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Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob

(1761-1851)

(erstellt: September 2012)

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1. Leben

Heinrich Eberhard Gottlob Paulus wurde am 1.9.1761 in Leonberg (heute Kreis Böblingen, Baden-Württemberg) als zweites von sechs Kindern des Diakons Gottlob Christoph Paulus (1727-1790) und der Maria Christina Köstlin (1738-1767) geboren. Sein Vater war ein gelehrter Mann (er schrieb 1766 „Der würtembergische Solon“), der jedoch 1771 wegen Geisterseherei („ob absurdas phantasmagoricas visiones divinas“) sein Amt verlor. Nach dem Besuch der Klosterschulen von Blaubeuren und Bebenhausen wurde er 1779 in das Tübinger Stift aufgenommen, wo er 1784 das Theologiestudium abschloss. Nach einer Tätigkeit an der Lateinschule in Schorndorf unternahm er 1787-1788 eine Studienreise durch Deutschland, Holland, England und Frankreich. Als er gerade eine Repetentenstellung am Tübinger Stift angetreten hatte, wurde er 1789 als Professor für orientalische Sprachen nach Jena berufen. 1793 wechselte er in die theologische Fakultät. 1803 gewann man ihn für die Universität Würzburg, die jedoch 1806 dem Königreich Bayern verlorenging. Nachdem eine Berufung nach Altdorf gescheitert war, übernahm er Aufgaben in der bayerischen Schul- und Kirchenverwaltung, zuerst in Bamberg (1807), dann in Nürnberg (1808) und schließlich in Ansbach (1810). Im Jahre 1811 wurde er als Professor für Kirchengeschichte und Exegese nach Heidelberg berufen, wo er bis 1832 las und 1844 pensioniert wurde. Paulus starb mit fast 90 Jahren am 10.8.1851 in Heidelberg.

Verheiratet war Paulus mit seiner Cousine Elisabeth Friederike Caroline Paulus (1767-1844), die unter dem Pseudonym Eleutherie Holberg auch als Schriftstellerin tätig war. Sie hatten zwei Kinder, den als Jüngling verstorbenen Sohn Wilhelm (1802-1819) und die Tochter Sophie Caroline (1791-1856), die sich 1818 kurz nach ihrer Hochzeit mit dem Literaturwissenschaftler August Wilhelm Schlegel (1767-1845) von diesem wieder trennte.

Von seinen Tübinger Lehrern beeinflussten ihn am meisten Christian Friedrich Schnurrer (Orientalist und Alttestamentler, 1742-1822), Gottlob Christian Storr (Dogmatiker, 1746-1805) und Christian Friedrich Rösler (Historiker und Kirchengeschichtler, 1736-1821). Unter seinen Schülern in Jena befand sich der Alttestamentler → Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780-1849).

2. Paulus als Rationalist

Paulus gilt als der Hauptvertreter des theologischen Rationalismus am Ende des 18. Jh.s. Viele seiner Zeitgenossen sahen in ihm einen bedeutenden Theologen, später wurde er z.T. aber auch sehr abschätzig beurteilt (vgl. RE 2. und 3. Auflage). Er wollte in der Religion nur das als wahr anerkennen, was sich vor dem Verstand rechtfertigen ließ. Diese Einstellung nannte er „Denkglaubigkeit“. Die synoptischen Evangelien enthielten für ihn a priori die wahren und von Augenzeugen überlieferten Nachrichten über Jesus. Wo diese dem Verstand widersprachen, mussten sie entsprechend umgedeutet werden: „Der Geschichtsforscher kann keine Begebenheit glaublich finden, die nicht nach den Gesetzen des historischen Zusammenhangs der Dinge aus innern und äußern Ursachen erklärbar ist.“ (Commentar über die drey ersten Evangelien, 2. Aufl., 1804, I,33).

3. Wundererklärung

Mit seiner rationalistischen Wundererklärung beeinflusste Paulus die Forschung nachhaltig (vgl. Strecker 1996, 246f.; Theißen / Merz 1996, 260; Kollmann 2007, 14f.). Er steht dabei in einer ganzen Reihe von Zeitgenossen (Carl Friedrich Bahrdt [1741-1792]; Karl Heinrich Georg Venturini [1768-1849]; Johann David Michaelis [1717-1791]), wobei er durch seine umfassende und seriöse Bearbeitung der neutestamentlichen Texte hervorragt (vgl. die Kommentare zu den Synoptikern und zur ersten Hälfte des Johannesevangeliums 1800-1804). Die Sturmstillung (Mt 8,23-27 parr) deutet er als ein plötzliches Innehalten des Sturmes. Der Jüngling von Naïn (Lk 7,11-17) war scheintot, während die Tochter des Jairus (Mt 9,18-26 parr) noch gar nicht gestorben war. Bei der Brotvermehrung (Mt 14,13-21 parr) bringt Jesus die Reicheren dazu, ihre mitgebrachten Vorräte mit den Ärmeren zu teilen. Der Seewandel (Mt 14,22-33 parr) lässt sich philologisch als Gehen Jesu „am“ Meer verstehen. Beim Weinwunder (Joh 2,1-12) hat Jesus selbst unbemerkt den Wein mitgebracht. Durch die Kreuzigung ist die Lebenskraft Jesu noch nicht völlig erloschen, so dass er in der Grabhöhle auf wunderbare Weise wieder zu Kräften kommen und seinen Jüngern als „Auferstandener“ erscheinen kann (Mt 27,32-28,10 parr; Joh 19,17-20,29). Insbesondere David Friedrich → Strauß (1808-1874) widersprach in seinem „Leben Jesu“ (2 Bde., 1835-1836) der rationalistischen Wundererklärung des Paulus. Heute ist sie eine forschungsgeschichtliche Episode.

4. Messianität Jesu

Die Wunder sind nach Paulus für das Verständnis Jesu nicht entscheidend. „Das Wunderbare von Jesus ist Er selbst.“ (Das Leben Jesu, als Grundlage einer reinen Geschichte des Urchristentums, 1828, I,1, xi). Paulus deutet Jesus auf dem Hintergrund der jüdischen Messiasvorstellungen als geistigen Messias bzw. als „Lehrregenten“. Er steht somit in einer ganz besonderen Beziehung zur Gottheit. Indem er seine Überzeugung bis zum Leiden und Tod durchhält, gibt er ein Vorbild für die Urchristen und für Christen der Gegenwart. Das gewaltlose Reich der Gottheit wird in der christlichen Gemeinschaft durch die Zunahme von Moral und Sittlichkeit verwirklicht (vgl. Graf 1990, 140f.). Das von Paulus vorausgesetzte Menschenbild ist von Grund auf optimistisch.

5. Paulinische Theologie

Die paulinischen Begriffe δικαιοσύνη dikaiosynē (traditionell: „Gerechtigkeit“) und πίστις pistis (traditionell: „Glaube“) werden von H.E.G. Paulus neu gefüllt: Er spricht von „Geistesrechtschaffenheit“ bzw. „Überzeugungstreue“. Beide sind durch ein menschliches Denken und Wollen gekennzeichnet, das sich als Selbstverpflichtung und Entschlossenheit zu einem rechten und guten Handeln beschreiben lässt. Vorbilder dafür sind im Alten Testament Abraham und im Neuen Testament in überragender Weise Jesus. Christlicher Glaube zielt ganz auf Praxis hin. Aus dieser Überzeugung heraus hat H.E.G. Paulus sich zu den unterschiedlichsten politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Themen zu Wort gemeldet. Als eines seiner letzten Worte vor seinem Tod wird überliefert: „Ich stehe rechtschaffen vor Gott durch das Wollen des Rechten.“ (von Reichlin-Meldegg 1853, II, 456).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Gotha 1854-1866
  • Allgemeine Deutsche Biographie, Leipzig 1875-1912
  • Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 2. Aufl., Leipzig 1877-1888
  • Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. Aufl., Leipzig 1896-1913
  • Neue Deutsche Biographie, Berlin 1953ff.
  • Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Tübingen 1957-1965
  • Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
  • Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
  • Metzlers Lexikon christlicher Denker, Stuttgart / Weimar 2000
  • Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Hamm 1975ff (im Internet: http://www.bautz.de/bbkl/)

2. Werke in Auswahl

[vgl. die Bibliographie bei Burchard 1985, 268-277]

  • Philologisch-kritischer und historischer Commentar über die drey ersten Evangelien, 3 Teile, Lübeck (J.F. Bohn) 1800.1801.1802; 2. Aufl. Lübeck (J.F. Bohn) 1804.1805.1805; 3. Aufl. Leipzig (J.A. Barth) 1812
  • Philologisch-kritischer Commentar über das Evangelium des Johannes. Erste Hälfte: Die erste Hälfte von dem Evangelium des Johannes enthaltend, Lübeck (J.F. Bohn) 1804
  • Das Leben Jesu, als Grundlage einer reinen Geschichte des Urchristentums. Dargestellt durch eine allgemeinverständliche Geschichterzählung über alle Abschnitte der vier Evangelien und eine wortgetreue, durch Zwischensätze erklärte Übersetzung des nach der Zeitfolge und synoptisch-geordneten Textes derselben, 2 Teile in 4 Bänden, Heidelberg (C.F. Winter) 1828
  • Exegetisches Handbuch über die drei ersten Evangelien, 3 Teile in 5 Bänden, Heidelberg (C.F. Winter) 1830.1831.1831.1832.1833 (2. Aufl. 1841-1842)
  • Skizzen aus meiner Bildungs- und Lebens-Geschichte zum Andenken an mein 50 jähriges Jubiläum, Heidelberg Leipzig (K. Groos) 1839

3. Sekundärliteratur

  • Beutel, A., Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung (UTB 3180), Göttingen 2009
  • Burchard, Ch., H.E.G. Paulus in Heidelberg. 1811-1851, in: W. Doerr (Hg.), Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386-1986, Bd. 2, Das neunzehnte Jahrhundert 1803-1918, Berlin u.a. 1985, 222-297
  • Graf, F.W., Frühliberaler Rationalismus. Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761-1851), in: Ders. (Hg.), Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Bd. 1, Aufklärung, Idealismus, Vormärz (GTB 1430), Gütersloh 1990, 128-155
  • Heussi, K., Geschichte der Theologischen Fakultät zu Jena, Weimar 1954
  • Hirsch, E., Geschichte der neuern evangelischen Theologie, 4. Aufl., Bd. 5, Gütersloh 1968
  • Keller, R.A., Geschichte der Universität Heidelberg im ersten Jahrzehnt nach der Reorganisation durch Karl Friedrich (1803-1813), Heidelberg 1913
  • Kollmann, B., Neutestamentliche Wundergeschichten. Biblisch-theologische Zugänge und Impulse für die Praxis (Urban-TB 477), 2. Aufl., Stuttgart u.a. 2007
  • Kümmel, W.G., Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme (Orbis Academicus III,3), 2. Aufl., Freiburg i.Br. / München 1970
  • Leder, K., Universität Altdorf. Zur Geschichte der Aufklärung in Franken. Die theologische Fakultät in Altdorf 1750-1809 (Schriftenreihe der Altnürnberger Landschaft 14), Nürnberg 1965
  • Ohst, M., Denkglaube – zum Religionsbegriff der späten Aufklärung (H.E.G. Paulus), in: U. Barth / W. Gräb (Hgg.), Gott im Selbstbewußtsein der Moderne. Zum neuzeitlichen Begriff der Religion, Gütersloh 1993, 35-49
  • Reichlin-Meldegg, K.A. von, Heinrich Eberhard Gottlob Paulus und seine Zeit, nach dessen literarischem Nachlasse, bisher ungedrucktem Briefwechsel und mündlichen Mittheilungen dargestellt, 2 Bde., Stuttgart 1853
  • Reventlow, H. Graf, Epochen der Bibelauslegung, Bd. 4, Von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, München 2001
  • Schweitzer, A., Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Bd.1 (GTB 77), 3. (Taschenbuch-)Aufl., Gütersloh 1977 (= 2. Aufl. 1913)
  • Strecker, G., Theologie des Neuen Testaments. Bearb., ergänzt und hrsg. von F.W. Horn (de Gruyter Lehrbuch), Berlin / New York 1996
  • Theißen, G. / Merz, A., Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996
  • Wagner, F., Auf dem Weg in eine säkulare Welt. Theologie im Zeichen spekulativer Rechtfertigung, in: F. Strack (Hg.), Heidelberg im säkularen Umbruch. Traditionsbewußtsein und Kulturpolitik um 1800, Stuttgart 1987, 466-497

Abbildungsverzeichnis

  • Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (Kupferstich von Johann Heinrich Lips, 1795).

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