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Postcolonial Studies

(erstellt: April 2022)

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1. Einführung

Dieser Artikel gibt Einblick in die „postcolonial studies“, die seit den 1990er Jahren in den englischsprachigen Bibelwissenschaften breit rezipiert und diskutiert werden. Mit einem Fokus auf die Forschung zum Neuen Testament werden wichtige Fragestellungen, Publikationen und Debatten zusammengefasst. Hinweise auf postkoloniale Auseinandersetzungen mit biblischen Texten sollen diesen relativ jungen Forschungsstrang möglichst greifbar machen und zum Weiterlesen anregen.

1.1. Politischer Zusammenhang

Auch wenn es sich bei den „postcolonial studies“ um einen akademischen Diskurs handelt, ist der politische Zusammenhang, aus dem heraus dieser Diskurs entstand, immer mitzubedenken. Die „postcolonial studies“ sind eine Folge der Befreiungskämpfe und Widerstandsbewegungen, die sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts gegen die europäischen Kolonialmächte richteten. Im Zuge der damit verbundenen Veränderungsprozesse kam das ungeheure Ausmaß kolonialer Gewalt mit ihren politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Konsequenzen zum Vorschein. Kritisch verarbeitet und zur Sprache gebracht wurden diese zunächst in der Literatur und in den Literaturwissenschaften. Heute beschäftigen sich neben Literatur und Kunst zahlreiche Wissenschaftsdisziplinen mit dem kolonialen Erbe in seinen verschiedenen Formen, darunter auch die Theologie und die Bibelwissenschaften. Im Zentrum steht die Einsicht, dass mit dem Ende der Kolonialherrschaften keineswegs alle kolonialen Machtverhältnisse beseitigt wurden, sondern dass Nachwirkungen des Kolonialismus das Leben von Milliarden von Menschen an verschiedenen Orten der Erde bis heute einschneidend prägen.

1.2. Theoretischer Hintergrund

Postkoloniale Theorien gehen u.a. auf die Arbeiten von Edward W. Said, Gayatri Chakravorty Spivak und Homi K. Bhabha zurück. Diese drei Autor:innen haben in den 1970er, 80er und 90er Jahren Texte veröffentlicht, die ein komplexes Problembewusstsein für die Geschichte des Kolonialismus weckten und mit verschiedenen analytischen Interventionen zahlreiche Debatten und weiterführende Theoriebildungen ermöglichten. Die drei vermutlich meistzitierten Werke sind das Buch Orientalism (Said 1978), das Essay Can the Subaltern Speak? (Spivak 1988) und die Essay-Sammlung The Location of Culture (Bhabha 1994). Durch diese und weitere Texte entstand ein theoretisches Vokabular, das sich inzwischen auch in der Arbeit mit biblischen Texten etabliert hat: Orientalismus, Mimikry, Hybridität, Subalterne, Kontaktzone oder Dritter Raum sind nur einige Begriffe, die sich Bibelwissenschaftler:innen in den vergangenen 20 Jahren zu eigen gemacht haben.

Wer sich mit den „postcolonial studies“ vertieft auseinandersetzen will, wird immer wieder mit gewissen Unschärfen umgehen müssen. So ist allein die Bedeutung des lateinischen Präfixes „post“ in der Rede von den „postcolonial studies“ komplex. Dieses Präfix wird meist nicht als eine zeitliche Markierung verstanden, so als ob sich die Forschung auf eine Ära nach dem Ende der Kolonialgeschichte richtete. Das Adjektiv „postcolonial“ markiert vielmehr eine theoretische Haltung, die sich in der Auseinandersetzung mit dem Erbe der Kolonialgeschichte gebildet hat und neue Zugangsweisen zu Texten sowie politischen, historischen und kulturellen Prozessen ermöglicht. Versuche, zwischen einem zeitlich verstandenen „post-colonial“ (mit Bindestrich) und dem literaturwissenschaftlich geprägten Begriff „postcolonial“ (ohne Bindestrich) zu unterscheiden, ziehen sich nach meiner Beobachtung nicht durch. Umgekehrt bedeutet dies auch, dass Neutestamentler:innen Erkenntnisse der postkolonialen Theorie auf die Zeit der römischen Kolonialherrschaft im 1. Jahrhundert anwenden können, ohne dass dieser Schritt von vorneherein als Anachronismus kritisiert werden muss. Denn die Analyse einer postkolonialen Problematik des 20. Jahrhunderts kann sehr wohl den Blick für einen biblischen Text schärfen, der vor 2000 Jahren aus einer von Rom kolonisierten Bevölkerungsgruppe entstand.

1.3. Postkolonialismus und kontextuelle Hermeneutik

Gerade in den Bibelwissenschaften gibt es allerdings auch zahlreiche Autor:innen, die ihre Arbeit als „postcolonial“ bezeichnen, ohne sich damit einer bestimmten postkolonial geschulten theoretischen Haltung zu verpflichten. Stattdessen wird der Begriff gebraucht, um sich kontextuell zu verorten. Beispielsweise ist die bibelwissenschaftliche Arbeit von Obvious Vengeyi auf konsequente Weise im postkolonialen Zimbabwe situiert. Seine Lesart biblischer Texte zur → Sklaverei muss als postkolonial bezeichnet werden, auch wenn sich der Autor nicht in der Tradition der von Said, Spivak oder Bhabha geprägten „postcolonial studies“ verortet. Vengeyis Arbeit ist postkolonial schlichtweg deswegen, weil sie Bibeltexte vor dem Hintergrund der sozialen und wirtschaftlichen Not ehemals kolonisierter Bevölkerungsgruppen analysiert. Vengeyi steht für eine stetig wachsende Anzahl an Stimmen aus Ländern des Südens, die sich vermehrt in den bibelwissenschaftlichen Diskurs einmischen und ihre Arbeit im Sinn der kontextuellen Hermeneutik mit gutem Grund als postkolonial bezeichnen. Dadurch bleibt der Gebrauch des Wortes „postcolonial“ offen und setzt nicht zwangsläufig eine Affinität zu einer bestimmten Theoriebildung voraus.

1.4. Offenheit des Begriffs

Doch auch in den bibelwissenschaftlichen Beiträgen, die sich der postkolonialen Theorie verpflichtet fühlen, ist die Unschärfe des Begriffs ein wiederkehrendes Thema. Versuche, eine postkoloniale Bibelkritik disziplinär einzuordnen und einzugrenzen oder sie gar analog zum Methodenrepertoire der historisch-kritischen Exegese systematisch aufzufächern, scheitern an der Ambiguität und Offenheit von dem, was der Begriff „postcolonial“ mit sich tragen kann. Werden mit dem Begriff vor allem Identitäten beschrieben oder bestimmte politische Sensibilitäten, historische Prozesse oder ein Set von Lesestrategien? Diese Offenheit mag als Nachteil erscheinen, führt aber gleichzeitig dazu, dass die „postcolonial studies“ an den Grenzen von dem, was Bibelforschung im 21. Jahrhundert ist und ausmacht, rütteln und sie auch regelmäßig überschreiten.

2. Forschungsgeschichte

2.1. Anfänge

Die Ankunft der „postcolonial studies“ in den Bibelwissenschaften wird oft mit der 75. Ausgabe von Semeia verbunden, einer inzwischen eingestellten experimentell ausgerichteten Zeitschrift der Society of Biblical Literature (SBL). Im Jahr 1996 erschien eine Semeia-Nummer mit dem Titel Postcolonialism and Scriptural Reading, herausgegeben von Laura E. Donaldson. Der Band enthält Artikel von 14 Autor:innen, die damals im engen Austausch miteinander zeigten, in welche Richtungen sich eine postkoloniale Bibelkritik bewegen könnte. Der Aufsatzband verdeutlicht den stark interdisziplinären Impetus der „postcolonial studies“ und bringt die Bibelwissenschaften ins Gespräch u.a. mit den „cultural studies“, „race studies“, mit postkolonialer Literatur, Anthropologie und Filmkritik. Einige Jahre später, 1999, wurde an der Jahreskonferenz der Society of Biblical Literature (SBL) die Sektion „Postcolonial Studies and Biblical Criticism“ gegründet. Diese Sektion bietet bis heute an den jährlichen Konferenzen der SBL eine Plattform für postkoloniale Forschungen zur Bibel.

2.2. R.S. Sugirtharajah

Ein weiterer Meilenstein in der Geschichte der postkolonialen Bibelkritik war die Veröffentlichung eines Sammelbandes mit dem Titel The Postcolonial Bible im Jahr 1998. Der Band gibt Einblick in die kritische Selbstreflexion, aber auch in das Potential dieser Forschungsbewegung. Herausgegeben wurde das Buch von R.S. Sugirtharajah, einer der wichtigsten und einflussreichsten Protagonist:innen der postkolonialen Bibelkritik, unter dessen Autorenschaft heute zahlreiche Bücher vorliegen. Zusammen mit Fernando F. Segovia veröffentlichte Sugirtharajah im Jahr 2007 A Postcolonial Commentary on the New Testament Writings. Dieser Kommentar bietet für jede Schrift des Neuen Testaments einen ausführlichen Artikel und zeigt die große Bandbreite der postkolonial orientierten Zugänge und Problemstellungen, wie sie sich innerhalb weniger Jahre herausgebildet hatten.

2.3. Musa W. Dube

Ebenso einflussreich und wichtig wie das Werk von Sugirtharajah sind die Arbeiten von Musa W. Dube. Im Jahr 2000 veröffentlichte Dube, damals noch Bibelwissenschaftlerin an der University of Botswana, ein Buch mit dem Titel Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible. Das Buch beginnt mit einer grundsätzlichen Kritik an → feministischen Arbeiten zum Neuen Testament der 80er Jahre. In Dubes Augen war die feministische Rekonstruktion der Frauengeschichte im frühen Christentum streckenweise blind gegenüber der Gewaltgeschichte des römischen Imperiums im ersten Jahrhundert und gegenüber der Art und Weise, wie biblische Texte diesen Imperialismus transportiert haben. Beispielsweise sollte die Geschichte der kanaanäischen Frau im Matthäusevangelium (Mt 15,21-28) nicht nur aus „Frauensicht“ kritisch gelesen werden, sondern auch als Text, mit dem die Kolonisierung „fremder Länder“ weitergeschrieben wurde. Das vor allem von Elisabeth Schüssler Fiorenza entwickelte Konzept der Kyriarchie, der Verschränkung von Sexismus und anderen Formen der Unterdrückung, ist in Dubes Augen nur begrenzt in der Lage, die imperialistischen Tendenzen biblischer Texte aufzuspüren. Patriarchat und Imperialismus sind zwei unterschiedlich funktionierende Mechanismen und erfordern je eine eigenständige Analyse. In anderen Worten: Westliche Feministinnen mögen gute Patriarchatskritikerinnen sein und trotzdem wenig sensibel für die Rolle biblischer Texte in der Geschichte des Kolonialismus. Auch von Musa W. Dube liegen inzwischen zahlreiche Publikationen zur postkolonialen Bibelkritik vor, darunter der zusammen mit Jeffrey Statley herausgegebene Sammelband John and Postcolonialism.

2.4. Heutiger Stand

Wer sich heute für postkoloniale Diskussionen in den Bibelwissenschaften interessiert, stößt auf etliche Sammelbände, Monographien und Essays, die alle auf verschiedene Weise interdisziplinär positioniert sind. Der postkoloniale Zugang zu biblischen Texten hat sich mit einer Reihe von aktuellen Diskussionen verschränkt, darunter die „Black Scholars Matter“-Bewegung, ökotheologische Debatten, diaspora studies, gender und queer studies. 2018 erschien The Oxford Handbook of Postcolonial Biblical Criticism, eine Online-Publikation, die momentan immer noch am Wachsen ist.

Im deutschsprachigen Raum werden die postcolonial studies in den Bibelwissenschaften nur zögerlich rezipiert. Der im Jahr 2013 von Andreas Nehring und Simon Tielesch herausgegebene Band Postkoloniale Theologie machte zwar eine Reihe von wegweisenden Artikeln u.a. auch von Sugirtharajah und Dube erstmals in deutscher Sprache zugänglich. Jedoch hat der 2018 erschienene Folgeband mit weiterführenden Beiträgen u.a. in den Bereichen der Kirchengeschichte und Religionstheologie die postkoloniale Diskussion zum Neuen Testament leider kaum weitergeführt. Gleichzeitig hat Jörg Rieger in seinem Aufsatz The Bible in the German Empire gezeigt, dass die Thematik des Postkolonialismus die deutschsprachige bibelwissenschaftliche Diskussion sehr wohl tangiert.

3. Themen und Zugänge

Wer sich durch die erwähnte Literatur arbeitet, trifft auf eine Palette an Zugängen, Methoden, Forschungsgegenständen, Schreibweisen, interdisziplinären Verschränkungen und Zielsetzungen. Trotz der heterogenen Qualität der Forschungen können Schwerpunkte ausgemacht werden. Die postkoloniale Bibelkritik befasst sich beispielsweise eingehend mit den imperialen Kontexten biblischer Texte. Dieses Interesse teilt sie mit der → historisch-kritischen Exegese und den sozialgeschichtlich orientierten „empire studies“. Durch die postkoloniale Theorie wird die neutestamentliche Forschung jedoch für historische Prozesse sensibilisiert, die lange nicht wahrgenommen werden konnten. So hat sich Davina Lopez in ihrem Buch Apostle to the Conquered kritisch mit der in der exegetischen Tradition verbreiteten Rede von den „Heiden“ („Gentiles“) auseinandergesetzt. Übersetzen wir den griechischen Begriff ethnē mit Heiden, überhören wir die politischen Konnotationen dieses Begriffes. Denn aus der Perspektive der römischen Imperialmacht, so Lopez, fallen unter die ethnē alle von Rom kolonisierten Bevölkerungsgruppen einschließlich der Menschen in Judäa. Statt von „Heiden“ spricht Lopez von „Nationen“ („nations“). Mit diesem Perspektivenwechsel verändert sich das Verständnis paulinischer Rhetorik entscheidend, wie Lopez deutlich macht.

Lopez’ Argument gehört zu einer Reihe von postkolonial geprägten Interventionen in die exegetische Praxis. Daneben lassen sich zwei weitere wichtige Forschungsrichtungen innerhalb der postkolonialen Bibelkritik beschreiben.

3.1. Kolonialismus und die Bibelwissenschaften

3.1.1. Orientalismus-Kritik

Ausgehend von Edward Saids Orientalismus-Kritik haben sich Forschende mit der Frage befasst, wie die neutestamentliche Wissenschaft Wissen über den Orient mitproduzierte, das dann in die Kolonisierung und Unterwerfung bestimmter Bevölkerungen mit einfloss. Ein früher Beitrag ist Sugirtharajahs Kritik an den orientalistischen Stereotypen in Joachim Jeremias’ einflussreicher Gleichnisauslegung (Sugirtharajah 1996). Bis heute lesenswert ist auch Miriam Peskowitz’ Artikel Tropes of Travel, der die Rolle der Bibelwissenschaften in der Konstruktion von Bibelthemenparks an Orten wie Ohio oder Arkansas diskutiert. Diese Themenparks geben Besucher:innen das Gefühl, als ob sie sich direkt zurückversetzen könnten in das „Heilige Land“ der Bibel. Peskowitz wirft die Frage auf, inwieweit das Wissen über biblische Landschaften und die Entwicklung bibelwissenschaftlicher Kartographie in die Geschichte des Kolonialismus eingebunden war. Die Autorin schärft gleichzeitig den kritischen Blick für die Landkarten, die wir in unseren modernen Bibelausgaben wiederfinden.

3.1.2. Bibelwissenschaften und Sklavenhandel

Postkoloniale Bibelkritik beschäftigt sich mit der Tatsache, dass derselbe Bibeltext in der Geschichte des Kolonialismus gegensätzliche Wirkungen entfalten konnte, je nachdem wer diesen Text zu welchen Zwecken las. Neutestamentliche Texte haben die Sklaverei sowohl legitimiert als auch hinterfragt. Aus der Fülle an neueren Forschungen zur verstörenden Wechselwirkung zwischen neutestamentlichen Texten und der Geschichte des Sklavenhandels sei hier die bereits 1993 veröffentlichte Arbeit von David Nii Anum Kpobi genannt. Kpobi erzählt die Geschichte des Missionars und Neutestamentlers Jacobus Capitein, der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Kind von Ghana in die Niederlande gebracht und dort theologisch ausgebildet wurde. Zu dieser Zeit hatten sich etliche Repräsentanten der reformierten Kirche für die Beibehaltung des transatlantischen Sklavenhandels ausgesprochen mit dem Argument, die Sklaverei sei durchaus mit dem Christentum vereinbar. Der Afrikaner Jacobus Capitein gehörte ironischerweise zu den Wortführern, die den Sklavenhandel verteidigten – ironischerweise deswegen, weil er selbst als Kind in die Mühlen des Sklavenhandels geraten war. Seine Doktorarbeit befasste sich mit paulinischen Aussagen zur Sklaverei (z.B. 1Kor 7,21ff.) und war ein Plädoyer für den Fortbestand des Sklavenhandels. Ein Christenmensch könne Sklave sein und trotzdem frei, denn Freiheit – biblisch gesehen – habe ausschließlich spirituelle Bedeutung. Die Doktorarbeit wurde kurz nach ihrer Fertigstellung aus dem Lateinischen übersetzt und vervielfältigt. Heute muss man sich fragen, ob Jacobus Capitein gezwungen war, das zu schreiben, was seine Wohltäter hören wollten.

3.2. Postkoloniale Lesestrategien

Ein zentraler Beitrag der „postcolonial studies“ liegt in der Einsicht, dass koloniale Gewalt immer auch Widerstand auf Seiten der kolonisierten Bevölkerung hervorgerufen hat. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn uns die Quellen weismachen wollen, dass koloniale Herrschaftssysteme passiv erduldet oder sogar begrüßt worden seien. Denn in Situationen, in denen offener Protest gegen eine allgegenwärtige, mächtige Kolonialherrschaft nicht möglich ist, können Texte nicht eindeutig als entweder widerständig oder unterwürfig kategorisiert werden. Stattdessen gilt es, die oft höchst ambivalenten sprachlichen Signale zu erkennen, mit denen sich ein Text gegenüber der Kolonialmacht verhält. Dies hat direkte Implikationen auch für den Umgang mit biblischen Texten. Selbst diejenigen Texte, die die imperialen Verhältnisse des römischen Reiches auf den ersten Blick festzuschreiben scheinen, erweisen sich aus postkolonialer Sicht als mehrdeutig. Aus dieser Einsicht sind inzwischen zahlreiche Artikel und Monografien erschienen, die diese Problematik in konkreten Texten des → neutestamentlichen Kanons aufspüren.

Hilfreich für etliche Autor:innen ist der von Homi K. Bhabha entwickelte analytische Begriff der Mimikry. Mimikry bezeichnet die Nachahmung imperialer Gesten, Botschaften oder Appelle, die aber gleichzeitig Spuren von Spott oder Parodie enthalten können.

Ein eindrückliches Beispiel einer von Bhabha geschulten Bibellektüre ist die Arbeit von Stephen D. Moore zur → Johannesoffenbarung. Moore interessiert sich für die zum Teil ins Groteske gesteigerte imperiale Bildwelt dieses biblischen Textes, mit der der Sieg der Gottesherrschaft erzählt wird. Rom – getarnt als Hure Babylon – ist einerseits die Macht, die es zu vernichten gilt. Andererseits fungiert Rom mit seinen Gewaltstrategien als Vorbild, nach dem sich auch der Siegeszug des Christus orientiert. Kriege, Unterwerfung und Eroberung sind nämlich genau die Mittel, mit denen sich nach Moore das messianische Reich seine Macht erkämpft. Gleichzeitig wird die Gewalt dermaßen übersteigert, dass sie sich stellenweise ad absurdum führt. In der gewalterfüllten Welt der Offenbarung entdeckt Moore eine typische Verschränkung zwischen Abstoßung und Anziehung. Es ist aus seiner Sicht nicht möglich, den Text in die binären Kategorien von Widerstand oder Anpassung, Protest oder Unterwerfung einzuordnen. Rom wird verurteilt und gleichzeitig wird Rom imitiert. Dabei verwischen sich die Grenzen der beiden Imperien und es ist stellenweise unmöglich zu bestimmen, wo die Herrschaft Roms endet und die Gottesherrschaft beginnt. Moore endet seine Analyse mit einem nachdenklichen Blick auf die Tatsache, dass Rom und das Christentum unter Konstantin tatsächlich eins wurden.

Ähnliche Lesarten existieren inzwischen für einen Großteil der neutestamentlichen Texte. In all diesen Beiträgen werden die Momente aufgespürt und analysiert, in denen die Weltsicht und die Werte des Imperiums einerseits unterstützt werden, um sie andererseits gleichzeitig zu verwerfen.

4. Debatten und Ausblick

In ihrer jungen Geschichte hat die postkoloniale Bibelkritik bereits einige heftige Debatten ausgelöst. Kritisiert wurde beispielsweise, dass die postkoloniale Theorie ein universelles Metanarrativ mit sich transportiere, das an den unterschiedlichsten Orten zu den unterschiedlichsten Zeiten Geltung beanspruche. Hinzu kommt die Sorge, dass die „postcolonial studies“ als relativ elitärer akademischer Diskurs ihre ursprüngliche politische Schlagkraft verlieren könnten.

Eine weitere Problematik liegt aus der Sicht mancher Kritiker:innen in der teilweise fehlenden Anwaltschaft für die Bibel. Viele der erwähnten postkolonial geprägten Beiträge nehmen eine konsequent kritische Haltung gegenüber der biblischen Tradition ein, die sie von vielen anderen kontextuellen oder befreiungstheologischen Lesarten unterscheidet. Autor:innen wie Stephen D. Moore lassen die große Ambivalenz der Bibeltexte stehen und versuchen nicht, in ihnen eine letztlich befreiende Botschaft zu finden. In ihrer langen Geschichte haben die Texte kolonisierten Menschen geschadet wie geholfen. „Was die postkoloniale Bibelkritik versucht, ist diese Ambivalenz sichtbar und klar zu machen und zu zeigen, dass die Bibel eher ein Teil des Rätsels ist als ein Patentrezept für all die Krankheiten der postmodernen Welt“ (Sugirtharajah 2013, 66). Darüber hinaus gibt es auch Lesarten, die sich unumwunden gegen bestimmte biblische Texte stellen und diese verurteilen, weil der Schaden aus ihrer Sicht wirkungsgeschichtlich zu groß war. Ein Beispiel ist die Arbeit der US-amerikanischen Neutestamentlerin Mitzi J. Smith, die das Gleichnis der zehn Jungfrauen (Mt 25,1-13) vor dem Hintergrund der „Black Lives Matter“-Bewegung kritisch liest.

Schließlich wird manchmal beanstandet, dass sich die „postcolonial studies“ in den Bibelwissenschaften zu wenig systematisieren lassen. Aus meiner Sicht jedoch ist die Geschichte des Kolonialismus zu wirkmächtig und die Implikationen für die Bibelwissenschaften sind zu dringlich, als dass man diesen Forschungstrend getrost ignorieren könnte. Dies gilt gerade auch für die deutschsprachigen Bibelwissenschaften. Es bleibt zu wünschen, dass die zukünftige Forschung zum Neuen Testament im deutschsprachigen Raum Impulse der „postcolonial studies“ aufnimmt und würdigt.

Siehe auch

Literaturverzeichnis

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  • Sugirtharajah, Rasiah S., The Oxford Handbook of Postcolonial Biblical Criticism, Oxford 2018
  • Sugirtharajah, Rasiah S. / Segovia, Fernando F. (Hgg.), A Postcolonial Commentary on the New Testament Writings, London 2007
  • Vengeyi, Obvious, Aluta Continua: Biblical Hermeneutics for Liberation: Interpreting Biblical Texts on Slavery for Liberation of Zimbabwean Underclasses, Bamberg 2013

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