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Präexistenz (AT)

(erstellt: Februar 2013)

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1. Begriff und Differenzierungen

Von der Präexistenz einer Sache oder einer Gestalt ist in unterschiedlichen philosophischen und theologischen Kontexten die Rede. In der Regel wird damit einer Sache bzw. einer Gestalt zugeschrieben, bereits vor ihrer irdischen Manifestation, gewissermaßen schon immer, existiert zu haben. Je nach Diskussionszusammenhang geht es um das Postulat eines nicht-zeitlichen, vor-weltlichen, himmlischen oder nicht-geschöpflichen Daseins. Ein solches Dasein kann ideell oder real gedacht sein (ideelle vs. reale Präexistenz).

Im Rahmen monotheistisch geprägter religiöser Symbolsysteme, insbesondere im Zusammenhang mit der Vorstellung von Gott als dem Schöpfer der Welt, wird eine Präexistenz Gottes vorausgesetzt. Darüber hinaus diskutierten jüdische, christliche und islamische Theologien im Laufe der Zeit vor allem die Präexistenz herausragender Männer (z.B. der Erzväter, der Messiasfigur, besonders von Jesus Christus, aber auch des Propheten Mohammed), die Präexistenz autoritativer Schriftkorpora (Tora; Koran), die Präexistenz kollektiver Größen wie Israel oder Kirche und – auf anthropologischer Ebene – die Präexistenz der menschlichen Seelen.

In schöpfungstheologischer Hinsicht impliziert das zeitliche ein qualitatives Vorgeordnetsein. Ferner wird zwischen einer relativen und einer absoluten Präexistenz unterschieden. Bei dieser Differenzierung geht es um die Frage, in welchem Verhältnis die als präexistent gedachte Größe zu den übrigen Schöpfungswerken steht: Wurde sie lediglich vor diesen geschaffen oder steht sie als nicht-geschaffene Größe (und damit qualitativ noch deutlicher von ihnen abgehoben) über ihnen?

Bibelwissenschaftlich wird die Vorstellung einer Präexistenz vorwiegend in Zusammenhang mit der Schöpfungstheologie (Altes Testament) und der Christologie (Neues Testament) diskutiert.

2. Präexistenz-Vorstellungen im Alten Testament

In der alttestamentlichen Literatur sind Präexistenz-Vorstellungen vorwiegend in jüngeren, nachexilischen Texten und erst in Ansätzen formuliert. Explizite Äußerungen finden sich einerseits in → doxologischen Aussagen (JHWH betreffend), andererseits in weisheitlichen Texten, die von der → Weisheitsgestalt handeln und ihr als Gestalt, die bereits vor der Erschaffung von Erde und Himmel da war, eine Sonderstellung neben JHWH zuschreiben. Schließlich lassen Texte, die eine enge Beziehung zwischen → Weisheit, göttlicher (Natur-)Ordnung und der → Tora, dem offenbarten Gesetz, postulieren, implizit eine Art Präexistenz der Letzteren in den Blick kommen. In keinem der Texte geht es um eine systematische Reflexion des Postulats. Im Vordergrund steht das Bemühen, JHWHs Souveränität, Zuverlässigkeit und Beständigkeit bzw. die Beständigkeit seiner Ordnung und seiner Weisungen zu betonen und der Leserschaft damit optimistisch zu signalisieren, dass es einen Weg gibt, Gottes heilsame Nähe zu finden.

Der Gedanke einer Präexistenz der Seelen ist den alttestamentlichen Texten fremd. Ps 139 illustriert allerdings, dass man Gottes Größe im Vertrauen darauf preisen konnte, dass Gott schon vor der Geburt eines Menschen um dessen Leben gewusst hat:

Als ich geformt wurde im Dunkeln, kunstvoll gewirkt in den Tiefen der Erde, waren meine Glieder dir nicht verborgen. Deine Augen sahen, wie ich entstand, in deinem Buch war schon alles verzeichnet; meine Tage waren schon gebildet, als noch keiner von ihnen da war. (Ps 139,15-16)

2.1. JHWH als Schöpfergott und Thronender seit ferner Zeit

Die alttestamentlichen Texte sprechen an keiner Stelle vom Werden JHWHs oder anderer Gottheiten (Theogonie), beschreiben Gott jedoch in vielfältiger Weise als Schöpfer (→ Gott / Gottesbild, bes. 4.2.; → Schöpfung). Damit suggerieren sie, dass Gott vor allem anderen und in diesem Sinn schon immer da war. Die Pointe dieser Aussage ist jedoch nicht ontologisch-philosophischer Art. Der priesterschriftliche Schöpfungsbericht (Gen 1,1ff.) hebt z.B. JHWHs Herrlichkeit hervor, indem „die Vorwelt als ein unheilsamer und lebensfeindlicher Zustand dem göttlichen Schöpfungsakt vorangestellt ist. Dieser Zustand dient als Folie, von welcher sich das göttliche Werk in seiner Größe abhebt.“ (Bauks, 319). Auch in Gebetstexten wird die Vorstellung einer Präexistenz JHWHs vornehmlich im Kontext des Gotteslobes aufgegriffen. In Ps 90 wird um Gottes Zuwendung gebeten, nachdem u.a. preisend konstatiert wurde:

Ehe (בְּטֶרֶם) die Berge geboren wurden, die Erde entstand und das Weltall, bist du, o Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit (מֵעוֹלָם עַד־עוֹלָם). (Ps 90,2; vgl. Jes 40,28; Sir 42,21 [nicht in Lutherbibel])

Ps 93 illustriert, wie sich beim Lobpreis die Rolle des Schöpfergottes mit dem Bild von Gott als König (→ Königtum Gottes), der seit ferner Zeit thront, verschränken ließ:

Der Herr ist König, bekleidet mit Hoheit; der Herr hat sich bekleidet und mit Macht umgürtet. Der Erdkreis ist fest gegründet, nie wird er wanken. Dein Thron steht fest von Anbeginn (מֵאָז), du bist seit Ewigkeit (מֵעוֹלָם). (Ps 93,1-2)

In Ps 55,20 vermag das Bild des seit Urzeit Thronenden einem Menschen in Not zu versichern, dass seine Peiniger nicht das letzte Wort haben. Durch den Aufruf, Gott sei „von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (מִן־הָעוֹלָם וְעַד הָעֹלָם) zu preisen bzw. zu segnen (→ Segen), wird schließlich am Anfang oder am Ende eines Gebets formelhaft ein immerwährendes und damit machtvolles Dasein Gottes beschworen (vgl. Ps 41,14; Ps 106,48 = 1Chr 16,36; Neh 9,5; 1Chr 29,10; Dan 2,20).

2.2. Weisheit und Weisung als präexistente Größen

Den im Folgenden präsentierten alttestamentlichen Texten kommt v.a. im Bereich zweier Diskussionsfelder Relevanz zu: Erstens sind es die zentralen Quellentexte, um der Frage nach dem Alter und der Verwurzelung späterer Präexistenz-Aussagen nachzugehen (vgl. Schimanowski; Boccaccini; Strotmann). Zweitens geben sie Aufschluss über ein noch immer eher unterbelichtetes Kapitel der nachexilischen Religions- und Theologiegeschichte, bei dem sich zugleich exemplarisch die Frage nach dem Gewicht rhetorischer Aussagen und der Bedeutung metaphorischer Rede stellt (vgl. Marböck; Baumann): Erlauben es die Texte, von der Weisheit als Hypostase JHWHs zu reden? Inwiefern lassen sich im Weisheitsdiskurs (→ Weisheit) im Rahmen der Monotheismus-Thematik Spuren der Göttin festmachen? Was bedeutet es theologisch, die Weisheit als poetische Personifikation zu verstehen? Auf systematisch-theologischer Ebene steuern die Texte biblische Positionen zur Frage der Vermittlung zwischen Gott und der Welt bei (vgl. Leuenberger, 385).

2.2.1. Sprüche 8

Von der Weisheit (hebräisch: חָכְמָה ḥokhmāh; griechisch: σοφία sophia) als Größe, die schon vor der Erschaffung der Welt neben Gott existiert hat, spricht am ausführlichsten Spr 8. Die Weisheit präsentiert sich hier personifiziert als dynamische Gestalt (→ Weisheit, Personifikation), die sich als den Menschen zugängliches Gegenüber anpreist (Spr 8,4.17) und ihnen verspricht, den richtigen Weg zu einem gelungenen Leben zu weisen. Indem sie in Spr 8,22-31 von ihrer Herkunft spricht, autorisiert sie das Gesagte: Sie war da, bevor die Welt war, und sie war zugegen, als Gott Himmel und Erde schuf. Der Text signalisiert, dass den Menschen in der Weisheit das „Prinzip der göttlichen Schaffenslust“ (Keel / Schroer, 220) begegnet.

2.2.2. Hiob 28

Indem sie von einer eigenständigen Präsenz der Weisheit bei der Erschaffung der Welt reden, gehen neben Spr 8 noch weitere Texte über die Aussage hinaus, Gott habe seine Werke „in Weisheit“ (בְּחָכְמָה), also weise geschaffen (Ps 104,24; Spr 3,19; vgl. Weish 9,2). Nach Hi 28 kennt kein Mensch, nur Gott den Aufenthaltsort der Weisheit. Die Erschaffung der Welt wird als konkrete Situation genannt, bei der Gott sie „gesehen, gezählt, festgestellt und erforscht hat“ (Hi 28,23-27). Für Menschen bleibt sie die „verborgene Weltformel“ (Keel / Schroer, 218).

2.2.3. Jesus Sirach und Baruch

Im Buch → Jesus Sirach wird die Weisheit explizit als erstes Schöpfungswerk vorgestellt (Sir 1,4.9; Sir 24,8-9 [Lutherbibel: Sir 24,12-14]). Wie in Spr 8 informiert die Weisheit in Sir 24 in werbender Weise über sich und ihre Herkunft. Gegenüber Spr 8 wird ihr irdischer Wohnort klar umrissen: Gott teilte ihr Israel, näherhin Jerusalem als Wohn- und Wirkungsstätte zu. Dort, so teilt sie mit, konnte sie einem edlen Gewächs gleich Wurzeln fassen und prächtig gedeihen (Sir 24,12-17 [Lutherbibel: Sir 24,16-18]; vgl. Sir 1,10).

Den Bogen von der Vorweltpräsenz der Weisheit hin zu ihrer Präsenz in Israel spannt auch das → Baruchbuch (Bar 3,15-4,1). Auf den ersten Blick scheint Baruch ähnlich wie Hi 28 die Zugänglichkeit der Weisheit für die Menschen prinzipiell zu verneinen und allein JHWH zuzugestehen (Bar 3,15.31-32). Dieses Statement wird jedoch in zwei Schritten in eine neue Richtung weitergesponnen. Zuerst dahingehend, dass von JHWH gesagt wird, er habe die Weisheit seinem Liebling, Israel, verliehen, womit sie auf der Erde erschienen sei (Bar 3,37-38). Sodann folgt die nähere Umschreibung der Weisheit:

Sie ist das Buch der Gebote Gottes (ἡ βίβλος τῶν προσταγμάτων τοῦ θεοῦ), das Gesetz (ὁ νόμος), das ewig besteht. (Bar 4,1)

Auch im Buch Jesus Sirach wird das Gesetz als Weg zur Weisheit (Sir 15,1) oder gar als Weisheit selbst angepriesen (Sir 24,23 [Lutherbibel: Sir 24,32]). Indem beide Schriften die Weisheit mit den Erwählungstraditionen verbinden und gewissermaßen „israelitisieren“ (vgl. Marböck, 72.130-131), bekommt umgekehrt das den Menschen offenbarte Gesetz, die Tora bzw. Weisung, die Qualität des Ewig-Beständigen. Explizite Äußerungen zur Präexistenz der Tora findet man freilich erst in späteren Schriften, z.B. in rabbinischen Texten (vgl. Bereschit Rabba 1,4; Babylonischer Talmud, Traktat Pesachim 54a).

2.2.4. Buch der Weisheit

In der jüngsten alttestamentlichen bzw. deuterkanonischen Weisheitsschrift finden verschiedene Vorstellungen in nochmals neuer Weise zusammen: Der Weisheit wird auch hier eine Sonderrolle bei der Schöpfung zugesprochen (Weish 9,9). Sie wird als den Menschen zugänglich beschrieben (Weish 6,12-16), bleibt aber als Gnadengabe Gottes im Blick (Weish 8,21). Personifiziert erscheint sie als diejenige, die neben Gott thront (Weish 9,4) und die der königliche Weise als Braut und Lebensgefährtin begehrt (Weish 8,2; Weish 8,9). Schließlich wird ihr die Rolle der Hüterin und Retterin der Menschheit und des israelitischen Volkes zugeschrieben (Weish 10,1-11,4). In Rückgriff auf die traditionelle Weisheitsrhetorik, aber auch mit deutlichen Anklängen an die zeitgenössische, ptolemäisch-römische Isis-Theologie zeichnet das Buch der Weisheit eine erhabene jüdische Weisheitsgestalt, die für die Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit der im Buch der Weisheit vermittelten Einsichten bürgt. Auf textpragmatischer Ebene erinnert es damit an Spr 8, beglaubigt aber gerade nicht, was dort zuversichtlich über den Lohn der Weisheit ausgesagt wird: Wer sich um Weisheit bemüht, so das Buch der Weisheit, kann diesen nicht für irdische Zeiten erwarten, die durch die Taten frevelnder Menschen pervertiert sind, sondern erst nach dem Verlassen dieser Welt (Weish 3,1-6). Neben der vorweltlichen kommt eine nachweltliche Präsenz der Weisheit in den Blick.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
  • Calwer Bibellexikon, 2. Aufl., Stuttgart 2006

2. Weitere Literatur

  • Bauks, M., 1997, Die Welt am Anfang. Zum Verhältnis von Vorwelt und Weltentstehung in Gen 1 und in der altorientalischen Literatur (WMANT 74), Neukirchen-Vluyn
  • Baumann, G., 1996, Die Weisheitsgestalt in Proverbien 1-9. Traditionsgeschichtliche und theologische Studien (FAT 16), Tübingen
  • Boccaccini, G., 1995, The Preexistence of the Torah. A Commonplace in Second Temple Judaism, or a Later Rabbinic Development?, Henoch 17, 329-350
  • Keel, O. / Schroer, S., 2. Aufl. 2008, Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen, Göttingen / Fribourg
  • Küchler, M., 1979, Frühjüdische Weisheitstraditionen. Zum Fortgang weisheitlichen Denkens im Bereich des frühjüdischen Jahweglaubens (OBO 26), Fribourg
  • Leuenberger, M., 2008, Die personifizierte Weisheit vorweltlichen Ursprungs von Hi 28 bis Joh 1. Ein traditionsgeschichtlicher Strang zwischen den Testamenten, ZAW 120, 366-386
  • Marböck, J., 1971, Weisheit im Wandel. Untersuchungen zur Weisheitstheologie bei Ben Sira (BBB 37), Bonn
  • Schimanowski, G., 1985, Weisheit und Messias. Die jüdische Voraussetzungen der urchristlichen Präexistenzchristologie (WUNT 17), Tübingen
  • Strotmann, A., 2004, Relative oder absolute Präexistenz? Zur Diskussion über die Präexistenz der frühjüdischen Weisheitsgestalt im Kontext von Joh 1,1-18, in: M. Labahn / K. Scholtissek / A. Strotmann (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium (FS J. Beutler), Paderborn / München / Wien / Zürich, 91-106
  • Zenger, E., 1973, Die späte Weisheit und das Gesetz, in: J. Maier / J. Schreiner (Hgg.), Literatur und Religion des Frühjudentums. Eine Einführung, Würzburg, 43-56

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