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Parschanut

(erstellt: Mai 2009)

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Das judaistische Teil-Fach Bibel und Jüdische Bibelauslegung beschäftigt sich mit Text, Überlieferung, exegetischer Rezeption und moderner Deutung der Hebräischen Bibel von der Antike bis in die Neuzeit. Dabei umfasst allein das Forschungsgebiet für die biblische Geschichte und Literatur, d.h. für die Epoche zwischen ca. 1200 und 100 v.u.Z., einen historischen Rahmen von mehr als 1000 Jahren. Nimmt man (ohne die rabbinische Traditionsliteratur im engeren Sinn) noch die Quellen zur jüdischen Bibelauslegung in Mittelalter und Neuzeit hinzu, so umfasst dieses Fach idealtypisch mehr als 2500 Jahre, die in literarspezifischen Detailfragen ebenso wie in zunehmend fächerübergreifenden Fragestellungen und Forschungsansätzen überblickt sein wollen. Als Teilfach der Judaistik / Jüdische Studien versteht sich Parschanut als philologische Disziplin, die je nach Bearbeitungsgebiet auch die Methoden von der altorientalischen Literaturgeschichte bis hin zur philologischen Mediävistik oder moderner Literaturwissenschaft integriert.

Die Arbeit im Fach Bibel und Jüdische Bibelauslegung vollzieht sich auf zwei deutlich zu unterscheidenden und dennoch ineinandergreifenden Ebenen: Auf der ersten Ebene steht die eigentliche Arbeit am biblischen Text selbst. Der Anspruch der modernen wissenschaftlichen Bibelforschung und Bibelkritik liegt dabei in der Erfassung und Deutung des ursprünglichen Sinnes eines Textes, seiner Entstehungssituation und Entstehungsgeschichte, der Erarbeitung seiner soziohistorischen Prägung und seiner spezifischen sprachlichen Gestaltung. In diesem Rahmen arbeitet die moderne jüdische Bibel-Exegese mit den Methoden der klassischen historisch-literarischen Kritik, die sich in den akademischen Lehranstalten auf christlicher und jüdischer Seite weitgehend, wenngleich auch jeweils unterschiedlich akzentuiert, durchgesetzt hat (→ Bibelauslegung, historisch-kritische).

Auf einer zweiten Ebene steht die Beschäftigung mit der jüdischen Rezeption der hebräischen Bibel und damit einerseits mit der Geschichte der jüdischen Bibelauslegung und andererseits mit der hermeneutischen Frage der Relation zwischen (moderner) jüdischer Deutung eines Textes und literar-historischer, kritischer Erforschung der hebräischen Bibel. Da die rabbinische Epoche üblicherweise im Teil-Fach Talmud und Midrasch bearbeitet wird, gehört sie nicht zum engeren Bereich der Parschanut, wenngleich natürlich gerade die Midraschim (→ Midrasch) einen gewichtigen Teil der jüdischen Bibelauslegung darstellen. Bei der Parschanut liegen die Schwerpunkte im Bereich der Erarbeitung der Quellen zur jüdischen Bibelauslegung auf dem für die jüdische Exegese entscheidenden Zeitraum von der ersten Hälfte des 10. bis zur 2. Hälfte des 13. Jh.s, in der Renaissancezeit sowie auf dem 18.-20. Jh. Die erstgenannte Periode wird beherrscht von Persönlichkeiten wie → R. Saadja Gaon, den Repräsentanten der nordfranzösischen jüdischen Bibelauslegung (→ Peschat-Auslegung), → R. Schelomo Jizchaqi (→ Raschi), R. Schemu’el ben Meïr (Raschbam), der provenzalisch-spanischen Exegese, → R. Abraham Ibn Esra, den Mitgliedern der Familie → Qimchi und → R. Mosche ben Nachman (Ramban = Nachmanides). Alle diese Exegeten betrieben nicht nur das Studium und die Auslegung der Bibel als eine eigene Disziplin, die eine entsprechende Literaturgattung nach sich zog, die jüdische Bibel-Kommentarliteratur; vielmehr taten sie dies auch vor einem bei den einzelnen je unterschiedlichen, aber stets explizit formulierten hermeneutischen Hintergrund und exegetischen Anspruch (Herausforderung durch die Qaräer; die sog. Peschat-Exegese usw.). Das 19. Jh. markiert demgegenüber die Umbruchzeit von der traditionellen jüdischen Bibelauslegung zur historisch-kritischen Erforschung der Bibel. Die diese Zeit prägenden Auseinandersetzungen um das Verständnis der Hebräischen Bibel können hermeneutisch nicht hoch genug veranschlagt werden und prägen die jüdische Bibelauslegung bis heute. Hier sind es vor allem Abraham Geiger, Samson Raphael Hirsch, David Hoffmann und Benno Jacob, die in intensiver innerjüdischer Auseinandersetzung wie auch in der Auseinandersetzung mit der protestantischen Bibelwissenschaft standen.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971-1996

2. Weitere Literatur

  • Kamin, S., 1991, Jews and Christians Interpret the Bible, Jerusalem (hebr./engl.)
  • Liss, H., 2. Aufl. 2008, Tanach. Lehrbuch der jüdischen Bibel (Schriften der Hochschule für Jüdische Studien 8), Heidelberg
  • Liss, H., 2002, From Mar Samuel to David Hoffmann (1844-1921): Biographical Mirrorings of an Orthodox Life, EAJS-Newsletter Issue 12, 19-23
  • Liss, H., 2003, „Schrift ohne Tradition?“ – Einige Aspekte zum Verständnis der Bibel im jüdischen Italien des 15. und 16. Jahrhunderts, in: G. Veltri / A. Winkelmann (Hgg.), An der Schwelle zur Moderne. Juden in der Renaissance, Leiden / Boston, 51-77.
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  • Liss, H., 2004, Der biblische Gottesname in der religionsgeschichtlichen Debatte. Jüdische Exegese zwischen den Fronten am Beispiel Benno Jacobs, Trumah 13, 69-102
  • Liss, H. / Krochmalnik, D. u.a. (Hgg.), 2007, Raschi und sein Erbe. Internationale Tagung der Hochschule für Jüdische Studien mit der Stadt Worms (Schriften der Hochschule für Jüdische Studien 10), Heidelberg
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  • Smalley, B., 1952, The Study of the Bible in the Middle Ages, Oxford

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