophetie ist demnach nicht auf spezifische Charakteristika – wie z.B. Spontaneität, Ekstase, gewisse literarische Formen oder bestimmte gesellschaftliche Stellungen der Propheten – einzuschränken, sondern im Wesentlichen als ein Kommunikationsprozess zu verstehen. Allerdings kann Prophetie nicht als eine Einbahnstraße von einer Gottheit zum Menschen vorgestellt werden, ohne die sozialen Voraussetzungen und die Umgebung der prophetischen Erscheinungen zu berücksichtigen.

2. Quellen der altorientalischen Prophetie

Prophetie AO 1

Es steht uns heute eine umfassende Sammlung von altorientalischen Texten zur Verfügung, die entweder den oben skizzierten prophetischen Kommunikationsprozess widerspiegeln oder in denen Propheten erwähnt sind, meistens mit den akkadischen Wörtern raggimu / raggintu „Verkünder / Verkünderin“, machchû / machchūtu, muchchûm / muchchūtum „Ekstatiker / Ekstatikerin“ oder āpilum / āpiltum „Antworter / Antworterin“, die dem hebräischen nāvî’ / nəvî’āh „Prophet / Prophetin“ entsprechen. Im Grunde stehen uns zweierlei Arten von Texte zur Verfügung: 1) schriftliche Prophetenorakel und 2) Hinweise auf Propheten in anderen Texten wie in Briefen, Inschriften, Verwaltungsdokumenten und religiösen Texten. Insgesamt kann das Material in sechs Gruppen unterteilt werden.

2.1. Mari

Die größte Sammlung von prophetischen Dokumenten stammt aus dem Stadtstaat → Mari aus der altbabylonischen Periode, d.h. aus dem 18. Jh. v. Chr. Sie umfasst 50 Briefe, in denen Prophetenworte zitiert werden. Die Briefe, die mit wenigen Ausnahmen an König Zimri-Lim (ca. 1775-1761 v. Chr.) adressiert sind, erstatten Bericht über Orakel, die in der Stadt Mari, in anderen Teilen des Königtums oder auch außerhalb seiner Grenzen von Prophetinnen und Propheten (āpiltum / āpilum, muchchūtum / muchchûm) empfangen worden waren. Die Briefe sind meistens von Beamten und Offizieren des Königs, häufig aber auch von Palastfrauen geschrieben. Die in ihnen zitierten Prophetenworte enthalten Äußerungen göttlichen Beifalls, aber auch Ermahnungen und Warnungen an den König. Als Urheber werden verschiedene Gottheiten genannt, vor allem → Dagon, der Hauptgott von Mari, und Annunitum, eine lokale Manifestation der Göttin → Ischtar. Darüber hinaus kennen wir aus Mari eine Handvoll Dokumente verschiedener Art, in denen Propheten erwähnt sind, z.B. zwei Ritualtexte und einige Verwaltungsdokumente.

2.2. Eschnunna

Die prophetische Aktivität der altbabylonischen Zeit war nicht auf Mari beschränkt. Die Maribriefe berichten auch von prophetischen Auftritten in Aleppo und Babylon; darüber hinaus gibt es zwei Orakel der Göttin Kititum (Ischtar) an König Ibalpiel II. von Eschnunna (nordöstlich von Babylon), einen Zeitgenossen von Zimri-Lim. Die Orakel aus Eschnunna sind wahrscheinlich Krönungsorakel, die der göttlichen Legitimation des Königtums von Ibalpiel dienten.

2.3. Assyrien

Der zweitgrößte Korpus der altorientalischen Prophetie kommt aus den assyrischen Staatsarchiven, die Mitte des 19. Jh.s in den Ruinen von Ninive, der assyrischen Hauptstadt, ausgegraben wurden. Das neuassyrische Prophetiekorpus stammt aus dem 7. Jh. v. Chr. und besteht aus elf Tontafeln, in denen insgesamt 29 einzelne Prophetenorakel an die Könige → Asarhaddon (681-669 v. Chr.) und → Assurbanipal (668-627 v. Chr.) gesammelt sind. Diese Könige beherrschten das assyrische Imperium als Zeitgenossen der in Jerusalem residierenden judäischen Könige → Manasse und → Josia, d.h. die Erwähnung der in diesen Texten vorkommenden Propheten und Prophetinnen (raggimu / raggintu) ist zeitlich zwischen den biblischen Propheten Jesaja und Jeremia anzusetzen.

Die Mehrheit der assyrischen Prophetien sind Worte der Göttin → Ischtar von Arbela, die theologisch als Vermittlerin der Entscheidungen der Götterwelt und als eine Fürsprecherin für den König und sein Land eine wichtige Rolle ausübt und ein besonders nahes Verhältnis zum König hat. Die meisten Orakel sind in einer Situation entstanden, als die Herrschaft des Königs gefährdet war und er deswegen der Bestätigung der göttlichen Unterstützung bedurfte.

Neben den Orakeln steht eine Reihe von neuassyrischen Texten – Inschriften, Briefe, Verwaltungsdokumente, kultische Texte und ein Staatsvertrag – zur Verfügung, die auf die Tätigkeit der Propheten oder deren Auftreten hinweisen. Diese Texte legen vielfach Zeugnis davon ab, wie Prophetie in der neuassyrischen Gesellschaft benutzt und bewertet wurde.

2.4. Einzelne Dokumente aus Mesopotamien

Zusätzliche Belege für das Phänomen Prophetie in Mesopotamien liegen ferner in einer bunten Auswahl einzelner Texten aus verschiedenen Zeiten und Orten vor. Diese Texte, die verschiedenen Gattungen angehören, stammen aus einer weiten Zeitspanne vom 21. bis zum 2. Jh. v. Chr. und ergänzen die Dokumentation um einige interessante Details. Vor allem sind sie in ihrer Summe bemerkenswert als Beleg dafür, dass es überall und in allen Zeiten Prophetie gab – trotz der insgesamt eher zufällig erhaltenen schriftlichen Überlieferung.

2.5. Westsemitische Quellen

Einige äußerst wichtige Einzeltexte bezeugen die Existenz der Prophetie auch im westsemitischen Raum in der ersten Hälfte des 1. Jt.s v. Chr. Der älteste von ihnen, der ägyptische Reisebericht des Wenamon, geht auf die Millenniumswende zurück und berichtet über ein prophetisches Auftreten in → Byblos.

Die jüngeren Texte dieser Gruppe sind in verschiedenen Formen des Aramäischen geschrieben: die Inschrift von Zakkur, des Königs der syrischen Stadt → Hamat (ca. 800 v. Chr.), der in einer Notsituation ein ermutigendes Orakel von Baal-Schamajin (→ Baal) „durch die Hand“ von Propheten (chzh, ‘dd) empfängt, die Inschrift von Tell Dēr ‘Allā (→ Sukkot [Tell Der Alla]) in Transjordanien (ca. 700 v. Chr.), die von einer Gerichtsvision → Bileams, dem Sohn Beors, dem „Seher (chzh) der Götter“, berichtet; dieser Prophet trägt also den gleichen Namen wie der biblische Bileam, und auch die Sprache der Inschrift kann als Hebräisch ebenso gut wie als Aramäisch bezeichnet werden. Darüber hinaus gibt es die ungefähr zeitgenössische Inschrift aus Amman mit einem Orakel des Gottes → Milkom.

2.6. Palästina

Aus Palästina kennen wir – von der hebräischen Bibel abgesehen – nur zwei oder drei Ostraka aus → Lachisch aus dem ausgehenden 7. Jh., die das Wort nb’ enthalten, aber sonst nicht viel zu unserer Kenntnis der judäischen Prophetie beitragen.

2.7. Die Verbreitung der altorientalischen Prophetie

Trotz der relativ hohen Anzahl der oben erwähnten außerbiblischen Texte ist einzuräumen, dass die Zeugnisse für die altorientalische Prophetie zufällig und uneinheitlich sind; der Anteil der Texte außerhalb Maris oder Assyriens beträgt nur etwa ein Achtel der ganzen Dokumentation. Immerhin ist die geographische und chronologische Verteilung dieses Belegmaterials recht eindrucksvoll, was wohl den Schluss erlaubt, dass die Prophetie im Laufe der Geschichte des Alten Orients eine feste und kontinuierliche Tradition besaß. Nur für Ägypten und Ugarit fehlen im bisherigen Quellenmaterial jegliche Zeugnisse, wenn man die oben angeführten Kriterien zugrunde legt. Die Texte, die als „ägyptische Prophetien“ bezeichnet werden, zeugen nämlich nicht von Prophetie, sondern sind als vorhersagende literarische Texte zu charakterisieren. Doch muss das Fehlen von Belegen nicht bedeuten, dass es keine Prophetie gegeben hat. Angesichts der sonstigen erhaltenen Quellen kann man vermuten, dass die Verschriftung der Prophetie entweder nicht die Regel war oder dass schriftlich festgehaltene Orakel nach ihrer unmittelbaren Verwendung weggeworfen und nicht archiviert worden sind.

3. Prophetie, Religion und Gesellschaft im Alten Orient

3.1. Prophetie und Gottesbescheid

Im Gegensatz zu der einst maßgebenden qualitativen Unterscheidung zwischen Prophetie und Divination (d.h. Orakeleinholung, Leberschau, Astrologie und anderer Methoden des Gottesbescheids; → Divination in Israel; → Divination in Ägypten; → Divination im Alten Orient; → Divination in Griechenland), mehren sich heute die Stimmen, die Prophetie als eine unter anderen divinatorischen Methoden sehen wollen. Dies schließt eventuelle Auseinandersetzungen zwischen Propheten und anderen Spezialisten der Divination nicht aus. Wesentlich dabei ist, dass die gesellschaftliche Funktion der Prophetie im großen und ganzen dieselbe ist wie die der anderen divinatorischen Praktiken. Die primäre Funktion aller Divination im Alten Orient war das sogenannte Herrschaftswissen, das eng mit der Institution des Königtums verbunden war. Mit Herrschaftswissen (s. Pongratz-Leisten 1999) ist hier die auf der Kommunikation des Königs mit der Götterwelt beruhende Überzeugung von der Identität, Fähigkeit und Legitimität des Königs sowie der Berechtigung und Begrenzung seiner Herrschaft gemeint. Insofern ist Prophetie, zumindest nach den uns zur Verfügung stehenden Quellen, eng mit der Institution des Königtums verbunden. In ihrer Rolle als Übermittler göttlicher Worte waren die Propheten in der Lage, die göttliche Unterstützung der Herrschaft des Königs zu bestätigen, aber auch gegebenenfalls Mängel in der Ausführung seiner Herrschaft deutlich zu machen.

Im Bereich der Divination gehört die Prophetie zusammen mit → Träumen und → Visionen zur Gruppe der nicht-induktiven Praktiken, m.a.W. zu den Methoden des Gottesbescheids, die weder eine Ausbildung in der Omenliteratur, noch Erfahrung in der Beobachtung physischer Objekte wie z.B. den Sternen oder den Eingeweiden von Opfertieren voraussetzten. Diese waren für die Astrologen, Leberschauer und Exorzisten erforderlich, während die Kunst der Prophetie einen Gemütszustand voraussetzte, in dem es möglich war, der göttlichen Offenbarung teilhaftig zu werden. Was dies im konkreten Sinne bedeutete, ist schwierig zu sagen, aber oft scheint dieser Zustand mit einem veränderten Bewusstsein (der sog. → Ekstase) verbunden gewesen zu sein.

3.2. Die gesellschaftliche Stellung der Propheten

Die Bezeichnung „Prophet“ deutet nicht nur auf die Stellung der Person innerhalb des prophetischen Kommunikationsprozesses hin, sondern verweist auch auf eine gewisse gesellschaftliche Rolle und Funktion, die diese Person von anderen Mitgliedern der Gemeinschaft unterscheidet. Die Prophetenrolle ist allerdings zu verschiedenen Zeiten und in den jeweiligen Quellen so vielgestaltig, dass es sich nicht empfiehlt, einen bestimmten sozialen Hintergrund, ein bestimmtes Verhalten oder eine spezifische Ausdrucksweise als exklusives Kennzeichen der Prophetie zu definieren. Was die Propheten von anderen unterscheidet, ist ihre Fähigkeit, als Sprachrohr von Gottheiten anerkannt zu sein.

Im praktischen Sinne bedeutet dies, dass die Propheten in der Regel mit den Tempeln der Gottheiten, deren Worte sie verkündigten, fest verbunden waren. Als Mitglieder der Tempelgemeinschaften lebten sie getrennt von der übrigen Gesellschaft. Die Rolle der Propheten ist also sehr verschieden von der der Gelehrten wie Astrologen und Leberschauer, deren Ansehen zumindest in den mesopotamischen Gesellschaften viel höher gewesen zu sein scheint als das der Propheten. Die Könige von Mari und Assyrien waren in einem ständigen und direkten Kontakt mit den Gelehrten, während die Prophetenorakel ihnen zumeist durch Vermittlung von anderen zur Kenntnis gebracht wurden. Es ist auch bemerkenswert, dass unter den Propheten des Alten Orients eine beträchtliche Anzahl an Frauen zu finden ist, während die Gelehrten ausnahmslos Männer waren. Auch dies weist auf eine andere gesellschaftliche Stellung hin.

Die prophetische Tätigkeit schließt nicht notwendig andere gesellschaftliche Rollen aus, und die Stellung der Propheten variiert je nach dem, wie die Prophetie als Phänomen von der Gemeinschaft gewürdigt wird. Die gewöhnliche Zweiteilung in die freien, charismatischen Propheten einerseits und die sogenannten Kult- oder Hofpropheten andererseits gilt nicht mehr als eine grundlegende und allgemeine Unterscheidung, selbst wenn der einzelne, von Autoritäten und Institutionen unabhängige prophetische Dissident immer noch oft als Urbild des Propheten angesehen wird. Dieser Prototyp hat sicher ein biblisches Vorbild (z.B. Amos in Am 7,14-15), ist aber nicht einfach mit historischen Gegebenheiten gleichzusetzen.

Außerdem ähnelt die Gegenüberstellung von freien und institutionellen Propheten all zu sehr der Unterscheidung von „wahrer“ und „falscher“ Prophetie. Diese Unterscheidung gehört zwar nicht zur wissenschaftlichen Definition von Prophetie, war aber höchst relevant für die Adressaten der Prophetie, denen es letzten Endes anheimgestellt war zu entscheiden, welchen Propheten zu folgen sei. In der sozialen Dynamik des prophetischen Kommunikationsprozesses spielen die Komponenten des Glaubens und des Bekenntnisses eine entscheidende Rolle, hängt doch die Akzeptanz der Prophetie im Wesentlichen von der allgemeinen Akzeptanz der sich so zu Wort meldenden Gottheit ab.

Eben deswegen kann die prophetische Kommunikation nicht als Einbahnstraße, sondern muss als Wechselwirkung zwischen der Prophetie mit der gesellschaftlichen Hierarchie und dem Glaubenssystem der jeweiligen Gemeinschaft verstanden werden. Es waren auch andere Menschen als die Propheten und die Adressaten in dem prophetischen Kommunikationsprozess beteiligt: Vermittler, Interpreten, Schreiber und Archivare, Offiziere, die die prophetische Tätigkeit im Auge behielten und, letzten Endes, das eigentliche Publikum.

3.3. Prophetie und Weissagung

Wenn die Übermittlung der göttlichen Botschaft als die wichtigste Funktion der Prophetie anzusehen ist, so ist der eventuell vorhersagende Aspekt dieser Funktion untergeordnet. Allerdings ist das auf die Zukunft ausgerichtete Verständnis des Wortes „Prophetie“ in der Alltagssprache nicht ganz unbegründet, sind doch die Prophetien sehr oft auf die eine oder andere Art futurisch ausgerichtet. Im Alten Orient sind die Prophetenorakel ebenfalls keine exakten Beschreibungen zukünftiger Ereignisse, sondern das vorhersagende Element ist mit dem von dem Propheten angekündigten göttlichen Plan in der Gegenwart verbunden. Die prophetische Vorhersage, wie Prophetie überhaupt, hat die Funktion einer göttlich-menschlichen Kommunikation. Insofern diese Kommunikation mit der Zukunft zu tun hat, wie es z.B. gerade in den Maribriefen der Fall ist, mögen die Prophetenorakel auch Zukunft deuten, das heißt aber nicht, dass alle Zukunftsdeutungen deshalb als Prophetie anzusehen sind.

3.4. Literarische Prophetenauslegung

In den außerbiblischen Quellen ist der relativ kurze zeitliche Unterschied zwischen dem prophetischen Auftritt und dem literarischen Dokument keineswegs mit dem jahrhundertelangen Interpretationsvorgang der biblischen Bücher zu vergleichen. Andererseits hat die literarische Neuinterpretation der älteren Prophetensprüche am Text der Prophetenbücher der hebräischen Bibel einen beträchtlichen Anteil. Daraus resultiert die Frage, ob diese Fortschreibung überhaupt Prophetie genannt werden kann.

Es verdient Beachtung, dass schon die neuassyrischen Sammlungen von Prophetenworten von einem Wiedergebrauch der Prophetie in neuen historischen Situationen zeugen. Und prophetische Worte werden auch in literarischen Kontexten wiedergegeben, entweder als Zitate aus schriftlichen Quellen oder aber auch als freie Paraphrasen, denen nicht notwendig ein ursprüngliches Orakel als Vorlage diente. Diese Dokumentation ist nicht sehr umfangreich, vermag aber zu belegen, dass der prophetische Kommunikationsprozess auch in Assyrien nach der Erstveröffentlichung der Prophetensprüche fortgesetzt werden konnte. Eine Definition von Prophetie sollte deshalb die literarischen Zeugnisse der schriftlichen Interpretation der Prophetie nicht ausschließen, sondern diese besser als eine sekundäre Fortsetzung des Kommunikationsprozesses wahrnehmen.

Literaturverzeichnis

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Abbildungsverzeichnis

  • Orte, in denen Prophetinnen oder Propheten bezeugt sind. © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

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