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(erstellt: Januar 2012)

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1. Textüberlieferung

In griechischen Psalter-Handschriften sind seit dem 5. Jh. n. Chr. den Psalmen die Oden ohne einen eigenen Buchtitel angehängt; so in folgenden Codices: A (Codex Alexandrinus; 5. Jh.), R (zweisprachiger griechischer und lateinischer Psalter; der griechische Text wird in lateinischer Umschrift geboten; 6. Jh.), T (7. Jh.; enthält nur Od 3*; 7*; 10-13; 14*), Minuskel 55 (10. Jh.) und in den meisten späteren Handschriften, in denen der Psalter für sich allein steht oder mit dem Neuen Testament verbunden ist. Die bedeutenden Vollbibel-Handschriften aus dem 4. Jh., B (Codex Vaticanus) und S (Codex Sinaiticus), enthalten diesen Anhang jedoch noch nicht. An die syrischen und koptischen Psalter-Handschriften sind die Oden nicht angefügt, wohl aber ist eine koptische Handschrift bereits aus dem 6. Jh. erhalten, die nur die Oden enthält. In der ältesten vollständigen lateinischen Handschrift des Psalterium Gallicanum, der Psalmen-Übersetzung des Hieronymus (um 400), aus dem 8. Jh. (codex Reginensis Bibliothecae Vaticanae 11), sind die Oden in der Reihenfolge 8. 1. 2. 3. 5. 7. 9* (nur das Magnificat) und außerdem weitere biblische Gesänge wie Klgl 5, Jdt 16 und noch 21 Kirchenlieder hinzugefügt.

Im Codex A sind die Oden von einem anderen Schreiber als dem der alttestamentlichen Bücher, aus denen die Oden übernommen wurden, geschrieben. Dies zeigt sich nicht nur in seinem Schriftzug, sondern auch darin, dass er an einigen Stellen andere Lesarten und eine andere Versfolge bietet als der Schreiber I von A an den betreffenden Stellen im Alten und Neuen Testament.

2. Inhalt

Die Oden sind eine Zusammenstellung von Liedern (Cantica), die aus den bereits ins Griechische übersetzten Büchern des Alten Testaments (Oden 1-8. 10-11) und aus dem Neuen Testament (Oden 9 und 13: aus Lk 1-2) übernommen wurden, mit zwei Ausnahmen: a) Das aus jüdischer Gebetstradition formulierte → Gebet des Manasse (Ode 12) könnte in Verbindung mit der Übersetzung der → Chronikbücher ins Griechische oder im Anschluss daran entstanden sein, ist aber nur in christlichen Handschriften überliefert. b) Das den Engelgesang nach Lk 2,14 aufnehmende Gloria in excelsis Deo („Herrlichkeit in den Höhen [ist bei] Gott“, Ode 14) ist eines der ältesten frühchristlichen Lieder, das von der durchgreifenden Verbannung nichtbiblischer Cantica aus der kirchlichen Liturgie im 3.-4. Jh. ausgenommen blieb. Während dieses Lob-, Dank- und Bittgebet in den Liturgien des Orients als Morgenhymnus im Stundengebet verblieb, wanderte es im kirchlichen Westen aus dem Stundengebet (Überschrift im Antiphonar von Bangor [690]: ad Vesperum et ad Matutinam) seit dem 6. Jh. in die Weihnachtsmesse, die Osternachtfeier und schließlich als Gemeindegesang in festliche Messfeiern.

In seiner Edition folgt Alfred Rahlfs der Handschrift A in der Einteilung der Kola (Minuskel 55 schreibt den Text fließend), übernimmt jedoch die Reihenfolge von Minuskel 55: Dort ist das außerbiblische Gebet des Manasse von seinem Platz Nr. 8 in A (ältere Vierzehn-Oden-Reihe) auf einen Platz außerhalb der ab dem 6. Jh. für das Morgengebet zusammengestellten Neun-Oden-Reihe versetzt. Rahlfs fügt entsprechend der Handschrift R das Lied Jes 5,1-9 als Ode 10 ein, die in den Handschriften A, T und Minuskel 55 nicht enthalten ist. Rahlfs hat die Oden folgendermaßen gruppiert:

  • Ode 1: Lied des Mose beim Auszug (= Ex 15,1-19);
  • Ode 2: Lied des Mose im Deuteronomion (= Dtn 32,1-43);
  • Ode 3: Gebet der Anna, der Mutter Samuels (= 1Sam 2,1-10);
  • Ode 4: Gebet des Ambakum [griechisch für Habakuk] (= Hab 3,2-19);
  • Ode 5: Lied des Propheten Esaias [griechisch für Jesaja] (= Jes 26,9-20);
  • Ode 6: Gebet des Jona (= Jon 2,3-10);
  • Ode 7: Gebet des Azaria (= ThDan 3,26-45);
  • Ode 8: Hymnus der drei Jungen (= ThDan 3,52-88);
  • Ode 9: Gebet der Gottesgebärerin Maria (Magnificat = Lk 1,46-55). Gebet des Zacharias (Benedictus = Lk 1,68-79);
  • Ode 10: Das Weinberglied (= Jes 5,1-9);
  • Ode 11: Gebet des Ezekias [griechisch für Hiskia] (= Jes 38,10-20);
  • Ode 12: Gebet des Manasse;
  • Ode 13: Gebet des Simeon (Nunc dimittis = Lk 2,29-32);
  • Ode 14: Gloria in excelsis Deo.

3. Entstehung und Verwendung der Sammlung

Die Oden wurden wie die Psalmen regelmäßig in der Stundenliturgie verwendet und sind auch heute noch im Gebrauch. Den Kernbestand dieser für die liturgische Praxis erstellten Sammlung dürften die biblischen Gesänge im Anschluss an die zahlreichen Lesungen der Osternacht gebildet haben. Ihre unterschiedliche Anzahl und Reihenfolge zu verschiedenen Zeiten und innerhalb verschiedener Liturgiebereiche (Alexandria, Antiochien, Jerusalem, Konstantinopel, Rom; griechisch, koptisch, äthiopisch, armenisch, georgisch, lateinisch u.a.) ist wohl durch die Verwendungsweise in der Stundenliturgie zu erklären. Im Kodex A wird die Sammlung wie ein selbstständiges, biblisches Buch durch ein großes zweifarbiges Kolophon „14 Oden“ abgeschlossen, ab dem 6. Jh. setzte sich jedoch, wohl im Anschluss an die Jerusalemer Psalmodie, die Neun-Oden-Reihe für das Stundengebet am Morgen durch.

Eine sorgfältige und umfassende Geschichte der Zusammenstellung und Überlieferung der Oden, ihrer Bedeutung und ihrer Verwendung in den Liturgien der Kirchen des Ostens und des Westens von den ältesten christlichen Zeugnissen bis zum Mittelalter findet sich bei H. Schneider (1949).

Literaturverzeichnis

1. Textausgabe und deutsche Übersetzung

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  • Lattke, M. / Engel H., Odai. Das Buch der Oden, in: Septuaginta Deutsch, hg. von W. Kraus / M. Karrer, Stuttgart 2. Aufl. 2010, 899-914

2. Sekundärliteratur

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