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Priester (Alter Orient)

(erstellt: Januar 2011)

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1. Definition

Die Betrachtung priesterlicher Ämter hängt in den mesopotamischen Religionen von der Definition des Wortes „Priester“ ab. Im Hinblick auf die geographische Ausdehnung Mesopotamiens und die Dauer der Keilschriftkulturen (von den Sumerern bis zur Epoche der Seleukiden, d.h. drei Jahrtausende) haben sowohl das Amt des Priesters als auch die Hierarchie des Klerus große Veränderungen je nach Zeit, Ort (→ Assyrien, → Babylonien oder Provinzen), lokalen Traditionen und der Größe eines Tempels erfahren. Die überlieferten Quellen erlauben keine globale und genaue Perzeption der religiösen Organisationen, sondern stellen Einzelaspekte eines komplexen Systems dar.

Im Allgemeinen ist der mesopotamische Priester, wie im Alten Ägypten, der Spezialist, der sich um den Kult innerhalb des Tempels kümmert und der die Verbindung zwischen einer oder mehreren Gottheiten und der Bevölkerung aufrecht erhält. Parallel zu diesem ritualisierten Aspekt von Frömmigkeit spielen der König auf Staatsebene sowie der Familienvater auf privater Ebene auch die Rolle des Mittlers zu einer Gottheit. Neben den Priestern, deren Aufgaben im engeren Sinne im kultischen Bereich liegen, sind eine große Anzahl von Personen bezeugt, die unentbehrlich für die Mikro-Ökonomie des Tempels und den reibungslosen Ablauf des Kultes waren, die jedoch nicht als Priester bezeichnet werden. Es handelt sich hierbei um administrative Bedienstete, wie Schreiber und Schatzmeister sowie das sog. „technische“ Personal, welches die Besorgung und die Verteilung der Opfergaben leitet und für die Bereitung der Speisen verantwortlich ist (z.B. Schlachter, Bäcker, Brauer, Mundschenk), oder das Personal, das die Wartung des sakralen Bereichs überwacht (z.B. Schreiner, Töpfer, Gärtner, Wäscher). Das Tempelpersonal wird jährlich im Rotationsprinzip zum Tempeldienst herangezogen, wobei es sich hierbei um ein Pfründensystem handelt, welches delegiert werden kann, das aber von Vater zu Sohn vererbt wird.

2. Tätigkeiten

Die Priester lebten nicht im Tempel, sondern in Privatunterkünften in der Nähe des Tempelkomplexes. Die sakralen Ämter wurden meist von Vater zu Sohn weitergegeben. Unabdingbare Voraussetzung für die Tätigkeit der Priester war ihre körperliche Reinheit und einige Rituale beschreiben genau, wie sie sich vorzubereiten hatten, um mit reinem Körper und reinem Mund mit den Göttern zu sprechen. Priester erhielten keinen Lohn, aber Lebensmittelrationen sowie Dinge des täglichen Bedarfs. Nach der biblischen Erzählung von → Bel und dem Drachen, die zu den griechischen Zusätzen des Danielbuchs gehört, opferten die Priester dem Gott Bel (Marduk) täglich 40 Schafe, Mehl und Wein und verzehrten sie selbst (ZusDan 2,1-22 [Lutherbibel: ZusDan 2,1-21]). Dies verweist auf die institutionalisierte Praxis der Wiederverteilung der Opfergaben, von denen die Götter nur das Nötigste zu sich nahmen. In Mesopotamien wurden die Lebensmittel in einer festgelegten Ordnung zwischen den Mitgliedern des Klerus, einigen Gebildeten im Dienste des Königs und selbst den Prinzen verteilt.

Der oberste Priester (sumerisch EN, akkadisch ēnum) oder die oberste Priesterin (sumerisch EREŠ.DINGIR, akkadisch ēntum) stehen an der Spitze eines großen Heiligtums, oft das eines Urgottes. In ihrem hauptsächlich administrativen Amt unterstehen ihnen die Priester, die für die Durchführung des Kultes zuständig sind. Oft von königlicher Abstammung, befindet sich der oberste Priester im Dienste einer Göttin und die oberste Priesterin im Dienste eines Gottes, der ihr Ehepartner genannt wird. Andere, ähnliche Funktionen sind in den Quellen zwar belegt, aber nicht ausreichend definiert.

Das Amt des Tempelherrn (sumerisch SANGA, akkadisch šangû) ist in allen Epochen und in allen Formen von Heiligtümern belegt. Der Tempelherr leitet den Tempel, dessen Angestellte und spielt eine Rolle bei theologischen Entscheidungen. Der Kultpriester (meist sumerisch GUDU4, akkadisch pašīšu) ist für die Pflege der Götter, das Spenden von Opfergaben und die Durchführung der Rituale verantwortlich. In den wichtigsten Tempeln hilft ihm das „technische“ Personal bei der Bereitung der Opfer. Dem Reinigungspriester (sumerisch IŠIB oder SÁNGA.MAḪ, akkadisch išippu oder sangammāḫu) obliegt die kultische Reinigung des Tempels, der Kultinstrumente sowie des Personals. Diese führt er mit Hilfe von Wasser, Öl, Weihrauch und begleitet von rituellen Rezitationen durch.

Andere Angestellte gewährleisten ebenfalls die Verbindung zwischen der transzendenten und der irdischen Welt, selbst wenn sie nicht, da weder zeitweilig noch dauerhaft an einen Tempel gebunden, im engeren Sinne Priester sind und auch nicht im Dienste eines einzelnen Gottes stehen. Es handelt es sich um Beschwörer (u.a. sumerisch LÚ.MAŠ.MAŠ, akkadisch āšipu), die Reinigungsrituale durchführen oder als Berater bei punktuellen Ereignissen in Krisenzeiten (z.B. schlechte Vorzeichen innerhalb des Heiligtums) fungieren. Sie gehören zu den ērib bīti (literarisch „die Zutritt zum Tempel haben“) und gewährleisten einen Kultdienst im Rahmen der jeweiligen Pfründe. Einigen lokalen Traditionen zufolge war, wie etwa im Aššur-Tempel in → Assur, ein Beschwörer zugegen.

Von mehreren Berufsgruppen werden Wahrsagungen vorgenommen, die den göttlichen Willen im Rahmen von Fragen der Vorsehung oder der Interpretation von Zeichen (der „Seher“ bārû) erkunden oder die im Rahmen spontaner göttlicher Offenbarungen (→ Prophetie [Alter Orient], z.B. der „Rufer“ raggimu oder „Frager“ šā’ilu) agieren.

Abhängig von der jeweiligen Epoche, gehören Klagesänger zum Tempel; ab dem 1. Jahrtausend v. Chr. dienen sie sowohl dem Tempel als auch dem Königshof. Sie singen Lieder zur Beschwichtigung der Götter in verschiedensten Situationen (Todesfälle, Baugründungen, Kriege, Erdbeben etc.). Die Sänger (sumerisch GALA, akkadisch kalû) begleiten die Rituale mit oder ohne Instrumente als Solisten und in Chören, wobei bisweilen auch die Anwesenheit von Tänzern und Akrobaten belegt ist.

Am Ende des 1. Jahrtausends sind den Tempeln neben Priestern und Gelehrten zunehmend Beschwörer und Klagesänger unterstellt und werden damit zu Hütern einer im Untergang befindlichen Keilschriftkultur.

3. Frauen

Außer dem Amt der obersten Priesterin konnten Frauen auch andere religiöse Funktionen ausüben. Am besten bekannt ist die Stellung der nadītu, die in einer Art Kloster lebte und kinderlos bleiben musste und daher eher als eine Nonne denn eine Priesterin zu verstehen ist. Sie stammte oft aus den besten Kreisen oder aus der königlichen Familie und ist dem Kult seit ihrer Kindheit geweiht. Sakrale Prostitution ist bei Priesterinnen nachweisbar, die an die Tempel einer Göttin gebunden sind.

4. Bildliche Darstellung

Bilddokumente zeigen Priester häufig mit hohen konischen Mützen oder einer Wulstrandkappe, langer Kleidung (Flachs oder Wolle), ohne Bart und mit geschorenem Kopf. Demgegenüber sind die selten dargestellten Priesterinnen mit offenem Haar, das von einem Diadem gehalten wird, und langem Gewand wiedergegeben.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Reallexikon der Assyriologie und vorderasiatischen Archäologie, Berlin 1928ff
  • Der Neue Pauly, Stuttgart / Weimar 1996-2003
  • Dictionnaire de la civilisation mésopotamienne, Paris 2001 (Art. Prébendes; Prêtres, prêtresses; Prières)

2. Weitere Literatur

  • (Anonym), 1975, Le Temple et le Culte. Compte rendu de la vingtième Rencontre Assyriologique Internationale organisée à Leiden du 3 au 7 juillet 1972 (Publications de l'Institut historique et archéologique néerlandais de Stamboul = PIHANS 37), Leiden
  • Beaulieu, P.-A., 2003, The Pantheon of Uruk During the Neo-Babylonian Period (Cuneiform Monographs 23), Leiden
  • Borger, R., 1973, Die Weihe eines Enlil-Priesters, Bibliotheca Orientalis 30, 163-176
  • Charpin, D., 1986, Le clergé d’Ur au siècle d’Hammurabi, Genf / Paris
  • Frahm, E., 2002, Zwischen Tradition und Neuerung: Babylonische Priestergelehrte im achämenidenzeitlichen Uruk, in: R.G. Kratz (Hg.), Religion und Religionskontakte im Zeitalter der Achämeniden, Gütersloh, 74-108
  • Harris, R., 1964, The nadītu Women, in: R. Biggs / J. Brinkman (Hgg.), Studies Presented to A. Leo Oppenheim (from the Workshop of the Chicago Assyrian Dictionary), Chicago, 106-135
  • Henshaw, R.A., 1994, Female and Male: The Cultic Personnel. The Bible and the Rest of the Ancient Near East (Princeton Theological Monograph Series 31), Allison Park
  • Linssen, M.J.H., 2002, The Cults of Uruk and Babylon. The Temple Ritual Texts as Evidence for Hellenistic Cult Practice (Cuneiform Monographs 25), Leiden
  • MacEwan, G.J.P., 1981, Priest and Tempel in Hellenistic Babylonia (Freiburger altorientalische Studien 4), Wiesbaden
  • Menzel, B., 1981, Assyrische Tempel (Studia Pohl SM 10), Rom

Abbildungsverzeichnis

  • Im Tempel steht ein Beter vor einer thronenden Gottheit (links); gefolgt von einem Priester mit einem Gefäß sieht man den König vor einem Altar mit Gaben, einem Räucheraltar und einem Wasserkessel; rechts wird ein Stier geopfert (Obelisken Assurnasirpals II.; 884-858 v.Chr.). © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

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